Notschlafstellen – Stadtrat-Brief #19/2025
Sitzung vom 6. November 2025 – die Themen: Obdachlosigkeit; Sauna im Weyerli; Seftausteg; Farbsäcke und Container; Veloverkehr; Systempanne. Ratsmitglied der Woche: Bernadette Häfliger (SP).
In seiner Sitzung vom Donnerstag führte der Stadtrat eine überraschend ruppige Debatte über die Benutzer*innen der Stadtberner Notschlafstellen. Aktuell gibt es in der Stadt vier permanente Notschlafstellen mit 107 Betten, die allerdings wegen der steigenden Obdachlosigkeit ständig überlastet sind. Eine davon, der Sleeper beim Henkerbrünnli (20 Plätze), finanziert sich mit Spenden und Einnahmen aus der Gassenküche selbst. Die anderen Betreiber*innen werden von der Stadt über einen Leistungsauftrag abgegolten, bezahlt werden sie aber letztlich über den Finanzausgleich vom Kanton. Seit Juni bietet die Stadt neu 18 Notbetten für Finta-Personen an. Die Heilsarmee betreibt das Angebot. Zudem will die Stadt baldmöglichst eine weitere allgemeine Notschlafstelle eröffnen (ebenfalls durch die Heilsarmee geführt), als dauerhaften Ersatz für die 20 Plätze, die vergangenen Winter vorübergehend im Ex-Tiefenauspital angeboten wurden. Anlass für die hitzige Diskussion im Stadtrat war der Kredit zum Leistungsauftrag im Bereich Wohn- und Obdachlosenhilfe für die Jahre 2026/2027. Die jährlichen Kosten steigen wegen dem vergrösserten Notbetten-Angebot um rund 450’000 Franken. Zwar stellte niemand im Rat die Nothilfe grundsätzlich in Frage. Die Wogen gingen aber hoch, als die Herkunft der Benutzer*innen hinterfragt wurde. Praktisch zeitgleich mit der Stadtratsdebatte ausgestrahlt, prägte die TV-Sendung Schweiz aktuell die Stossrichtung der Diskussion. SRF präsentierte exklusiv verwaltungsinterne Dokumente über die Belegung des von der Heilsarmee geführten Passantenheims mit 60 Plätzen. Das Resultat: Nur 30 Prozent der übernachtenden Obdachlosen hätten Schweizer Herkunft, zwei Drittel stammten aus EU-Ländern oder Drittstaaten. Alexander Ott, Leiter der Stadtberner Fremdenpolizei, zeigte sich in der Sendung erstaunt über den hohen Anteil Obdachloser aus der EU. Im Stadtrat nahm Corina Liebi (GLP) diesen Ansatz auf. Sie verlangte, dass die Belegungsstatistik im Obdachlosenbereich erstens um Herkunft (Schweiz, EU, Drittstaaten) der einzelnen Personen ergänzt werden müsse. Und zweitens um deren Aufenthaltsdauer, weil längeres Verweilen in den Notschlafstellen Teil des Problems sei. «Jede Person, die ein Bett braucht, soll eines erhalten», betonte Liebi. Aber: «Wir sollten das Geld so einsetzen, dass möglichst viele Menschen einen Schlafplatz nutzen können.» Die Kapazitätsengpässe seien hausgemacht, kritisierte Liebi, weil Menschen in den Notschlafstellen übernachten würden, die keine Aufenthaltsberechtigung hätten oder für die andere Institutionen zuständig seien. Asylsuchende zum Beispiel, die ein Bett in einer abgelegenen Unterkunft hätten. Oder Obdachlose aus der EU, für die ihre Botschaften zuständig wären. Auf der linken Ratsseite löste der Antrag der GLP/EVP-Fraktion heftige Reaktionen aus. Diese wurden verstärkt durch einen Faktor, der mit der Herkunftsfrage nichts zu tun hat. Vor zwei Wochen war bekannt geworden, dass der Kanton Notbetten, die von Sans-Papiers genutzt werden, nicht finanzieren will. «Dieser Antrag ist schrecklich», sagte Michael Ruefer (GFL) sichtlich enerviert zu Stadtratskollegin Liebi. Nothilfe sei ein Menschenrecht, verankert in der Verfassung, es dürfe nicht sein, dass Ausländer*innen und Schweizer*innen gegeneinander ausgespielt würden. «Der Antrag erschüttert mich im Innersten», sagte Judith Schenk (SP) und Parteikollegin Barbara Keller ergänzte: «Wer bei der Obdachlosenhilfe spart, spart bei der Menschenwürde.» David Böhner (AL) fand: «Der Fehler im System ist die Armut und nicht die Kategorie der Menschen.» Scharf reagierte auch die zuständige Gemeinderätin Ursina Anderegg (GB): «Es ist ein humanitärer Auftrag. Alle Menschen in Not haben ein Recht auf Nothilfe.» Kontrollen und Statistiken machten die Nothilfe hochschwelliger, «und wir müssten uns vorwerfen, Menschen in lebensbedrohliche Situationen zu bringen». Anderegg sei nicht bereit, beim «Verschieben der roten Linien mitzumachen». Corina Liebis Antrag wurde gegen Stimmen von GLP, SVP, Mitte und FDP deutlich abgelehnt.
Die Stadtratsdebatte schreckte auch die Heilsarmee auf. Am Freitagmorgen hielt sie in einer schriftlichen Reaktion fest, dass «2024 85 Prozent der Übernachtungen im Passantenheim Bern Menschen zugute kam, die in Stadt und Region Bern aufenthaltsberechtigt sind».
Bernadette Häfliger (55) sitzt seit 2018 für die SP im Stadtrat. Die Rechtsanwältin mit Master in Nonprofit und Public Management arbeitet als Direktorin der IV Stelle Kanton Bern.
Warum sind Sie im Stadtrat?
Ich bin in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen und habe schnell gemerkt, dass gesellschaftliche Machtverhältnisse das Leben der Menschen stark beeinflussen. Diese Erkenntnis hat mich früh politisiert und mein Vater – ein Chauffeur, selber sehr politisch – hat mir Klassenbewusstsein beigebracht. Ich trat sehr jung der SP bei, habe eine JUSO-Sektion gegründet und damit für junge Menschen eine Alternative geschaffen. Ich habe in den darauffolgenden Jahren viele politische und gewerkschaftliche Kampagnen geprägt, war in Fachgruppen und Vorständen, also ausserparlamentarisch politisch aktiv. Ich war glücklich, meine Gewerkschaftsarbeit zum Beruf machen zu können und damit Arbeits- und Lebensbedingungen von Menschen verändern zu können. Zum Beispiel habe ich in zig Wahlkämpfen mit grossem Spass anderen zu Ämtern verholfen oder in Bern in der Studierendenpolitik den allgemeinen Numerus Clausus verhindert. Irgendeinmal wurde ich angefragt, für den Stadtrat zu kandidieren. Ich würde es nicht als Höhepunkt meiner politischen Laufbahn, sondern eher als weitere Spielart politischer Arbeit bezeichnen.
Wofür kennt man Sie im Rat – auch ausserhalb Ihrer Partei?
Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht. Vielleicht für meine Leidenschaft, wenn mir etwas wirklich wichtig ist?
Welches ist Ihr grösster Misserfolg im Rat?
Wenn man wie ich dem Mehrheitsblock angehört, gibt es vordergründig eher wenig Misserfolge. Allerdings bin ich als Sozialdemokratin aus einer absoluten Minderheitsposition im Luzerner Suhrental politisiert und sozialisiert worden. Es hat mich geprägt, in echten und breit getragenen Lösungen die wirklichen Erfolge zu sehen. Deshalb empfinde ich es immer als Niederlage, wenn wir es nicht schaffen, beispielsweise in der Armutsbekämpfung oder bei urliberalen Fragen wie der Grundrechtsthematik, parteiübergreifend tragfähige Kompromisse zu erreichen.
Worauf sind Sie stolz bei Ihrer Ratsarbeit?
Dass ich trotz Social Media authentisch geblieben bin. Ich kämpfe für die Sache, unabhängig davon, ob das gerade gefällt oder medienwirksam ist. Ich denke, es gelingt mir immer wieder, Menschen, die nicht oder immer weniger gehört werden, eine Stimme zu geben. Ich tausche mich mit ihnen aus, höre hin, nehme ihre Bedürfnisse ernst und trage sie in den Stadtrat. Und ich versuche mit meiner Politik, im Rat ganz konkrete Wirkung für Menschen zu erzielen.
Welches ist Ihr liebster Stadtteil und warum?
Das kommt drauf an…
Diese Themen waren ebenfalls wichtig:
- Sauna: Kollektives Schwitzen scheint ungewöhnliche politische Allianzen zu fördern. «Es ist wahr: Ich sage Ja zu einem Vorstoss der JA», staunte Bernhard Hess (SVP) über sich selber. Er unterstützte ein Postulat der linksgrünen Nora Joos (Junge Alternative). Die Regierung soll prüfen, ob der vom Stimmvolk längst abgesegnete Neubau des Hallenbads Weyermannshaus doch noch um eine Sauna ergänzt werden soll. Bisher hatte es im Weyerli ein Schwitzbad, und nun falle die einzige bezahlbare Sauna in Berns Westen weg. Hess, der vor Jahrzehnten schon einmal Stadtrat war, erinnerte sich, wie er mit Politikerkollegen in der Sauna diskutierte. «Sollen wir jetzt schon Stammtische für schwitzende Politiker subventionieren», fragte Gemeinderätin Ursina Anderegg (GB) ironisch. Die Stadtregierung wolle aus finanziellen Überlegungen auf eine Sauna verzichten und private Anbieter nicht konkurrenzieren. Sie fand damit kein Gehör: Das Parlament überwies den Vorstoss.
- Seftausteg: Mit Zähneknirschen bewilligte der Stadtrat einen Zusatzkredit für die Sanierung des Seftaustegs über die Aare zwischen Bern und Bremgarten. Das Vorhaben, das ab Januar ausgeführt wird, kostet mit neu knapp zwei Millionen Franken rund doppelt so viel wie einst budgetiert. «Das Muster wiederholt sich», kritisierte Tanja Miljanovic (GFL). «Man wartet mit der Sanierung, bis man keinen Handlungsspielraum mehr hat.» Die Kostensteigerung sei «unschön, aber unvermeidbar», sagte Gemeinderat Matthias Aebischer (SP).
- Farbsäcke & Container: Emotionslos und einstimmig entsorgte das Stadtparlament das 2021 in einer Abstimmung vom Volk angenommene Farbsacksystem. Und segnete danach die von Gemeinderat Matthias Aebischer (SP) vorgeschlagene «pragmatische Einführung» einer Containerpflicht ab, damit man dereinst keine blauen Abfallsäcke mehr am Strassenrand sehen sollte. Aebischer will nun jene Liegenschaften mit Containern beliefern, die sie problemlos aufstellen können, angefangen beim Stadtteil Mattenhof-Weissenbühl. Die komplexeren Fälle folgen später. «Will Aebischer tatsächlich als Container-Mätthu in die Geschichte eingehen?», fragte Ursula Stöckli (FDP) zur allgemeinen Erheiterung bissig. Sie hält Aebischers Festhalten an der Containerpflicht für Ideologie, die sich nicht um die Realität schere. Immerhin habe man mit dem bisherigen «Wursteln» schon 3,5 Millionen Franken ohne zählbares Resultat verbrannt, kritisierte sie. Der Stadtrat hörte nicht auf Stöckli, sondern folgte «Container-Mätthu».
- Langsamverkehr: Mit grossem Mehr überwies der Stadtrat drei Vorstösse des früheren Stadtrats Matthias Humbel (GFL). An drei neuralgischen Stellen soll die Stadt Lösungen prüfen, die Fussgänger*innen und Velofahrenden mehr Sicherheit und Übersicht bringen: Eigerplatz, Schwarztorstrasse und bei der Kreuzung des Velowegs Schlösslistrasse mit der stark befahrerenen Zieglerstrasse
PS: Der Stadtrat musste seine Beratungen rund eine Viertelstunde unterbrechen, weil das Mikrofon- und Stimmenzählsystem ausgefallen war. Bei den Aufstartversuchen sorgte das System bei den zur Untätigkeit verurteilen Stadträt*inenn immerhin für Heiterkeitsanfälle. Es ordnete die Stadtparlamentarier*innen sehr phantasievoll kantonalen Parteien zu. Ueli Jaisli (SVP) war plötzlich bei den Grünen, Bettina Jans-Troxler (EVP) fand sich bei der SP wieder, Helin Genis (SP) tauchte als Freisinnige auf – und Béatrice Wertli (Mitte) sah sich zur konservativen EDU transferiert, die im Stadtrat nicht vertreten ist.
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