Wer hat in der Kita-Frage die längeren Spiesse?
Die Einführung der Kita-Gutscheine 2014 war eine der wenigen politischen Niederlagen von Rot-Grün-Mitte in den letzten 30 Jahren. Die Wogen gehen bis heute hoch. Warum?
Das Traktandum klingt für Polit-Laien recht nüchtern: Sollen städtische Kitas eine zeitlich begrenzte Spezialfinanzierung erhalten, um coronabedingte Defizite auszugleichen?
Doch die Wogen gehen hoch an jenem Tag Ende Oktober 2022 im Berner Stadtparlament. Kitas sind emotional. Auch weil es um eine grosse politische Frage geht: Staat versus Private. Es gibt einerseits von der Stadt betriebene Kitas, andererseits privat betriebene Kitas. Und je nach Sichtweise und Positionierung auf dem politischen Spektrum werden mal die einen, mal die anderen bevorzugt.
Wann sind die Spiesse gleich lang? Fast scheint es, als ob bei jenem Traktandum eine ungeschriebene Spielregel gelten würde: Eine Wortmeldung muss den Begriff «Spiess» enthalten – auch noch elf Jahre nach dem Grundsatzentscheid.
Das klingt dann so:
Corina Liebi (GLP): «Die städtischen Kitas sollen nur so viel erhalten, wie private auch hätten beantragen können, nur so haben wir gleich lange Spiesse.»
Milena Daphinoff (Mitte): «Wir möchten nicht am Grundsatz der gleich langen Spiesse rütteln.»
Tom Berger (FDP): «Es geht nicht um die Frage, ob die Stadt überhaupt städtische Kitas betreiben soll, es geht um gleich lange Spiesse.»
Barbara Keller (SP): «Das Volk hat sich 2013 für gleich lange Spiesse entschieden.»
Janina Aeberhard (GLP): «Man will die Defizitgarantie wieder durch die Hintertür einschleusen mit dem Argument der gleich langen Spiesse.»
Ursina Anderegg (Grünes Bündnis/JA): «Das ist ein ideologisches Mindset. Als ob städtische und private Kitas in einer Art Kriegszustand wären. Gleich lange Spiesse, dann denke ich an Soldaten auf dem Schlachtfeld, und wer die längeren hat…»
Bettina Jans-Troxler (EVP): «Solange die städtischen Kitas die städtischen Anstellungsbedingungen übernehmen müssen, sind gleich lange Spiesse nicht möglich.»
Franziska Teuscher (zuständige Gemeinderätin, GB): «Als ich das Geschäft 2013 als neue Gemeinderätin übernahm, staunte ich auch über den Begriff, das war mir neu, gleich lange Spiesse.»
Von gleich langen Spiessen im Kitawesen redet man in der Stadt Bern schon seit über 10 Jahren. Das hat – und damit hat Ursina Anderegg vom Grünen Bündnis nicht unrecht – mit Ideologien zu tun. Bis vor gut zehn Jahren gab es ein massives Unterangebot an Kita-Plätzen. Eltern liessen die Kinder schon vor Geburt auf mehrere Wartelisten setzen, damit es dann im besten Fall mit der externen Kinderbetreuung klappte, wenn der Mutterschaftsurlaub vorbei war.
2011 entschied das Berner Stimmvolk, Betreuungsgutscheine für Kitas einzuführen. 2013 machte es in einer zweiten Abstimmung deutlich, keine Defizitgarantie für städtische Kitas mehr zu gewähren. Es war ein Grundsatzentscheid gegen staatliche Regulierung. Der freie Markt sollte es richten, fortan würden nicht mehr die einzelnen Kitas subventioniert, sondern die Eltern via Betreuungsgutschein, den sie anfordern können, wenn sie beide arbeiteten.
Es war eine der wenigen politischen Niederlagen des erfolgreichen Polit-Bündnisses Rot-Grün-Mitte in den letzten 30 Jahren. Denn die SP hatte mit ihrer Kita-Initiative eigentlich einen Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz gesetzlich und damit eine staatliche Regelung verankern wollen.
«Extrem grosse Niederlage»
Wie kam es dazu, dass RGM in der Kita-Frage den Kürzeren zog? Wie wirkt sich das heute aus? Und wie blicken damals Beteiligte darauf zurück?
«Es war schon eine extrem grosse Niederlage», sagt Lea Kusano. Die damalige SP-Stadträtin hatte sich im Abstimmungskampf sehr für die Initiative engagiert. Die Stimmung sei emotional gewesen. Dabei habe nicht nur das Sachthema eine Rolle gespielt. Sondern auch das Aufkommen der GLP. «Sie wurde damals als Bedrohung wahrgenommen.»
Tatsächlich kommt man bei diesem Thema nicht um die Grünliberale Partei herum. 2008, als die SP erfolgreich Unterschriften für ihre Kita-Initiative auf städtischer Ebene sammelte, war die GLP eben erst gegründet worden und noch nicht einmal im Parlament. Als sie 2009 erstmals in den Stadtrat einzog, preschte Neo-Mitglied Kathrin Bertschy (heute Nationalrätin GLP) gleich mit einem Vorstoss vor, Kita-Gutscheine als Pilotversuch einzuführen.
Als die Kita-Initiative im Parlament behandelt wurde, gelang der GLP etwas, was die bürgerliche Minderheit vorher nicht geschafft hatte: Sie konnte eine Mehrheit für einen Gegenvorschlag zugunsten Betreuungsgutscheinen hinter sich scharen. «Ein Rechtsanspruch der Eltern auf Subventionen, dazu hätten wir die FDP nicht bewegt, aber die GLP schaffte das», sagt Lea Kusano, die heute nicht mehr politisiert, im Rückblick. «Die GLP traf Ton und Position so, dass sie auch mehrheitsfähig war.»
Dazu kam, dass sich die Grüne Freie Liste, meistens fix im Bund mit Links-Grün, für die Betreuungsgutscheine erwärmen konnte, ebenfalls die FDP – und schliesslich machte sogar die SVP mit. In der Folge unterbreitete das Parlament dem Volk die Initiative und den Gegenvorschlag mit den Betreuungsgutscheinen.
Gereizte Stimmung
2011 kam es zur Abstimmung. Die Kita-Initiative wurde knapp abgelehnt, die Betreuungsgutscheine wurden knapp angenommen. «Das Thema war extrem akut», erinnert sich Michael Köpfli (GLP, heute Grossrat), «viele private Kitas engagierten sich sehr für diesen Gegenvorschlag». Köpfli war neben Bertschy der zweite dominierende Kopf der GLP – und übernahm von ihr, als sie in den Nationalrat gewählt wurde. «Die Stimmung war gereizt, der Gemeinderat wollte den Gegenvorschlag nicht wirklich umsetzen», sagt Köpfli.
«Die SP verkannte die Zeichen der Zeit», sagt die damalige SP-Politikerin Lea Kusano, die heute nicht mehr in der Partei ist. Die zweite Debatte im Stadtparlament, die für die Umsetzung des Gegenvorschlags nötig war, sei emotionaler als die erste gewesen, erinnern sich sowohl Köpfli wie Kusano. «Die grossen Zankäpfel blieben, es ging um eine Obergrenze der Elterntarife und die Defizitgarantie für städtische Kitas.» Die SP ergriff nach der Debatte das «konstruktive Referendum» – wollte, dass die Obergrenze für Tarife und die Defizitgarantie bestehen blieben.
Es folgte ein noch heftigerer Abstimmungskampf als der erste. Der Slogan von RGM lautete: «Kinder sind keine Ware». Was könnte in einer progressiven, links-grünen Stadt mehr ziehen? Doch das Volk sagte 2013 zum zweiten Mal Ja zu Betreuungsgutscheinen ohne Defizitgarantie für städtische Kitas. «Ich fand es eher überraschend, dass wir gewannen», sagt Köpfli. Er sei damals unsicher gewesen, ob die Umsetzung wie gewünscht klappen würde. «Wenn die Verwaltung nicht will, kann sie ein Gesetz im Vollzug ja killen», befürchtete er. Aber als die beiden Abstimmungen vorbei waren, habe die Stimmung gedreht. Plötzlich spürte er auch von der linken Seite,, dass sie dem neuen System eine Chance geben wollte. Die damalige Sozialdirektorin Edith Olibet und der neue städtische Jugendamtleiter Alex Haller hätten vorwärtsgemacht und mitgezogen.
Misserfolg, oder doch Erfolg?
Die damalige SP-Stadträtin Ursula Marti (heute Grossrätin) hatte damals die Kita-Initiative mitinitiiert. «Das Gutscheinmodell stiess wirklich eine Entwicklung an, weil damit verbunden auch mehr Subventionen ausgelöst werden konnten», sagt sie heute, «auch wenn ich immer noch der Meinung bin, dass es nicht das beste Modell ist». Aber das spiele gar keine so grosse Rolle, Hauptsache, es gebe mehr Kita-Plätze. Für die Zukunft schwebt ihr allerdings immer noch vor, dass Kitas zum Grundangebot der Bildung gehören, so wie Schule und Kindergarten. Dass sie allen zugänglich sind und auch von der Allgemeinheit finanziert werden.
Sowohl Marti wie auch Kusano finden heute, dass der Misserfolg für Rot-Grün gar nicht so gross war. Wobei Kusano betont, dass die SP eigentlich selbstbewusster den Anteil des eigenen Erfolgs daran vermarkten könnte. «Ohne Kita-Initiative gäbe es keine Betreuungsgutscheine», sagt sie. Und Marti unterstreicht: «Das Wichtigste für uns war ja ein Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz, und den haben wir heute.»
Wobei das so nicht ganz stimmt. Zwar ist es heute leicht, einen Kita-Platz zu finden, weil es ein grösseres Angebot gibt. Einen Rechtsanspruch darauf gibt es jedoch nicht. Den Rechtsanspruch gibt es nur auf die Subventionierung eines Platzes für Eltern, die gemeinsam mehr als 100 Prozent arbeiten.
Aber im Nachhinein klingt manches versöhnlich. Nach der Stadt hat auch der Kanton (der, als die Stadt vorpreschte, noch opponiert hatte) Betreuungsgutscheine eingeführt. Seit diesem Jahr sind sie für alle Gemeinden verbindlich. Bei Kitas in der Stadt Bern gibt es keine Wartelisten mehr, Eltern können sich ihre Kita selber aussuchen. Es gibt heute um die 80 private Kitas und 15 städtische. 2014, als die Betreuungsgutscheine eingeführt wurden, waren es nur halb so viele private Kitas.
Der Markt greift. Er hat zu gleich langen Spiessen geführt im Angebot. Ob sie auch bei den Bedingungen gleich lang sind, wird sich weisen müssen. Die Parlamentsdebatte vom Oktober geht im nächsten Jahr in eine zweite Lesung. GLP, FDP und SVP möchten, dass die Höhe der Spezialfinanzierung für die Deckung der Corona-Defizite ausgewiesen ist, bevor man sie genehmigt. Sie befürchten, dass die Spezialfinanzierung, die begrenzt ist bis 2024, durch die Hintertüre permanent wird und de facto die vor zehn Jahren abgeschaffte Defizitgarantie für städtische Kitas wieder einführt.
Doch die Lage ist anders als 2011 und 2013: Die GLP nutzte damals das Momentum. Sie war neu, sie war ansteckend, sie schaffte einen überraschenden Schulterschluss von GFL bis SVP. Das ist ihr seither nie mehr gelungen. Die Grüne Freie Liste schert zwar manchmal aus dem Bündnis aus (so wie zuletzt bei der Budgetabstimmung, wo sie keine Empfehlung herausgab), in Grundsatzfragen aber stimmt sie mit ihren Partner*innen. Ausserdem haben sich die Mehrheitsverhältnisse verändert. Aktuell kann Rot-Grün im Stadtrat auch eine Mehrheit bilden ohne GFL, wenn die äusserste Linke mitmacht. Und so sieht es danach aus, als ob die Spezialfinanzierung für die städtischen Kitas bei der zweiten Lesung eine Mehrheit finden wird.