Stillstand im Steuerparadies
Muri-Gümligen gilt im Kanton Bern als Steuerparadies. Warum? Die Basis, die einst Patrizier*innen legten, entwickelt die Gemeinde heute mit einer Anti-Wachstumsstrategie weiter.
Im von Villen dominierten Mettlenquartier in der Nähe der Aare in Muri wurden dieser Tage zwölf neue dreigeschossige Häuser bezogen. Sie sind in einer Parklandschaft angesiedelt, laut Website «inspiriert von den Gemälden des Malers Claude Monet». Der lauschige Teich ist bereits angelegt, bei der weiteren Umgebungsgestaltung sind an diesem trüben Tag im November noch Gartenbauer*innen am Werk. Die Überbauung heisst Riedacker. Kaufpreis der grosszügigen, eingeschossigen Wohnungen: 2,5 Millionen Franken aufwärts. Noch sind nicht ganz alle verkauft. Und einige Einheiten sind auch noch zu vermieten – unter 5’500 Franken (für eine 4,5 Zimmer Wohnung) geht nichts.
Muri wird durch diese Neubauten, wenn alle bezogen sind, um etwa 100 Menschen wachsen. Um wohlsituierte Familien und Paare, die vom fünfttiefsten Steuersatz im ganzen Kanton profitieren können. Er liegt bei 1,14 Einheiten. Tiefer ist er momentan nur in vier Kleinstgemeinden. Muri ist ein Steuerparadies – und das nicht zufällig.
Dazu muss man wissen: Es ist aussergewöhnlich, dass in Muri eine neue Überbauung entsteht. Denn die Gemeinde ist in den letzten gut 40 Jahren fast überhaupt nicht gewachsen. 13’181 Einwohner*innen zählte sie Ende 2020 – 1980 waren es 12’285. In 40 Jahren sind also im Schnitt 25 neue Einwohner*innen pro Jahr hinzugekommen.
Und diese Anti-Wachstums-Strategie ist gewollt. Sie hat mit Muris Ruf als Steueroase zu tun, dessen Ausgangspunkt sehr weit zurückliegt.
Verlängerung des Botschafter*innenquartiers
«Muri hat seit langem eine steuergünstige Situation», sagt Walter Thut. Der pensionierte Gymnasiallehrer lebt seit 20 Jahren in Muri und ist in dieser Zeit so etwas wie der Lokalhistoriker der Gemeinde geworden. Gleichzeitig sitzt er aber auch für die Forums-Partei im Parlament – und ist Kirchgemeindepräsident.
Diese Entwicklung begann nach der Reformation im 16. Jahrhundert und intensivierte sich im 18. Jahrhundert. Patrizier*innen bauten in Muri Landsitze, herrschaftliche Häuser, kleine Schlösschen. Schloss Muri und Schloss Gümligen, erbaut von wohlhabenden Familien, stammen aus dieser Zeit. Landluft nahe an der Stadt, freie Sicht auf die Alpen, unter seinesgleichen sein. Die Zuwanderung aus der Stadt nahm noch zu, als 1893 die Kirchenfeldbrücke gebaut wurde, Kirchenfeldquartier und Elfenau in Bern prosperierten. «Wer noch etwas weiter ging, kam nach Muri», sagt Thut. Muri als Verlängerung des Botschafter*innenquartiers Brunnadern. Hier gab es keine Industrie, die lärmte oder stank.
Der Gemeinde ging es gut. Sie wuchs. Von 1341 auf fast 6000 Einwohner*innen zwischen 1900 und 1950. Nochmal auf das Doppelte zwischen 1950 und 1980. Die Unabhängigkeit war ihr dabei wichtig. Zweimal gab es Diskussionen über eine Fusion mit Bern. In der Zeit von 1918 bis 1925, als auch Gespräche mit Bümpliz (das schliesslich Ja sagte zur Fusion), Ostermundigen und Bremgarten liefen und ein zweites Mal nach dem Zweiten Weltkrieg. Ende 1923 gab die Gemeinde Muri eine Absage. «Sie sah keine Vorteile in der Fusion», sagt Thut, «sie hatte gute Steuerzahler, sie war relativ gut aufgestellt.» Man habe damals auch ausgerechnet, dass Muri im Stadtrat von Bern 2 Sitze gehabt hätte. «Sie hätte kein politisches Gewicht gehabt und ihre privilegierte Position aufgegeben», erläutert Thut.
Anders als in Ostermundigen oder Bümpliz lebten in Muri fast keine Arbeiter*innen, die Bausubstanz bestand mehrheitlich aus wenigen Bauernhäusern, den zuvor gebauten Landsitzen und bürgerlichen Häusern. «In Muri haben schon immer vermögende Leute und nicht Arbeiter*innen gewohnt.»
Lieber leises Gewerbe
Und obwohl es rund 1000 Unternehmen in Muri gibt, fehlt Industrie fast gänzlich. Nur die Lebensmittelproduzentin Haco ist heute in Gümligen angesiedelt. «In Muri wird leises Gewerbe bevorzugt», sagt Lokalhistoriker Thut.
Muri hat heute Steuereinnahmen von rund 54 Millionen Franken im Jahr. Davon stammen um die 39 Millionen von natürlichen Personen, um die acht Millionen von juristischen Personen sowie um die sieben Millionen von übrigen Steuern. Muris Einnahmen beruhen also zu einem grossen Teil auf dem Einkommen und Vermögen seiner Einwohner*innen.
Das war schon vor 100 Jahren der Fall, obwohl der Berner Regierungsrat die Muriger*innen 1937 dazu verknurrte, die Steuern zu erhöhen. «Es war eine expansive Zeit, Muri wuchs, baute Schulhäuser, die Kanalisation und weiteres. Man arbeitete mit Schulden», sagt Thut. Mit der Steuererhöhung nahm die pro Kopf Verschuldung schliesslich von 663 (im Jahr 1932) auf 313 Franken (im Jahr 1948) ab.
Hohe Schulden, hohe Einnahmen
«Muri hat schon immer auf hohe Schulden gesetzt», sagt Thut, «die Gemeinde konnte sich das leisten, weil sie eben auch hohe Einnahmen hat.» Und die Situation verbesserte sich nach der Intervention des Regierungsrats schnell. 1947, nach dem Zweiten Weltkrieg, lag Muri bereits an 14. Stelle bezüglich Steuerkraft im Kanton. Besser platziert waren lediglich Industriegemeinden im Berner Jura, Kraftwerkgemeinden und einige vermögende Landstädte.
Muri wurde also durch die frühe Besiedelung durch reiche Patrizier*innen zum Steuerparadies. Und es blieb bis heute ein innerkantonales Steuerparadies. Wobei sich die Situation geändert hat: Mit der Einführung des kantonalen Finanz- und Lastenausgleichs muss Muri zwei Drittel seiner Steuereinnahmen dem Kanton abtreten. Schweizweit kann es längst nicht mehr mithalten bezüglich Steueroase – und liegt wie alle anderen Berner Gemeinden im letzten Drittel.
Das sind die äusseren Bedingungen. Gegen innen setzt Muri auf Bestandeswahrung. Es wächst seit 40 Jahren kaum mehr. Hier wohnen Altreiche, neu hinzu kommt man nur durch viel Glück. «Muri bietet diesen Menschen ein kleines Trösterchen in Sachen Steuern, aber auch ein attraktives Wohnumfeld», sagt Lokalhistoriker Thut.
Muri versucht nicht, wie zum Beispiel Köniz, für Familien attraktiv zu werden. Es versucht nicht, wie zum Beispiel Ittigen, grosse Firmen anzuziehen. Es versucht nicht, wie zum Beispiel Zollikofen, Bundesbetriebe anzusiedeln.
Bevölkerung zieht mit
Muri versucht einfach zu behalten, was es hat. Und die Bevölkerung zieht mit. Sie lehnte 2009 und 2012 Ortsplanungsrevisionen ab und hiess ein Einzonungsmoratorium für zehn Jahre gut. In dieser Zeit darf kein neues Gebiet auf Gemeindeebene für Bauvorhaben eingezont werden.
2020 wurde sogar ein über sechs Jahre geplanter Siedlungsbau inklusive eines Hochhauses im Zentrum von Gümligen abgelehnt. 1400 neue Einwohner*innen hätten durch die Neubauten bis 2030 angezogen werden sollen, wie damals im Abstimmungsbüchlein stand. Es wären Familien gewesen, Normalverdienende, potentiell aus der nahen Stadt Zuziehende. Doch die Muriger Stimmbevölkerung lehnte alle Projekte ab, die zu einem Bevölkerungswachstum führen könnten.
Was heisst, dass man auch nicht Steuergeld in Schulhäuser investieren muss für die Kinder von Einwohner*innen, die gar nicht kommen. Alles bleibt, wie es ist. Nur die private International School hat vor einigen Jahren einen riesigen, einstöckigen Neubau auf Gemeindegebiet bezogen.
Der Polit-Geograf Michael Hermann vom Forschungsinstitut Sotomo bestätigt den Zusammenhang zwischen Steuerparadies und Wachstumsskepsis: «Der Trend von Städter*innen, die in die Agglo ziehen und diese politisch nach links ziehen, lässt sich aus bürgerlicher Sicht kaum bremsen. Einziger Hebel: Bremsen des Wachstums. So kann das Bestehende gewahrt werden und damit – am ehesten – die bürgerliche Dominanz.»
Muris Erfolgsrezept heisst, nicht zu wachsen. Oder wenn, dann nur sehr ausgewählt. Wie an Orten wie der Neubausiedlung Riedacker, wo an diesem trüben Tag kein Mensch auf den pittoresken Spazierwegen zu sehen ist – schliesslich ist die Tiefgarage unterirdisch erreichbar. Nur vor wenigen Häusern stehen ein Bobbycar oder ein Kindervelo, die darauf schliessen lassen, dass in dieser grosszügigen Umgebung Kinder leben.