«Wahnsinnig viel Gratis-Bügu»

Viel Arbeit, kaum Umsatz: Solidarische Beizen in Bern leisten zu einem guten Teil auch soziale Arbeit. Das geht auf Kosten ihrer Gastro-Einnahmen.

Brasserie Lorraine fotografiert am Montag, 5. Februar 2024 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
In Beizen mit Soli-Menüs und Café-Surprise sind Menschen in prekären Lebenslagen willkommen. (Bild: Simon Boschi (Archiv))

Es ist viel los für einen Dienstagnachmittag im Café Kairo in der Lorraine: Chefin Kathrin Pauli – von allen Trine genannt – springt zwischen Küche, Bar und Gästeraum hin und her: Ein Gast will zehn Franken in Einfränkler tauschen, eine Gästin sucht ihre liegengelassenen Lederhandschuhe und die dritte Gästin möchte ihr Herrgöttli bezahlen. Pauli kneift die Augen zusammen, sagt ihr den Betrag und verschwindet rufend, dass sie gleich einkassiere, mit einer Kiste Altglas im Keller. 

Etwas später lässt sich Pauli endlich an einen Tisch plumpsen und erzählt «wild und wütend drauf los», wie sie es nennt. 

Sie und ihr Team vom Café Kairo machen täglich den Spagat zwischen kommerziellem Gastgewerbe und dem Anspruch, ein solidarischer Ort für Menschen zu sein, die sonst keinen Platz in der Gesellschaft haben. 

Einfach ist das nicht. Und es nerve ab und zu, findet Pauli. Einige dieser Menschen kommen teilweise mehrmals täglich in die Beiz und schnorren beim Service-Personal sowie bei den Gäst*innen Kaffee oder Geld. 

«Wir müssen mit einem Auge immer diese Menschen beobachten und schauen, dass sie den anderen nicht auf den Sack gehen und sie in Ruhe essen können», sagt Pauli. 

Sozialer Austausch oder Ohr abkauen

Es kommen immer wieder die gleichen hilfesuchenden Menschen ins Kairo. Einige sind ab und zu in der «Psychi». Das erzählen sie, wenn sie zurück in der Beiz sind, «und wir merken es, wenn sie einige Wochen nicht auftauchen», sagt Pauli. Die Beiz sei für einige auch Heimat. Hier erzählen die Menschen Pauli und ihren Angestellten, wie es ihnen geht, was bei ihnen ansteht, womit sie im Moment ringen. 

Das ist nichts Neues: Beizen waren schon immer ein Ort für sozialen Austausch. Wo man sich trifft oder spontan austauscht. 

Reitschule temporaer geschlossen fotografiert am Samstag, 11. Januar 2025 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Der Vorplatz sei kein Ort für vulnerable Jugendliche – die Reitschule schickt deshalb auch mal junge Menschen weg. (Bild: Simon Boschi (Archiv))

Wenn einem aber das «Ohr abgekaut» werde, sei das sowohl für Angestellte wie für Gäst*innen anstrengend, findet Pauli. Sei jemand zum dritten, vierten Mal an diesem Tag hier, komme schon vor, dass Pauli die Person fortschickt.

Auch die WC-Situation ist im Café Kairo herausfordernd: Das WC im Keller ist von aussen zugänglich, die Menschen, die es benutzen wollen, müssen also nicht durch die Beiz, sondern können es – mehr oder weniger ungesehen – benutzen. Das führt dazu, dass die Angestellten immer ein Auge darauf haben müssen, wer gerade unten war und gegebenenfalls putzen müssen. Das sei teilweise ein grosser Mehraufwand.

Keine guter Ort für vulnerable Jugendliche

Auch im Restaurant Sous le Pont in der Reitschule hätten manche Menschen viel Redebedarf, sagt Servicemitarbeiter Simon, der seinen Nachnamen – wie die meisten Reitschüler*innen – nicht in der «Hauptstadt» lesen will. «Es kann gut sein, dass ein prekarisierter Mensch an einem Abend dreimal 30 Minuten mit unserem Personal, mit Gäst*innen und anderen Reitschüler*innen spricht.» 

Simon versteht das: Reden sei ein «basales Bedürfnis» aller Menschen, findet er. Aber es könne «ultra mühsam» sein, vor allem, wenn der oder die Erzählende wirr und kaum folgbar Dinge aus dem Leben schildert. 

Die Schicksale dieser Menschen beschäftigen Simon. Auch Jugendliche kommen ins Sous le Pont, erzählen von Gewaltsituationen, wirkten orientierungslos oder unglücklich. «Wir können teilweise eine bessere Beziehung aufbauen als Sozialarbeiter*innen», findet Simon.

Impression fotografiert auf der Schuetzenmatte in Bern am Freitag, 6. September 2024 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Im Restaurant Sous le Pont in der Reitschule dürfen die Menschen während der Essenszeiten nicht um Geld fragen. (Bild: Simon Boschi (Archiv))

Das mache die Situation verzwickt: In Institutionen sei Nähe und Distanz klar geregelt, hier nicht. Da gelange man auch mal an seine Grenzen. «Man will Hand bieten, weiss aber zugleich, dass die Menschen in einem professionellen Umfeld besser aufgehoben sind», sagt Simon. Trotzdem begleiten Service-Mitarbeitende, wenn sie Zeit haben, Jugendliche zu Anlaufstellen wie Pluto, der Notschlafstelle für Jugendliche.

Das «Souli», wie es liebevoll genannt wird, erlebe immer wieder, dass die Vulnerabilität und Perspektivlosigkeit der jungen Menschen ausgenutzt werde. Als Beispiel nennt Simon «Hilfe beim Deal und sexuelle Ausbeutung». Deshalb schicke das Kollektiv teilweise Menschen bewusst weg, um sie zu schützen.

Ungern zwar, denn das Reitschule-Restaurant will ein Ort für alle sein und freue sich, wenn auch junge Menschen den Ort besuchen. Aber für eine bestimmte Gruppe Jugendlicher sei es kein guter Ort ist, sagt Simon. «Wir können und wollen die Verantwortung für dutzende junge Menschen welche sich in schwierigen Lagen befinden oder schon auf der schiefen Bahn sind, nicht tragen.» 

Eine weitere Regel hat das Sous le Pont: Während der Essenszeiten duldet das Restaurant kein «Mischle» – also dass die Gäst*innen nach Geld gefragt werden.

20 Prozent ist soziale Arbeit

Auch beim Café Kairo gibt es diese Regel. Und: Fragen Menschen ausserhalb der Essenszeiten danach, gibt das Kairo fast immer einen Gratis-Kaffee, Zigaretten, oder etwas Geld – unter der Bedingung, dass sie die Gäst*innen nicht stören.

Brasserie Lorraine fotografiert am Montag, 5. Februar 2024 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Café-Surprise

Der Gratis-Kaffee entstand aus der Initiative «Café Surprise» des Vereins Surprise, der vor allem für seine Strassenzeitung bekannt ist.

Das Café-Surprise funktioniert so: Alle Gäst*innen können einen Kaffee spenden. Die Zahl gespendeter Kaffees ist auf einer kleinen Tafel, oftmals auf der Bartheke aufgestellt, sichtbar. Menschen, die sich keinen Kaffee leisten können, sehen so, ob sie trotzdem einen Kaffee bekommen können. 

Jedes Café oder Restaurant kann sich dem Café Surprise anschliessen. Auch in der Brasserie Lorraine und dem Sous le Pont gibt es das Angebot. Einige haben auch Menüs, die gespendet werden können. 

Gratis Kaffee, ab und zu Zigis, «ä Stutz» oder ein gratis Zmittag oder Znacht – so kommen die Menschen wieder, die für die Angestellten viel Arbeit bedeuten, aber keinen Umsatz generieren. Etwa 20 Prozent seiner Arbeit, schätzt ein Angestellter des Café Kairo, würden prekarisierte Menschen in der Beiz generieren. 

«Es ist einfach wahnsinnig viel Gratis-Bügu, der gar nicht für deinen Betrieb ist», sagt Beizerin Trine Pauli. 

Nicht immer werden so viele Kaffees gespendet, wie nachgefragt werden – vor allem an Orten wie dem Café Kairo, der Brasserie Lorraine oder dem Restaurant Sous le Pont in der Reitschule. Hier geht der Kaffee auch mal auf Rechnung der Beiz. 

Es gehört zum Selbstverständnis der Beizen, dass sie niederschwellig, ohne Konsumpflicht und offen für alle sein wollen. «Viele soziale Institutionen sind nicht so niederschwellig wie wir», sagt Simon vom Reitschule-Restaurant Sous le Pont. Das sei wohl ein Grund, weshalb viele prekarisierte Menschen zu ihnen kommen. 

Gleichzeitig kämpfen viele Beizen mit finanziellen Schwierigkeiten. 

Crowdfunden

Die Brasserie Lorraine hat unlängst ein Crowdfunding abgeschlossen, um aus den roten Zahlen zu kommen. Das Restaurant Sous le Pont in der Reitschule hat unter anderem aus finanziellen Gründen die Öffnungszeiten verkürzt.

Reitschule temporaer geschlossen fotografiert am Samstag, 11. Januar 2025 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Es frustriere «verdammt fest, dass die Gesellschaft keine anderen Antworten auf soziale Probleme kennt», findet Simon vom Reitschul-Kollektiv. (Bild: Simon Boschi (Archiv))

Das Café Kairo komme gerade noch so über die Runden, sagt Chefin Trine Pauli. «Grundsätzlich ist es hart und seit Corona noch härter.» Weil sich das soziale Verhalten der Menschen geändert habe und weniger Menschen auswärts zu Abend essen. 

Pauli verrät aber: Auch das Kairo plant ein Crowdfunding. Für das technische Material, das für Konzerte im Keller nötig ist. Ein Teil davon wurde bereits vor 30 Jahren als Occasion gekauft. «Dafür brauchen wir etwa 40’000 bis 50’000 Franken, die wir crowdfunden müssen – Geld dafür liegt bei uns nicht rum», sagt die Chefin des Kairos. 

Die grosse Herausforderung der solidarisch tickenden Beizen bleibt: Sie wollen offen für alle sein. Aber das geht wirtschaftlich nicht immer auf. Und das zehrt. An den Nerven und am Geld. Diese Arbeit sollte wenigstens, findet Trine Pauli, «von der Gesellschaft mehr estimiert werden». 

tracking pixel