König*innen – und wir?

Menschen, die sich aufführen wie König*innen, gibt es mehr als genug. Tobias Rentsch, Pfarrer an der Markuskirche, wirft mit der Jotam-Fabel aus dem Alten Testament einen kritischen Blick auf sie. Und auf uns.

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Denkutensilien von Pfarrer Rentsch. (Bild: Silja Elsener)

Die Jotam-Fabel erzählt eine Geschichte, in der sich Bäume treffen, als wären sie Menschen. Sie sind zusammengekommen, weil sie einen von ihnen zum König machen wollen. Als erstes sagt die Bäumeversammlung zum Ölbaum: «Du sollst unser König sein.» Der Ölbaum aber antwortet: «Nein, meine Früchte sind so schön und so nützlich. Ich will mich ihnen widmen, damit sie gut sind für die Menschen und die Götter. Das müsste ich aufgeben, wenn ich König wäre. Sucht euch einen anderen.»

Da wendet sich die Bäumeversammlung dem Feigenbaum zu: «Du sollst unser König sein.» Der Feigenbau winkt ab und erklärt: «Ich müsste meine Süsse aufgeben, wenn ich als König über andere Bäume regieren würde. Das will ich nicht.» Auch der Weinstock lehnt das Angebot, König zu werden, ab. Schlussendlich fragt die Versammlung den Dornbusch, ob er König über die Bäume sein möchte. Und der sagt: «Wenn ihr wirklich mich zu eurem König machen wollt, kommt und sucht Zuflucht in meinem Schatten!»

Untertanen, die Zuflucht unter Dornen suchen – das ist das starke Bild, das die Jotam-Fabel vermittelt. Es klingt nach Schmerz und Verzweiflung. Die alttestamentliche Fabel erzählt von Königen, die ihre Macht nach eigenem Gutdünken ausüben. Einmal eingesetzt, sind sie kaum wieder zu entfernen. Die Schmerzen, die ihre Entscheidungen verursachen, treffen selten sie selbst – sondern meist andere. Ihre Stacheln machen sie zu alles anderem als angenehmen Mitmenschen. Ihre Sicht auf die Welt zieht Bedürfnisse von anderen kaum in Betracht. Das königliche Wort wird zum Gesetz, Widerspruch ist unerwünscht. Ihre Versprechen verblassen schnell. Drohungen folgen rasch. Eigeninteressen werden rücksichtslos bedient.

Das biblische Gegenbild zu König Dornbusch ist Jesus Christus. Der König, der eine Dornenkrone trägt, der aber anderen Menschen dient und nicht sich selbst. Die Dornen seiner Krone sind nicht gegen andere gerichtet, sondern gegen ihn selbst. Der Schmerz trifft nicht das Gegenüber – er trifft den König.

Die Jotam-Fabel, ein uralter Text, ist für mich überraschend aktuell. Natürlich leben wir längst nicht mehr in einer Monarchie. Aber zeitgenössische König*innen und «Möchte-gern-König*innen» gibt es trotzdem. Sie zu finden – diese Aufgabe möchte ich dir, liebe*r Leser*in, nicht abnehmen. Manchmal reicht schon ein Blick in die Zeitung oder ins persönliche Umfeld, um einen König oder eine Königin zu sehen – und mitunter passiert es auch bei einem Blick in den Spiegel.

Tobias Rentsch
Markuskirche
hauptstadt.be
© Danielle Liniger
Der Autor

Tobias Rentsch ist Theologe und Pfarrer in der reformierten Kirchgemeinde Bern-Nord und arbeitet hauptsächlich in der Markuskirche. Die Markuskirche wird derzeit unter dem Namen Bimbam Bern unkonventionell zwischengenutzt. In dieser Kolumne für die «Hauptstadt» verbindet Rentsch, der einst eine Lehre als Chemielaborant machte, Alltagsbetrachtungen mit seinem theologischen Background.

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