Soziale Anlaufstelle und Beiz in einem

Die Brasserie Lorraine kämpft mit finanziellen Problemen. Im letzten Jahr hat sie mit einem Spendenaufruf und Crowdfunding 150'000 Franken gesammelt. Jetzt hat sie sich neu organisiert.

Zwei Menschen von der Brasserie Lorraine fotografiert am Donnerstag, 6. Februar 2025 in Bern. (VOLLTOLL / Manuel Lopez)
Das Brasserie Lorraine Kollektiv will neu ihre soziale Arbeit durch Stiftungen finanzieren. (Bild: Manuel Lopez)

Es ist Donnerstagnachmittag. Dieser Tage öffnet die Brasserie Lorraine, die es seit 44 Jahren gibt, erst am Abend. Reduzierte Öffnungszeiten sind eine der Änderungen, die die genossenschaftlich geführte Beiz vorgenommen hat, um Kosten zu sparen und zeitgleich zu überlegen, wie sie dauerhaft aus den roten Zahlen kommt. 

Im Inneren der «Brass», wie sie von vielen liebevoll genannt wird, sind an diesem Tag Menschen am Arbeiten, Neuorganisieren und Diskutieren. 

«Wir haben alles detailliert durchgerechnet und herausgefunden, was rentiert und wo wir die meisten Verluste machen», sagt Valentina, die, wie ihr Arbeitskollege Oli, ihren Nachnamen nicht in der «Hauptstadt» lesen möchte. Die Negativschlagzeilen, mit denen die Brass in der letzten Zeit konfrontiert war, sollen sich nicht mit ihrem anderen Beruf vermischen. 

Gegen wirtschaftliches Denken habe sich das Kollektiv, das 22 Leute umfasst, lange gewehrt, sagt Valentina. Auch, weil die Brasserie Prinzipien folgt, die ideologisch geprägt sind. Grundsätze der Beiz sind etwa, dass es keinen Konsumzwang gibt, «nur Ja heisst Ja», oder dass bei einem Vorfall der betroffenen Person geglaubt wird. 

Seit ihrer finanziellen Notlage, die sich vor zwei Jahren abzuzeichnen begann, sei der Brass klar geworden: «Wir müssen wirtschaftlich denken, damit wir überleben und ein sozialer Standort bleiben können», sagt Valentina. Eine «mega kapitalistische Beiz» wollen die Betreiber*innen aus der Brass nicht machen. 

Aber wirtschaftliches Denken sei in diesem Moment auch soziales Denken.

Ohne Spaghetti Bolognese

Der Tagesbetrieb ist schwieriger zu finanzieren als der Abendbetrieb, wo meist genug Menschen einkehren. Deshalb sind zurzeit die Öffnungszeiten verkürzt: Seit dem 10. Februar hat die Brasserie zwar wieder von Dienstag bis Sonntag geöffnet, jedoch nur am Wochenende auch tagsüber. 

Auch die Speisekarte hat das Kollektiv angepasst. Auf der Karte gibt es jetzt kein Fleisch mehr. Zuvor hatte sich Spaghetti Bolognese als einziges Fleischmenü gehalten. 

Zwei Menschen von der Brasserie Lorraine fotografiert am Donnerstag, 6. Februar 2025 in Bern. (VOLLTOLL / Manuel Lopez)
Von nun an gibt es nur noch vegi oder vegane Menüs. (Bild: Manuel Lopez)

Neben dem Menü-Angebot hätten sie die Küchen-Schichten effizienter gestaltet, sagt Valentina. Auch die Arbeitszeiten des Service-Personals würden überarbeitet: «Das ist ein grosser Hebel, so können wir einiges einsparen.» Die Rollen der einzelnen Mitglieder seien nun klarer und die jeweilige Verantwortung sei definiert. «Bisher haben wir sehr fest über ein Gesamtkollektiv funktioniert, das jede kleinste Entscheidung absegnen musste.» Das habe dazu geführt, dass «wir schwerfälliger sind und viel Zeit mit Themen vertörlen, von denen nicht alle eine Ahnung haben», sagt Valentina. 

Im Gespräch fällt auf: Valentina und Oli bedienen sich wirtschaftlicher Ausdrücke, oft fällt das Wort Effizienz. Ein Begriff, von dem man in einer Linken-Kultur-Beiz nicht erwartet, dass er so oft ausgesprochen wird. 

«Als nächsten Schritt überarbeiten wir unser Mittagsangebot», sagt Oli, «damit wir bald auch tagsüber öffnen können.» Oli ist Teil des Teams Küche-Service, das mit der neuen Rollenverteilung mehr Entscheidungsmacht hat.

Über die Frage, wie sich die Brasserie Lorraine neu aufstellen soll, hat sie sich auch mit ähnlichen Beizen ausgetauscht. Mit dem Sous le Pont in der Reitschule sowie Beizen in Zürich und Basel, die eine genossenschaftliche Organisationsform haben. Dieser Austausch sei sehr hilfreich gewesen, weil auch viele andere in einer Krise stecken, sagt Valentina. «Wir sind nicht alleine in dieser Lage.» 

Mehr als eine Beiz

Dem Kollektiv ist es wichtig, auch durch den Tag geöffnet zu sein. Weil sich die Brass auch ein wenig als Wohnzimmer des Quartiers versteht. «Wir wollen ein Zufluchtsort sein für die Menschen, zum Beispiel, wenn ihnen die Decke in der WG auf den Kopf fällt», sagt Valentina. 

In der Aussenwahrnehmung sei die Brass mehr als eine Beiz. Das Lokal stellt eine Gassendusche und ein Gassen-WC zur Verfügung. Die Toilette ist 24/7 öffentlich zugänglich – «dementsprechend oft müssen wir sie auch reinigen», sagt Valentina. Es gibt Soli-Menüs und Soli-Kaffees, die Gäst*innen spenden, damit Menschen, die es sich nicht leisten können, trotzdem etwas zu essen oder trinken bestellen können.

Zwei Menschen von der Brasserie Lorraine fotografiert am Donnerstag, 6. Februar 2025 in Bern. (VOLLTOLL / Manuel Lopez)
Valentina kümmert sich unter anderem um Social Media, Oli ist im Küche-Service Team. (Bild: Manuel Lopez)

«Wir sind zugänglicher als eine Gassenarbeit oder ein Sleeper», sagt Valentina. Deshalb finden sie es wichtig, dass dieser Teil der Brass erhalten bleibt. Jedoch sei es in letzter Zeit oft passiert, dass jemand nach einem Soli-Kafi gefragt habe, die Brasserie dieses ausgegeben hat, obschon dafür keine Spendeneinnahmen vorlagen. «Man will ja nicht immer Nein sagen», sagt Valentina. Gezahlt habe das Kafi entweder das Service-Personal selbst oder die Brass als Kollektiv.

«Es gibt Menschen, die unser Telefon benutzen, ihr Handy aufladen wollen oder Fragen haben beim Ausfüllen von Formularen», ergänzt Oli. Ein Gast habe ihn schon gefragt, was er tun solle, er sei aus der Wohnung geschmissen worden. Es gebe «jenste soziale Ansprüche und Fragen an das Personal», sagt Oli. «Das ist ein Ausmass, das viele gar nicht so mitbekommen, ausser wir, die dem direkt ausgesetzt sind», sagt Valentina. 

Ziel: 100’000 Franken

Bis vor ein paar Jahren konnte die Brasserie die soziale Arbeit mit den Einnahmen der Beiz querfinanzieren. Mit der momentanen wirtschaftlichen Lage gehe aber soziales Engagement und gleichzeitig Gastrounternehmen nicht mehr. Deshalb will die Brass ihre soziale Arbeit über Stiftungsgelder finanzieren. Die Gassendusche, das Gassen-WC, Soli-Menüs oder -Kafis sollen extern bezahlt werden. 

Dass das klappen kann, weiss das Kollektiv aus Erfahrung. «Wir haben eine Zusammenarbeit mit dem Verein Wohnenbern», sagt Oli. Die Menschen können in der Brass essen, Wohnenbern zahlt ihre Menüs. 

«Optimal wäre es, wenn wir 100’000 Franken durch Stiftungen einnehmen und wir so unser soziales Engagement bezahlen könnten», sagt Oli. Realistisch sei es aber, eher mit 20’000 Franken Stiftungsgeldern zu rechnen. 

Und trotzdem: Das Kollektiv sieht sich primär als Beiz und Kulturort mit einem politischen Bewusstsein. «Wir verstehen uns grundsätzlich nicht als soziale Institution», sagt Valentina. Die sozialen Aspekte der Beiz habe das Kollektiv lange einfach auf eine linke politische Einstellung abgestützt. 

Der Konzertabbruch

Dass die Gäst*innenzahlen so eingebrochen sind, erklärt sich das Kollektiv mit der Teuerung und den veränderten Gewohnheiten. Und: «Unsere Gesellschaft ist immer mehr spektakelorientiert: Man hat lieber Pop-ups, die es nur für eine kurze Zeit gibt, statt über 40 Jahre alte Beizen», findet Valentina.

Zwei Menschen von der Brasserie Lorraine fotografiert am Donnerstag, 6. Februar 2025 in Bern. (VOLLTOLL / Manuel Lopez)
Die Brass will auch wieder mehr Konzerte organisieren. (Bild: Manuel Lopez)

Dass die fehlenden Gäst*innen auch auf den Konzertabbruch von vor zweieinhalb Jahren zurückzuführen sein könnten, glauben die beiden nicht. Damals wurde das Konzert einer Schweizer Reggae-Band abgebrochen, weil Bandmitglieder Dreadlocks trugen und Gäst*innen deswegen ihr Unwohlsein bei der Brass meldeten. 

«Wir möchten nicht, dass das wieder ein grosses Thema wird. Die Auswirkungen dieses Vorfalls sind langsam durch», findet Valentina. 

Und trotzdem musste die Brass deswegen Mitte Februar beim Regionalgericht antraben. Jung-SVPler Nils Fiechter hatte die Brasserie wegen Rassendiskriminierung angezeigt. Die Staatsanwaltschaft sprach eine Busse aus, wogegen sich die Brass wehrte. Deshalb kam der Fall vor Gericht, das die Brasserie Lorraine am 17. Februar aber freisprach. Man könne kein Unternehmen der Rassendiskriminierung beschuldigen, begründete die Richterin. 

Die Brasserie Lorraine sei erleichtert, schreibt sie auf Anfrage der «Hauptstadt». Weil sie sich davon erhofft, in Zukunft nicht mehr auf diesen Vorfall reduziert zu werden. Und darüber, «dass das Regionalgericht der politisch motivierten Anklage der JSVP nicht recht gegeben hat.» Das Kollektiv wünscht sich zum Thema Antirassismus eine vertiefte gesellschaftliche Auseinandersetzung.

Und es sei enttäuscht, «dass sowohl die Staatsanwaltschaft wie auch diverse Medien den Vorwurf der JSVP nicht nur unhinterfragt akzeptiert, sondern auch wiedergegeben und verteidigt haben.»

«Die Menschen wollen uns noch»

Vor einem halben Jahr passierten Messerangriffe. Seit damals suche das Service-Personal wieder vermehrt das Gespräch, wenn Spannung im Raum sei. Zum Glück sei das Ausmass nicht so gross wie auf dem Vorplatz der Reitschule. Aber auch der Brasserie sei es wichtig, dass sich alle Menschen wohlfühlen. 

Sicher sei: Die durch Spenden und Crowdfunding eingenommenen rund 170’000 Franken zeigten, dass die Menschen die Brasserie noch wollen. Für das Crowdfunding, das mit mehr als 90’000 Franken ihr Ziel von 70’000 Franken übertroffen hat, haben 834 Menschen gespendet, sagt Oli, der die Zahl auswendig kennt. Sie hätten kaum Grossspenden erhalten, sondern kleine Beiträge von vielen Menschen. Diese Solidarität zu spüren, habe ihnen gerade in ihrer finanziellen Notlage gut getan, sagt Valentina. 

In den letzten zweieinhalb Jahren hatte das Kollektiv wenig Energie, Neues anzugehen. Ständig mussten sie schauen, dass das Wasser, das ihnen bis zum Hals stand, nicht noch höher kam. «Jetzt», sagt Oli, «wollen wir wieder mehr Anlässe planen.» Konzerte, Lesungen, Theater, Filme, Kunstausstellungen. Oder an bestimmten Abenden spezielle Menüs.

Für die Brass gilt eine einfache wirtschaftliche Gleichung. Die Beiz, die mehr sein will als eine Beiz, ist zwar im Moment aus den roten Zahlen, aber: «Es gibt uns nur, wenn man auch vorbeikommt», sagt Valentina.

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Diskussion

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David Schnetzer
27. Februar 2025 um 12:29

"Die soziale Verantwortung von Unternehmen ist es, den Gewinn zu steigern", sagte schon Milton Friedman. Schön, dass die Brasserie auch betriebswirtschaftlich zu denken und handeln beginnt. Gewinn ist nichts Böses und hat nicht mal zwingend etwas mit Kapitalismus zu tun, sondern ist schlicht und einfach das effiziente Einsetzen von Ressourcen und das Schaffen von Mitteln für künftige Investitionen.