Irritationen und Entspannung
Marieke Kruits Kandidatur für das Berner Stadtpräsidium provoziert unterschiedliche Reaktionen im Bündnis Rot-Grün-Mitte und stellt die Strategie des bürgerlichen Lagers in Frage.
Die Hauptversammlung der SP von Montagabend brachte neue Aufregung in den Stadtberner Wahlkampf: Die Partei beschloss, für die städtischen Wahlen im November eine Kandidatin für das Stadtpräsidium zu stellen.
Mit der amtierenden Gemeinderätin Marieke Kruit will die SP den Sitz von Alec von Graffenried (GFL) angreifen – und damit gegen ihren eigenen Rot-Grün-Mitte-Bündnispartner ins Rennen steigen. Das schade dem Bündnis nicht, sondern könne es sogar stärken, sagte SP-Co-Präsidentin Lena Allenspach am Montag.
Sehen das die übrigen Rot-Grün-Mitte-Parteien ebenso? Was sagt Marieke Kruit zu ihrer Kandidatur, nachdem sie sich am Montag noch nicht äussern wollte? Wie reagiert der amtierende Stadtpräsident Alec von Graffenried auf die Offensive? Und was wird das bürgerliche Bündnis «Gemeinsam für Bern» mit der neuen Ausgangslage anstellen?
Die «Hauptstadt» hat bei Kandidat*innen und Parteien nachgefragt.
Marieke Kruit will mehr gestalten
Die SP-Gemeinderätin Marieke Kruit hat eine Kandidatur fürs Stadtpräsidium lange evaluiert, wie sie im Gespräch mit der «Hauptstadt» sagt: «Einen solchen Entscheid trifft man nicht kurzfristig.» Sie habe sich gut überlegt, ob sie bereit sei, noch mehr in der Öffentlichkeit zu stehen und die Direktion zu wechseln.
Sie stelle sich jetzt für die Präsidiums-Kandidatur zur Verfügung, weil sie einerseits «sehr gerne gestalte» und weil sie in den letzten drei Jahren in der Verwaltung viel Erfahrung gesammelt habe. «Ich bin somit bereit für den nächsten Schritt», sagt Kruit.
Den Gestaltungswillen habe sie unter anderem bei der Arbeit am Entwicklungsschwerpunkt Ausserholligen gezeigt. Dort tätigt ihre Tiefbaudirektion die Gesamtkoordination. «Ich ziehe gerne die Fäden, bringe Stakeholder zusammen und koordiniere die Arbeiten.» Leute für ein Projekt an einen Tisch zu bringen, liege ihr.
Sie wolle auch als Stadtpräsidetin «lösungsorientiert arbeiten, die Menschen mitnehmen auf dem Prozess und gut zuhören, sowohl links wie rechts.» Wichtig sei ihr auch eine gute Zusammenarbeit mit den Gemeinden in der Region und dem Kanton.
Über die bisherige Arbeit ihres Regierungskollegen Alec von Graffenried mag Kruit nicht urteilen: «Ich spreche über meine Motivation und verteile keine Noten.» Kruit erachtet aber eine Auswahl beim Stadtpräsidium auch innerhalb des Regierungsbündnisses Rot-Grün-Mitte (RGM) als sinnvoll. «Wir haben grosse Einigkeit in den Themen, aber nach acht Jahren darf man die Frage nach einer Auswahl für das Stadtpräsidium aufwerfen.» Die SP-Delegierten hätten diese Frage intensiv diskutiert und sich für eine Auswahl entschieden. Daher trete sie jetzt an, sagt Kruit.
Ist eine solche Kampfkandidatur nicht eine Belastung für eine Kollegialregierung?
«Eine Auswahl schafft auch Chancen», sagt Kruit dazu, «und ich werde alles daran setzen, die professionelle und gute Zusammenarbeit weiterzuführen.» Ihren Entscheid für eine Kandidatur habe sie von Graffenried persönlich mitgeteilt. «Natürlich spürte ich ein gewisses Erstaunen», sagt Kruit.
Alec von Graffenried freut sich auf Debatten
Der amtierende Stadtpräsident Alec von Graffenried (GFL) reagiert zwiespältig auf die Ankündigung der SP. Einerseits sei er enttäuscht über die Kommunikation: «Marieke Kruit informierte mich am Montagabend kurz vor ihrer Parteiversammlung über die Strategie der Parteileitung und die geplante Kandidatur.» Zuvor hätten die Sozialdemokrat*innen bei mehreren Sitzungen von RGM auf entsprechende Fragen ausweichend reagiert. «Diese Geheimniskrämerei um die Kandidatur ärgert mich.»
Andererseits werde der Wahlkampf nun lebendiger als erwartet, sagt von Graffenried. Und auf diese Debatten freue er sich, denn er möge Wahlkämpfe. «Das gibt mir eine Plattform, um zu präsentieren, wie erfolgreich ich das Regierungsgremium leite.» Er mache einen guten Job, findet von Graffenried. «Wir haben ja alle Abstimmungsvorlagen durchgebracht.» Die RGM-Politik sei erfolgreich, auch wenn man nicht alles so schnell umgesetzt habe wie gewünscht. Seine Kandidatur stehe für Kontinuität.
Zur Kritik der SP an seiner Arbeit sagt von Graffenried, diese sei für ihn diffus. Er habe keine konkreten Beispiele gehört. «Aber ich bin mir bewusst: Als Stadtpräsident erhält man selten Lob», sagt er. Würde von Graffenried in den Gemeinderat gewählt, nicht aber als Stadtpräsident wiedergewählt, würde er in der Regierung bleiben. «Ich liebe meinen Job und meine Fachgebiete im Präsidialdepartement, die Stadtplanung, die Digitalisierung, den Hochbau und die Kultur.» Aber er habe auch bei anderen Direktionen viele Ideen für Projekte. «Eine Abwahl als Stadtpräsident wäre für mich kein Rücktrittsgrund.» Er wolle helfen, die Kontinuität in der Regierung zu stärken.
Die GFL ist irritiert
Matthias Humbel, GFL-Co-Präsident, ist «not amused» über den Angriff der SP: «Ich sehe keinen Grund, Alec von Graffenried aus den eigenen Reihen heraus anzugreifen.» Von Graffenried habe als Stadtpräsident gute Arbeit geleistet und werde von der Bevölkerung geschätzt, wie die Abstimmungsresultate zeigen würden.
Anders als SP-Co-Präsidentin Lena Allenspach schätzt Matthias Humbel die SP-Kandidatur als Schwächung des RGM-Bündnisses ein. «Angesichts der Konkurrenz durch das bürgerliche Bündnis finde ich es wichtig, dass RGM geschlossen auftritt und sich nicht gegenseitig konkurrenziert.»
Mühe hat Humbel auch damit, dass die GFL «sehr kurzfristig» von der SP über ihren Angriff informiert worden sei. Dass die SP mit einer Stapi-Kandidatur liebäugle, sei schon länger bekannt gewesen. Die GFL habe stets für Klarheit gekämpft. «Für das Bündnis ist es eine schwierige Situation, wenn wir nicht wissen, was die anderen machen», so Humbel.
Eine zusätzliche Herausforderung für RGM dürfte der Umgang mit der vom BG lancierten Klimagerechtigkeitsinitiative darstellen. Die SP hat an ihrer Versammlung am Montag die Unterstützung abgelehnt. GB-Co-Präsidentin Ursina Anderegg findet es bedauerlich, dass die SP die Initiative nicht mitlancieren will.
Die SP sieht in der Initiative handwerkliche Fehler, weil sie zu wenig konkret sei, und fürchtet eine Schwächung der Armen durch Gebühren. «Offenbar setzt die SP momentan inhaltlich andere Prioritäten als das Engagement für mehr sozialverträglichen Klimaschutz», sagt Anderegg. Aber solche inhaltlichen Differenzen gehörten zum Tagesgeschäft von RGM dazu, findet sie. Das GB blicke trotzdem optimistisch auf die Lancierung ihrer Initiative und ist überzeugt, dass es bei der städtischen Klimapolitik dringend einen Schub brauche.
Auch die GFL wird aller Voraussicht nach an ihrer Mitgliederversammlung am Mittwochabend die Initiative ablehnen.
«Wir teilen die Ziele, wollen aber einen anderen Weg gehen», erklärt GFL-Co-Präsidentin Tanja Miljanović. Steuern und Gebühren zu erhöhen sei der falsche Weg, da würde die Bevölkerung nicht mitmachen angesichts des aktuellen Kaufkraftsverlustes.
Als Alternative will die GFL an ihrer Versammlung eine Resolution für eine Berner Kreislaufwirtschaft verabschieden. Bis 2050 soll die Stadt Bern zu 100 Prozent auf den Prinzipien der Kreislaufwirtschaft basieren und «stets den grösstmöglichen Wert aus genutzten Ressourcen ziehen und Materialien so lange wie möglich im Wirtschaftskreislauf halten». So steht es in der Resolution, die der «Hauptstadt» vorliegt. Die Resolution ist ein Instrument, mit der sich die Partei eine Zielrichtung vorgibt, worauf sie in der aktuellen und in kommenden Legislaturen hinarbeiten will.
Konkrete Auswirkungen auf das weitere Vorgehen der GFL habe der Entscheid der SP aber nicht. Matthias Humbel: «Wir sind überzeugt von unserem Kandidaten und müssen uns nicht verstecken.»
Entspannteres Grünes Bündnis
Beim GB überrascht der Angriff der SP nicht: «Uns war bewusst, dass dieses Szenario eintreffen könnte», sagt Co-Präsidentin und Gemeinderatskandidatin Ursina Anderegg. Ihre Partei werde sich nun überlegen, wie sie auf die neue Ausgangslage reagiere. Ob Anderegg selbst sich eine Kandidatur als Stadtpräsidentin vorstellen könnte, macht sie von den strategischen Überlegungen ihrer Partei abhängig. Danach wolle sie sich richten – mehr sagt sie zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht. Diese Frage werde das GB an einer der nächsten Mitgliederversammlungen diskutieren und beschliessen.
Anderegg sieht den Zusammenhalt im RGM-Bündnis nicht gefährdet. «Es ist eine herausfordernde Situation, aber RGM ist stark genug, um diese zu meistern», sagt sie. «Auseinandersetzungen innerhalb des Bündnisses gehören seit dreissig Jahren dazu», sagt sie. «Manchmal ‘häscherets’, aber dann besinnen sich alle wieder auf den Wert des Bündnisses: Wir stehen für eine klimafreundliche und solidarische Stadt.».
Die Mitte-Rechts-Liste analysiert
Alle Parteien der Mitte-Rechts-Liste «Gemeinsam für Bern» haben bislang von einer Kandidatur für das Stadtpräsidium abgesehen. Sie wollten sich auf den Gemeinderatswahlkampf fokussieren und Stadtpräsident von Graffenried keine zusätzliche Bühne bieten. Doch der Entscheid der SP stellt diese Strategie in Frage.
«Wir haben den Entscheid der SP für eine Stadtpräsidiumskandidatur zur Kenntnis genommen und werden die neuen Ausgangslage nun gemeinsam mit den anderen Parteien der Liste «Gemeinsam für Bern» analysieren und das weitere Vorgehen besprechen», sagt Glp-Präsident Michael Hoekstra. Vertreter*innen anderer bürgerlicher Parteien äussern sich ähnlich. Offenbar sind die Parteien der Liste bestrebt, eine gemeinsame Strategie für eine allfällige Kandidatur für das Stadtpräsidium zu beschliessen.