Was kostet ein Vorstoss? – Stadtrat-Brief #11

Sitzung vom 6. Juli – die Themen: Pendenzen, Gleichstellung, Papier, EWB, Bäume, Gesichtserkennung.

Stadtrat-Brief
(Bild: Silja Elsener)

Der Pendenzenberg des Stadtrates ist 217 Vorstösse und 9 Sachgeschäfte hoch. An seiner gestrigen Sitzung hat der Rat über eine Möglichkeit debattiert, den Berg abzubauen: Die Kosten von Vorstössen müssten ausgewiesen werden, so die Idee der FDP/JF-Fraktion.

Die Liberalen befürchten, dass «zumindest in einigen Fällen» die Vorstösse «weniger der Sache selbst als vielmehr dem Marketing einiger Persönlichkeiten oder Parteien» dienen würden.

Die Idee stiess auf wenig Gegenliebe: Vorstösse würden «eine bedeutende Rolle im Willensbildungsprozess» spielen und ihre Beantwortung sei «der Grundauftrag der Verwaltung», so Dominic Nellen (SP). Seraphine Iseli (GB) erschloss sich nicht, was anderes als «mit dem Finger auf Menschen zeigen, die angeblich zu viele Vorstösse einreichen» die Kostentransparenz bewirken solle.

Unterstützt wurde die Linke von ungewohnter Seite: «Das ist der Preis der Demokratie, den wir zahlen müssen», argumentierte Alexander Feuz (SVP). Und Claude Grosjean (GLP) erklärte, dass man «Bürokratie nicht mit Bürokratie bekämpfen» könne.

Auch der Gemeinderat findet es problematisch, dass mehr Vorstösse eingereicht als behandelt werden und sie deshalb oft nicht mehr aktuell sind, wenn sie in den Rat kommen. Doch die Deklaration der Kosten trage nicht zur Lösung bei: Die Zahl würde nicht zurückgehen und die Kosten im Einzelfall zu erfassen sei aufwändig und teuer.

Eine grobe Angabe der Kosten enthält die Antwort des Gemeinderates: Eine Kleine Anfrage koste mindestens 1’000 Franken, alle anderen Vorstösse mindestens 2’000 Franken. Zu Buche schlagen würden vor allem die Lohnkosten der rund 20 Personen, die jeweils involviert seien bei der Vorbereitung der Geschäfte. Mit dieser Angabe und der Debatte im Rat sei «das Bewusstsein geschärft und der Zweck vom Vorstoss erreicht», meinte Stadtpräsident Alec von Graffenried (GFL).

Der Stadtrat lehnte das Postulat mit 50 zu 10 Stimmen (FDP und Die Mitte) ab.

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Ratsmitglied der Woche: Matteo Micieli

Matteo Micieli, 27-jährig, sitzt seit Januar 2022 für die PdA im Stadtrat. Er arbeitet als Serviceangestellter im Restaurant Löscher, ist Vorstandsmitglied vom Solidaritätsnetz Bern und studiert Kulturwissenschaften mit Schwerpunkt Philosophie an der Universität Luzern.

Warum sind Sie im Stadtrat?

Ich habe das grosse Privileg, die Ressourcen und den nötigen Pass zu haben, um in einem Parlament wie dem Berner Stadtrat aktiv zu sein. Längst nicht alle können es sich leisten, auf Gemeindeebene zu politisieren. Längst nicht alle dürfen überhaupt in einem Parlament für ihre Anliegen kämpfen oder auch nur Menschen wählen, die ihre Stimme in ein solches Gefäss tragen sollen. Deshalb bin ich im Stadtrat: um mich für alle einzusetzen, die es nicht sein können.

Wofür kennt man Sie im Rat – auch ausserhalb Ihrer Partei?

In meiner Fraktion bin ich dafür bekannt, am besten einschätzen zu können, wie weit wir an der jeweiligen Sitzung in der Traktandenliste kommen. Und ausserhalb meiner Fraktion hoffentlich für meine kritischen Voten.

Welches ist Ihr grösster Misserfolg im Rat?

Das schwache Klimareglement und die zu geringe Zahl von Günstiger Wohnraum-Wohnungen im Viererfeld. Oder wie die Missstände im Asylwesen für Menschen, die in der Stadt Bern in Asyl- oder Rückkehrzentren leben, im Rat unter den Tisch gekehrt werden. Immer mit dem Verweis auf fehlende Zuständigkeiten. Und vieles mehr, was mit einer solchen auf dem Papier grossen linken Mehrheit deutlich sozialer und ambitionierter sein sollte.

Worauf sind Sie stolz bei Ihrer Ratsarbeit?

Es gibt nichts, worauf ich stolz sein könnte in meinem ersten Jahr im Stadtrat. Vielmehr ist es mir enorm wichtig, eine linke, kritische Stimme zu sein in einem Parlament, das Notwendigkeiten umsetzen könnte, es aber aus mir unerklärlichen Gründen immer wieder unterlässt. Meine Aufgabe im Rat ist es deshalb, für Anliegen zu kämpfen, die wiederholt zu kurz kommen. Und darauf zu bestehen, dass wir nicht zu wenig Geld haben für eine soziale, solidarische und klimaverträgliche Politik. Da hat Stolz keinen Platz, das ist einfach notwendig. Sobald ich auf meine Arbeit hier stolz bin, werde ich zurücktreten müssen.

Welches ist Ihr liebster Stadtteil und warum?

Ich habe keinen Stadtteil, der mir am besten gefällt. Es gibt aber Orte, an denen ich mich öfter aufhalte, weil ich dort wohne, arbeite oder Menschen treffe. Am ehesten trifft man mich im Murifeld, im Breitenrain, der Lorraine, oder rund um den Zytglogge an.

  • Gleichstellung: Der Gemeinderat soll dafür sorgen, dass direktionsübergreifende Kommissionen und andere wichtige Gremien geschlechtergerecht besetzt werden. Mit 58 zu 5 Stimmen hat der Stadtrat eine entsprechende Richtlinienmotion der Fraktion FDP/JF überwiesen. Es dürfe nicht sein, dass mehrheitlich Männer den öffentlichen Raum gestalten, so die Motionärinnen. So habe das Begleitgremium zum Projekt Zukunft Bahnhof Bern einen Männeranteil von 80 Prozent. Und beim Wettbewerb zur Neugestaltung des Helvetiaplatzes seien nur 9 von 33 Personen weiblich. Widerspruch kam einzig von der SVP. Sie findet, es seien stets die besten Leute gefragt – unabhängig vom Geschlecht.
  • Papier: Der Stadtrat will künftig die Sitzungsunterlagen nicht mehr ausdrucken. Das entschied er 2022 im Zuge der Spardebatte. Die dazu nötige gesetzliche Grundlage wurde gestern in erster Lesung beraten. Eine Entscheidung wird aber erst bei der zweiten Lesung gefällt. Ökologische Argumente sprächen gegen das Ausdrucken und mehr als die Hälfte aller Stadtratsmitglieder würde bereits heute ausschliesslich elektronisch arbeiten, so die Befürworter*innen. Zahlreicher waren aber die Stimmen, denen der Systemwechsel von analog zu digital zu weit geht. Niemand dürfe von den Informationen ausgeschlossen werden und es könne vorkommen, dass Computer ausfallen.
  • Bäume: Fehlt ein Mitglied der Energie- und Klimakommission an einer Sitzung, solle es einen Baum pflanzen. Das fordert eine Motion der AL/PdA-Fraktion. Die «verfehlte politische Arbeit für das Klima» könne «mit einem wichtigen Beitrag zu einem Teil wiedergutgemacht werden.» Selbst in einem linken Parlament kommenn nicht alle Klimageschäfte durch: Der Vorstoss wurde abgelehnt (7 Ja, 51 Nein, 1 Enthaltung). Ja-Stimmen gab es einzig aus der eigenen Fraktion und vom GB.
  • EWB: Weil Energie Wasser Bern (EWB) im April einen Jahresgewinn von fast 70 Millionen Franken ausgewiesen hatte – im Vorjahr waren es rund 43 Millionen – forderte die SP/Juso-Fraktion, dass EWB diesen Gewinn teilweise an die Bevölkerung zurückgibt. EWB habe von den stark gestiegenen Strom- und Gaspreise profitiert, während viele Berner*innen unter der Teuerung litten. Der zusätzliche Gewinn sei rein rechnerisch zustande gekommen, erklärte Gemeinderat Reto Nause (Mitte). Ausserdem brauche EWB Geld, um die Energiewende voranzutreiben. Das Postulat wurde mit den Stimmen des geschlossenen linken Lagers überwiesen (35 Ja, 28 Nein, 3 Enthaltungen). Folgen hat das aber nicht: Weil der Stadtrat die Antwort des Gemeinderats als Prüfbericht akzeptierte, ist der Vorstoss vom Tisch.
  • Gesichtserkennung: Simone Machado (GaP) forderte mit einem Postulat, dass der Gemeinderat abklären soll, ob in der Stadt Bern Gesichtserkennungssoftware eingesetzt wird. Bei seiner Antwort stützte sich der Gemeinderat einzig auf die Angaben der Polizei – die kein solches System einsetze. Lea Bill (GB) störte sich daran: «Warum wurde nicht auch die Datenschutzstelle gefragt?» Gemeinderat Reto Nause (Mitte) mahnte das Parlament, dass es besser eine Motion statt eines Postulates einreichen würde, wenn es den Einsatz von Gesichtserkennungssoftware regeln wolle. Der Stadtrat hat das Postulat für erheblich erklärt und gleichzeitig die Antwort des Gemeinderats als Prüfungsbericht angenommen.

PS: Auch Erich Hess (SVP) beteiligte sich an der Debatte zu den digitalen Sitzungsunterlagen: «Ich habe keinen Computer und will auch keinen anschaffen. Ich könnte ihn nicht einmal anstellen und bedienen.» Ob diese Aussage wirklich wahr ist, weiss nur Erich Hess selbst. Belegt ist, dass er mindestens zeitweise neben einem Computer zu sitzen pflegt.

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