«Sdrastwujte» am Uferweg
Fast dreihundert Menschen aus der Ukraine bewohnen eine Überbauung in Burgdorf, bis Ende Jahr die Bagger kommen. Zu Besuch in einer Zwischenlösung.
Die Bauprofile stehen schon am Uferweg. Wie ein Mahnmal an die tatsächliche Durchführbarkeit von langfädigen Bauprojekten wirken sie, die schmalen Metallstangen mit den Winkeln am oberen Ende. Sie überragen die Dächer der alten Wohnblöcke meterhoch, und teilen mit: Nun wird wirklich bald gebaut hier.
Zahlreiche Wohnungen der Überbauung am Stadtrand von Burgdorf standen bereits leer, waren vom Strom genommen, Kühlschränke und dergleichen ausgebaut. Die Pensionskasse Previs plant den Neubau schon lange. Für den Sommer 2022 schien der Baustart endlich gesichert. Und verzögerte sich dann doch noch einmal um einige Monate.
Wie eine kleine Ukraine
An einem Fenster kleben zwei bunte A4-Blätter: blau über gelb. Unweit fliesst gemächlich die Emme vorüber, begradigt und klar lädt sie zum Baden ein.
Die ukrainische Flagge ziert auch die Nummernschilder fast sämtlicher Autos, die zwischen Flussufer und bröckelnden Hausfassaden geparkt sind: UA, blau über gelb.
«Es ist wie eine kleine Ukraine in der Schweiz», sagt Viktoriia Potii und lacht. Ein Mädchen mit Schulrucksack und Leuchtweste düst vorbei und grüsst auf Russisch – die Muttersprache vieler Ukrainer*innen. Drei Kinder, die dem Mädchen mit dem Fahrrad hinterherjagen, tun es ihr gleich. «Überall sdrastwujte, sdrastwujte, sdrastwujte. Es ist komisch.»
Viktoriia Potii lebt seit drei Monaten in der Schweiz. Gemeinsam mit ihrer Tochter und der Schwiegermutter ist sie hierher geflohen, «weil ich gehört habe, dass die Luftschutzbunker so sicher sind». Sie kamen bei einer Gastfamilie in Burgdorf unter. Jetzt haben sie eine Wohnung hier im Quartier gefunden – nicht in den alten Blöcken am Uferweg, sondern in den neueren gleich nebenan. Die werden nicht abgerissen.
Am Uferweg ist Viktoriia Potii trotzdem fast täglich. Sie besucht Menschen, die da wohnen, oder übersetzt bei der Kleiderausgabe, die dreimal wöchentlich in einem kargen Erdgeschoss an der Nummer 24 stattfindet. Im ostukrainischen Sumy hat Viktoriia Potii Deutsch studiert. Das erleichtert ihr und vielen anderen hier den Alltag. «Es ist schön, dass wir hier in diesem Quartier so viele sind», sagt sie etwas verlegen und versteckt ihr Gesicht für einen kurzen Moment hinter den langen, schwarzen Haaren.
Neues Leben in alten Blöcken
Die Pensionskasse Previs musste den Baustart noch einmal um einige Monate verschieben, und in der Ukraine zeichnete sich ab, dass ein baldiges Ende des Krieges nicht zu erwarten war.
Also wurden kurzfristig bereits vom Strom genommene Wohnungen wieder aufgerüstet. Auf Anfrage des kantonalen Amtes für Integration und Soziales stellte die Previs ihre Wohnblöcke am Uferweg ein weiteres Mal zur Zwischennutzung zur Verfügung.
Bereits seit 2020 waren die Wohnungen zum Teil für die Unterbringung von Asylsuchenden genutzt worden – immer mit der Deadline des nahenden Baustarts.
Jetzt wurde mit der Wiederinbetriebnahme der leerstehenden Wohnungen die Kapazität der Gebäude fast verdoppelt. Der Kanton betraute die ORS Service AG mit dem Betrieb, und an einem Montag Mitte März bezogen die ersten 180 Menschen aus der Ukraine die Häuser am Uferweg im Burgdorfer Gyrischachen-Quartier. Drei Monate später sind es rund 300 Ukrainer*innen, fast die Hälfte davon Kinder, die dem Gyrischachen neues Leben einhauchen.
«Eine Hauruck-Übung»
«Ich habe – wie die allermeisten Menschen in Burgdorf – aus den Medien erfahren, dass so viele Menschen aus der Ukraine an den Uferweg kommen», sagt Regula Etzensperger. Sie ist Quartierarbeiterin im Gyrischachen.
Auf Rattanmöbeln hinter einer langen Fensterfront sitzt sie zusammen mit Christine Schneider im Quartierzentrum «Gyriträff». Früher war hier eine Volg-Filiale. Seit zehn Jahren wird der Raum von der reformierten Kirche Burgdorf für die Quartierarbeit genutzt. Er ist eine ruhige Nische, eingebettet inmitten der rund fünfzehn Wohnblöcke, die zusammen den Gyrischachen bilden – das Quartier, das in Burgdorf für tiefe Mieten und einen hohen Migrationsanteil bekannt ist.
«Nachdem wir erst knapp vor der Ankunft der ersten Menschen davon erfuhren, wurde es kurz turbulent hier», sagt Regula Etzensperger. Zusammen mit Freiwilligen wie Christine Schneider organisierte sie eine Kleiderausgabe für die Neuangekommenen, übersetzte Merkblätter, und beantwortete vor allem unzählige Fragen. «Abfallentsorgung, Öffentlicher Verkehr, Haftpflichtversicherung – das Leben in der Schweiz ist kompliziert», sagt sie. «Ich merkte schnell, dass viele kaum informiert waren.»
Damit kritisiert sie implizit die ORS Service AG, die für die Betreuung der Schutzsuchenden am Uferweg zuständig ist.
Wenn sie sich von der privaten Firma, die für zahlreiche Kantone Asylunterkünfte führt, etwas wünschen könnte, dann wäre es mehr Bereitschaft zur Kooperation, sagt Regula Etzensperger. «Die reformierte Kirche Burgdorf leistet hier im Gyrischachen seit 44 Jahren Quartierarbeit. Wir haben einen reichen Erfahrungsschatz, von dem auch die ORS profitieren könnte.»
Stattdessen werde sie von der Firma geflissentlich ignoriert – und dann und wann sogar in die Schranken gewiesen. Es sei nicht erwünscht, dass sie Tätigkeiten übernehme, die nach Wahrnehmung der ORS in deren Aufgabengebiet falle.
«Das ist schade, eigentlich könnten wir einander unterstützen», sagt Regula Etzensperger, und fügt an: «Denn, dass das mit den 300 Leuten aus der Ukraine eine Hauruck-Übung war, das ist spürbar.»
Wer darf bleiben?
So habe es etwa auch Ungereimtheiten gegeben gegenüber bisherigen Bewohner*innen – Menschen aus dem Asylbereich aus anderen Herkunftsländern – die offenbar gedrängt wurden, ihre Wohnungen zu räumen, um den ukrainischen Personen Platz zu machen.
Die Migrationsfachfrau Anette Vogt weiss hierzu mehr zu erzählen. Als Mitglied der Ukraine-Taskforce der Stadt Burgdorf war sie nahe am Geschehen dran: Die Menschen, die noch in den Asylwohnungen am Uferweg wohnten, seien mit einem knapp und unpersönlich gehaltenen Brief darüber informiert worden, dass sie ihre Wohnungen verlassen und entweder zurück in die nächstgelegene Kollektivunterkunft Schafhausen ziehen oder aber innert kurzer Frist eine eigene Wohnung finden müssen.
«Da habe ich zusammen mit anderen Akteuren in der städtischen Taskforce interveniert. Denn diese Ungleichbehandlung war nicht zu begründen», sagt Anette Vogt am Telefon.
Die ORS schwächte daraufhin ihr Vorgehen leicht ab: Bewohner*innen, die noch im Asylverfahren waren, wurden in die Kollektivunterkunft Schafhausen zurück umquartiert. Solchen mit abgeschlossenem Asylverfahren (F- oder B-Ausweis) wurde bloss empfohlen, sich eine eigene Wohnung zu suchen. Zum Auszug gezwungen wurden sie jedoch nicht.
Schliesslich merkt Regula Etzensperger an: Um die Ankunft von so vielen Menschen zu koordinieren, habe die ORS schlicht zu wenig Personal. «Die Mitarbeitenden machen das Möglichste, aber die Rahmenbedingungen sind schwierig. Deshalb sind viele Bewohner*innen kaum informiert über wichtige Dinge wie etwa Versicherungen oder das Gesundheitssystem», sagt sie. Dann klingelt ihr Telefon, sie verschwindet ins Büro.
Wir haben die ORS Service AG mit den Vorwürfen von Seiten der Quartierarbeit konfrontiert. Das sind ihre Standpunkte…
… zur mangelnden Kooperationsbereitschaft:
ORS arbeitet in Burgdorf sehr eng mit den lokalen Partnern zusammen. Im Sinne einer «Ukraine-Taskforce» gab es einen runden Tisch mit der Stadt Burgdorf. Diese enge Kooperation funktioniert sehr gut. Mit Vertretenden der Freiwilligenorganisationen treffen sich ORS-Vertreter regelmässig und auch hier funktioniert die Zusammenarbeit einwandfrei. Wie eng die Kooperation ist, zeigt auch, dass in den Unterkünften, die ORS betreibt, die Freiwilligengruppen über ihr Angebot laufend informieren.
… zum Druck auf bisherige Bewohner*innen, ihre Wohnungen zu räumen:
Vor der Ukraine-Krise plante der Vermieter der Unterkünfte am Uferweg in Burgdorf, diese per Ende Juni 2022 abzubrechen. Klienten mit Status «vorläufig aufgenommen» und B suchten mit Unterstützung deshalb eine eigene Mietwohnung. Klienten mit Status N wurden wieder in Schafhausen untergebracht (diese dürfen nicht in privaten Wohnraum umziehen). Der Krieg in der Ukraine und der grosse Flüchtlingsansturm veränderten die Lage dramatisch: Die Vermieterschaft am Uferweg zeigte ein grosses Entgegenkommen – der Abbruch der Unterkünfte wurde verschoben, um die Ukraine-Flüchtlinge unterbringen zu können. ORS hat alle Klienten korrekt und rechtzeitig informiert und das Vorgehen eng abgestimmt.
… zum Personalmangel:
ORS hat ausserordentlich grosse Anstrengungen vorgenommen, um genügend Personal zur Bewältigung der Ukraine-Krise zu haben. Dank der grossen Agilität hat ORS spezielle Teams gegründet, die sich ausschliesslich und spezialisiert um die Flüchtlinge aus der Ukraine kümmern.
Im Park
«Es braucht definitiv viel Eigeninitiative, um sich hier zurecht zu finden», sagt Tatjana Zinoveva. Oft habe sie schlicht und einfach gegoogelt, um an notwendige Informationen zu gelangen, oder sich über Chats informiert, in denen ukrainische Geflüchtete sich austauschen. Die ORS sei sehr schwer zu erreichen bei offenen Fragen – dafür habe sie eindeutig zu wenig Personal.
Tatjana Zinoveva teilt sich eine Wohnung am Uferweg mit ihren zwei Kindern und fünf Bekannten, die gehörlos sind. Fünf Zimmer, jeweils zu zweit ein Schlafzimmer. Daneben leben auch ihre Mutter und deren Ehemann.
«Besonders schwierig ist es natürlich für Menschen mit Behinderungen», sagt sie auf Russisch und setzt sich auf eine schattige Bank im Park neben den Wohnblöcken. Etwa, um Arbeit zu finden oder Übersetzer*innen, die Gebärdensprache beherrschen.
Viktoriia Potii setzt sich daneben, übersetzt auf Deutsch. Frauen jeden Alters führen hier ihre Kinder und Hunde spazieren. Zwei Teenager teilen sich einen E-Scooter, die hintere krallt sich an der Fahrerin fest, deren Haare ihr ins Gesicht flattern. «Privjet!» – Russisch für «Hallo», rufen beide im Chor, vorbeirasend. Es riecht von unbekannter Richtung her nach Marihuana.
Noch einmal die Frage: Wie ist es, dass hier so viele Menschen aus der Ukraine zusammen an einem Ort leben?
Eine dritte Frau hört mit, sie war daneben über ein Arbeitsblatt mit deutschen Vokabeln gebeugt. «Aljona», stellt sie sich vor, und antwortet spontan: «Es ist schön. Natürlich ist es schön, weil wir unsere Sprache sprechen können. Uns treffen, austauschen, unsere Kinder können zusammen spielen. Aber für das Leben hier, längerfristig, ist es nicht förderlich. Wir müssten in einer Umgebung leben, wo wir mehr mit Schweizer Leuten in Kontakt kämen.» Dann lacht sie und sagt: «Und wir sind zu laut. Unsere Kinder sind zu laut. Es wäre stiller, wenn wir nicht alle am selben Ort wären.»
Auch die anderen beiden Frauen lachen. Ja, dass hier um 10 Uhr Ruhe sein muss und die Eltern ihre Kinder um 9 Uhr schon zu Bett bringen, daran müsse man sich erstmal gewöhnen. In der Ukraine rede vor 11 Uhr abends niemand von Nachtruhe.
Mikrokosmos Gyrischachen
Zurück im Quartiertreff. Reklamationen, ja klar, die gebe es immer, sagt Regula Etzensperger. Aber nicht im grossen Stil.
Spannungen zwischen albanischen und ukrainischen Jugendgruppen. Ein beschädigtes Velo, ein geklautes Velo. Der Nachbar, der nicht mehr in Ruhe auf dem Balkon essen könne, wegen der lauten Kinder im Park.
«Ich bin natürlich die Sammelstelle für Reklamationen», sagt die Quartierarbeiterin. Aber grundsätzlich, und das habe sich in den sieben Jahren, die sie hier schon arbeitet, nicht verändert, grundsätzlich lebten die Menschen gerne im Gyrischachen.
«Die Aussen- und die Innensicht stimmen für dieses Quartier nicht überein», sagt sie. Während der Gyrischachen für manche Burgdorfer*innen fast schon als «Slum» gelte, sei er für die meisten Menschen, die hier leben, ein friedlicher Ort und eine attraktive Wohnlage ebenso.
Abgegrenzt durch eine Bahnlinie, einen Wald und die Emme ist der Gyrischachen ein kleiner Kosmos für sich. Neben dem Quartierzentrum steht ein Kindergarten, weiter hinten eine Spielgruppe mit Fokus Deutschförderung, und sogar zwei Badis stehen hinter akkurat gestutzten Buchshecken den Bewohner*innen zur Verfügung.
Eine, die das alles schon lange zu schätzen weiss, ist Christine Schneider. Die Rentnerin lebt seit 45 Jahren im Quartier. Seit März packt sie tatkräftig an bei der Kleiderausgabe am Uferweg und übernimmt auch andere Freiwilligendienste im Quartiertreff.
Von Reklamationen will sie nicht viel wissen. «Vermittlung und Toleranz sind hier wichtig.» Und das «Natel», mit dem sie Gott sei Dank übersetzen könne. «Bei Generationenkonflikten muss ich auch schauen, dass ich mich nicht von einer Seite instrumentalisieren lasse», sagt Christine Schneider und erzählt, wie ein anderer Rentner sich über den Lärm beklagt habe mit der Hoffnung, sie würde sich auf seine Seite schlagen.
Da habe der dann schnell merken müssen, dass er bei einer pensionierten Lehrerin an der falschen Adresse sei, um sich über Kindergeschrei zu beklagen.
Nein, alles in allem müsse man wirklich sagen, es ist extrem friedlich hier im Gyrischachen. Und viele alteingesessene Bewohner*innen würden sich freuen, dass die alten Blöcke am Uferweg noch einmal so belebt seien.
«Deshalb ist es auch möglich, plötzlich 300 neue Personen zu beherbergen, ohne dass es im Chaos endet», sagt Regula Etzensperger und nimmt einem älteren Mann einen Sack mit Kleiderspenden ab.
Eine kurze Episode
Dass Ende Jahr schon wieder fertig sei, das hätten sie anfangs nicht gewusst, sagt Tatjana Zinoveva draussen im Park. «Es ist schade. Viele Menschen haben sich jetzt hier eingerichtet, haben Möbel gekauft, ihre Kinder eingeschult. Erst nach einem Monat erfuhren wir, dass die Häuser Ende Jahr abgerissen werden.» Sie sucht nun, genau wie Aljona und viele andere Bewohner*innen, nach einer neuen Bleibe. Andere rechnen damit, noch vor Ende Jahr wieder in die Ukraine zurückkehren zu können.
Tatjana Zinoveva und Aljona sind sich einig: Die Wohnungen am Uferweg sind gut. Klein, aber fein, ruhig, friedlich. Wenn sie könnten, würden sie gerne vorerst bleiben.
Dass die Bauten aus den frühen sechziger Jahren heutigen Standards nicht mehr genügen würden und deshalb abgerissen werden, das erstaunt die beiden Frauen. Auch, dass manche Menschen dieses Quartier zuweilen als gefährlich oder gar als «Slum» bezeichnen.
Sie lachen und schauen sich um. Es ist ruhig an diesem Vormittag im Gyrischachen. Nur ein Fadenmäher surrt in der Ferne. Die Metallstangen der Bauprofile ragen hinter den Dächern hervor. Sie schwanken leicht im Wind.
Bereits jetzt verringert sich die Anzahl der ukrainischen Bewohner*innen langsam wieder. Einige kehren in die Heimat zurück. Andere finden längerfristige Wohnungen.
Langsam, aber sicher werden ukrainische Wortfetzen und Kindergeschrei von Baulärm abgelöst werden. Dann startet der Uferweg in ein neues Kapitel.