«Es beruhigt, in der Altstadt zu wohnen»
Die Unternehmerin Ursula Stöckli lebt in der unteren Altstadt – und kann meistens auch dann gut schlafen, wenn das Nachtleben in Gang ist. Wenn sie sich ärgert, macht sie sich manchmal in mattenenglischen Selbstgesprächen Luft.
Frau Stöckli, kann man es sich als Normalverdienerin leisten, in der Altstadt zu wohnen?
Ursula Stöckli: Es gibt, je nach Gasse und Zustand des Hauses, bezahlbare Wohnungen, doch die gehen meist unter der Hand weg. Ausgeschrieben werden vielfach nur die teuren Angebote. Deshalb denken alle, Wohnen in der Altstadt sei Reichen vorbehalten, was aber nicht stimmt. Zudem: Die Altstadt ist sehr dicht bebaut. Oft leben die Menschen hier auf weniger Quadratmetern als in anderen Quartieren.
Wie wurden Sie Altstadt-Bewohnerin?
Die Altstadt hat mich früh fasziniert. Als Schülerin las ich die Bücher von Sergius Golowin, und stieg allen Gassen, Treppen und Ecken nach, die er beschreibt. Als ich vor 30 Jahren intensiv eine Altstadtwohnung suchte, fand ich nichts und liess die aktive Suche bleiben. Vor neun Jahren stiess ich per Zufall auf eine Wohnung an der Brunngasse.
Hat es mehr Vor- oder Nachteile, in der Altstadt zu leben?
Es hat beides, ich geniesse die Vorteile. Die Zentralität ist unschlagbar, man ist schnell überall. Mir gefällt es, in dem Sandstein zu leben, der Geschichte mit sich trägt. Ich liebe die Glockenschläge des Zytglogge. Wenn ich sie höre, fühle ich mich zu Hause.
Ursula Stöckli (58) ist Elektroingenieurin und Geschäftsleiterin des Ingenieurunternehmens Momento in Zollikofen. Für die FDP sitzt sie im Stadtrat. Als Co-Präsidentin des Rathausgass-Brunngass-Leists initiierte sie 2022 die Aktion «Gute Nach(t)barschaft – zäme wohne, schaffe, fyre», die alle Akteur*innen des Nachtlebens zur gegenseitigen Rücksichtnahme auffordert.
Sie leben im Unesco-Weltkulturerbe. Ist das Würde oder Bürde?
Im Weltkulturerbe zu leben wirkt beruhigend.
Beruhigend?
Genau. Wenn die Stadt wieder einmal eine politische Schnapsidee umsetzen will, wie etwa das Farbsacktrennsystem, können wir uns als Bewohnerinnen und Bewohner der Altstadt beruhigt zurücklehnen. Wir können sicher sein, dass das bei uns nie kommen wird. Die engen Raumverhältnisse und die denkmalpflegerischen Beschränkungen im Unesco-Perimeter sorgen dafür.
Ist die Denkmalpflege für Altstadt-Bewohner*innen ein Feindbild?
Die Grenzen sind in einem Unesco-Weltkulturerbe eng. Man braucht zeitweilen etwas Fantasie, um Veränderungen möglich zu machen. Ich habe bis jetzt gute Erfahrungen mit der Denkmalpflege gemacht, etwa bei der Sanierung der Fassade an unserem Haus. Bei Umbauten ist es schon so, dass wir Laien nicht immer alles nachvollziehen können. Aber: Die Denkmalpflege hat einen weiten Zeithorizont, und das ist richtig so. Die Häuser sind ein paar hundert Jahre hier, wir hingegen nur kurze Zeit. Das muss man im Auge behalten.
Sie sind Co-Präsidentin des Rathausgass-Brunngass-Leists. Für andere Altstadtgassen gibt es andere Leiste. Ergibt diese Kleinteiligkeit Sinn?
Sie ist historisch gewachsen, und die Eigenheiten der Gassen sind sehr unterschiedlich. Die Brunngasse und die Rathausgasse, die früher Metzgergasse hiess, waren eher bescheidene Handwerkergassen. Auch heute ist es so, dass wir teilweise unterschiedliche Probleme haben. In der Rathausgasse sind Bars und Nachtleben ein Thema, in der Münstergasse sind es eher Restaurants, oben in der Kramgasse ist es der Mix der Läden. Von aussen gesehen mag es kleinkariert wirken, aber um die spezifischen Fragen anzugehen, ergibt die Aufteilung in mehrere Leiste Sinn.
Vom 8. bis 12. Mai 2023 gastierte die Redaktion der «Hauptstadt» im Demokratie-Turm des Polit-Forums Bern. Wir waren quasi lebender und arbeitender Teil der Wanderausstellung «Auf der Suche nach der Wahrheit». Vom Käfigturm aus erkundeten wir die Innenstadt und stellten dazu unseren «Hauptstadt»-Tisch in die Gassen und ins Warenhaus Loeb und führten daran Interviews. Den «Hauptstadt»-Tisch liess die Redaktion anfertigen, damit er künftig als mobiles Büro immer wieder zum Einsatz kommen kann.
Sie leben nahe an der Rathausgasse, einem Hotspot des Berner Nachtlebens. Schlafen Sie gut?
Ja, ja, schlafen geht meistens, sonst kann ich die Fenster schliessen. Die ruhigsten Nächte sind diejenigen von Sonntag auf Montag, wenn es regnet.
Wo liegt Ihre Schmerzgrenze?
Wenn ich um 2 Uhr früh trotz geschlossenen Fenstern nicht schlafen kann. Da mache ich auch mal eine Beschwerde, aber das kommt selten vor. Oft denken Ausgängerinnen und Ausgänger mit entsprechendem Alkohol- oder sonstigem Pegel nicht daran, dass hier auch Menschen wohnen.
Nehmen diese Konflikte zu?
Ich habe das Gefühl, dass das Bewusstsein für ein Miteinander von Wohnen, Gewerbe und Feiern grundsätzlich wächst – auch in der Stadtverwaltung. Aber diese Balance ist fragil, es gibt immer Veränderungen und keine dauerhaften Lösungen, die für längere Zeit stabil sind. Man muss dranbleiben, ständig miteinander reden. Die meisten, die sich hier bewegen, haben das Gefühl, die Altstadt gehöre alleine ihnen.
Wie zeigt sich das?
Allergisch reagiere ich, wenn Auswärtige den Wunsch nach minimaler Nachtruhe als Bünzlitum abtun. Die untere Altstadt ist ja auch darum ein lebendiger Perimeter, weil sie bewohnt ist. Noch ist sie deshalb nicht bloss Fassade.
Warum noch?
Ab dem zweiten Stockwerk ist in der unteren Altstadt Wohnnutzung vorgeschrieben, das garantiert auch, dass Bewohnerinnen und Bewohner zu den Gebäuden und den Gassen schauen. Aber in der Altstadt leben will man ja nur, wenn gewährleistet ist, dass aufeinander Rücksicht genommen wird.
Haben Sie den Eindruck, das Leben in der Altstadt nimmt ab?
Nein. Es wohnen recht viele Familien mit Kindern hier, und oft stellen Bewohnerinnen und Bewohner ein Tischchen runter auf die Gasse und essen zusammen. Das ist sehr schön. Wichtig ist aber, dass nicht mit politischen Massnahmen – zum Beispiel durch Verkehrsbeschränkungen – die Zufahrt zur und damit das Leben in der Altstadt zusätzlich erschwert wird. Bei der rot-grünen Mehrheit in der Stadt Bern ist dieses Bewusstsein nicht immer vorhanden. Auch deshalb engagiere ich mich als Stadträtin.
Kann man mit dem Auto zu seinem Haus fahren, wenn man in der unteren Altstadt wohnt?
Natürlich, die Zufahrt ist, ausser bei Grossanlässen, gewährleistet. Auch hier in der Brunngasse haben viele Altstadthäuser Garagen, die teilweise ein paar Stockwerke in die Tiefe reichen.
«Ideal fände ich, wenn das neue Verkehrsregime gassenweise eingeführt würde.»
Die Stadt will in der unteren Altstadt ein neues Verkehrsregime einführen. Zentraler Punkt: Autos sollen im Rathausparking abgestellt werden, damit sie nicht mehr auf der Gasse stehen. Bei Bewohnenden stösst die neue Regelung auf Widerstand und ist deshalb juristisch blockiert. Wie sehen Sie es?
Aus Sicht unseres Leistgebiets brächte die neue Regelung Vorteile. Wir stellen etwa in der Rathausgasse fest, dass die Menschen häufig mitten auf der Strasse gehen und nicht unter den Lauben, weil dort die Restaurants und Bars ihre Aussensitzplätze haben. Das ist konfliktträchtig, vor allem in der Nacht, wenn viele Menschen unterwegs sind. Es kam während der Corona-Zeit vor, dass Brunngass-Anwohnende nachts vorschriftsgemäss durch die Rathausgasse im Auto nach Hause fuhren und von Ausgängern angepöbelt wurden. Das darf nicht sein!
Brächte es Entspannung, wenn die Gassen nicht mehr mit parkierten Autos belegt wären?
Im neuen Verkehrsregime sollen wir als Anwohnerinnen und Anwohner im nicht ausgelasteten, für uns nahegelegenen Rathausparking vergünstigt parkieren können. Für uns brächte das Entspannung, aber nur, wenn dieses Vorzugsangebot auch wirklich von Dauer ist. Anders sieht es bei weiter vom Parking entfernten Gassen aus.
Da gibt es mehr Widerstand.
Ja. Deshalb ist das Vorhaben auch blockiert. Ideal fände ich, wenn das neue Verkehrsregime gassenweise eingeführt würde. Aber das ist wohl Wunschdenken.
Was halten Sie von der Idee des Denkmalpflegers, den 1928 entfernten Brunnen in der Rathausgasse wieder aufleben zu lassen?
In einer idealen Welt wäre der Brunnen sehr schön. Aber der Platz in der Gasse ist halt beschränkt. Viele Leute befürchten zudem, dass die Leute nach Beizenschluss den Ausgang verlängern, auf dem Brunnenrand sitzen und ihre Alkoholika im Brunnen kühlen. Mit all den Auswirkungen. Der Leist organisiert zusammen mit der Stadt demnächst einen Info-Anlass. Die Dimensionen des Brunnens werden vor Ort markiert, damit man sich die Folgen konkret vorstellen kann.
Sie reden Mattenenglisch, nicht wahr?
Mein Vater hat es in die Familie gebracht, und wir haben die Sprache zu Hause, im Bus oder Tram gesprochen, wenn wir nicht wollten, dass uns sonst jemand versteht. Das war auch der Ursprung der Sprache. Kürzlich las ich, dass der frühere Berner Boxer Alain Chervet von seinem Onkel Fritz aus der Ringecke Anweisungen auf Mattenenglisch erhielt. Das hat mich sehr erheitert.
Wann brauchen Sie Mattenenglisch noch?
Beim Höck des Mattenenglischclubs. Und wenn ich mich über etwas oder jemanden ärgere und vor mich hinmurmle. Und Mattenenglisch interessiert: Im Sommer-Ferienpassangebot Fäger für Kinder und Jugendliche schreiben wir dieses Jahr erstmals einen Mattenenglischkurs aus. Wir bekommen laufend Anmeldungen dafür. Is’e innt’che iet’ge!
Wie bitte?
Es chunnt guet.