Das grosse Dilemma
Seit Jahrzehnten ächzt Oberburg unter dem Verkehr. Im März wird im Kanton über eine Umfahrung abgestimmt. Löst sie das Problem? Eine Rückkehr an die Emmentalstrasse.
Als Kind sass ich oft bei meiner Grossmutter am Fenster. Jeden Tag um halb fünf staute sich vor ihrem Haus an der Emmentalstrasse in Oberburg der Verkehr. Im Schritttempo rollten die Fahrzeuge vorbei, hielten an, rollten wieder. Eine schier endlose Lawine.
30 Jahre später stauen sich die Autos noch immer. 19’000 Fahrzeuge sind es zu Spitzenzeiten pro Tag. Viele Lastwagen. Ihre kräftigen Motoren sorgen für die hohe Lärmbelastung. An der Emmentalstrasse leben überdurchschnittlich viele Menschen in wirtschaftlich bescheidenen Verhältnissen, das Sozialamt hat Dutzende Wohnungen angemietet. Viele Häuser sollten eigentlich saniert werden – doch die Besitzer*innen warten zu. Oder, wie die Oberburger SP-Gemeinderätin Barbara Stöckli sagt: «Wer kann, zieht weg. Es bleibt nur, wer sich keinen anderen Ort leisten kann.»
Vielleicht wird das bald anders. Am 12. März stimmen die Berner Stimmberechtigten über zwei von langer Hand geplante Umfahrungen ab, die Umfahrung Aarwangen und die Umfahrung Emmental in Oberburg. Aarwangen soll knapp 194 Millionen Franken kosten, Emmental 424 Millionen Franken. Es sind nicht nur finanziell riesige Projekte, sie wurden auch über Jahrzehnte diskutiert. Es begann in den 1970er Jahren, als Umwelt- und Wachstumsfragen höchstens eine Minderheit interessierten. Über die Jahrzehnte wurden Projekte verworfen, redimensioniert, neu geplant. So weit wie jetzt war die Planung noch nie.
Wohin entwickelt sich die Gesellschaft?
Doch so umstritten waren Verkehrsvorhaben auch noch nie. Nach Protestaktionen der Anwohner*innen wurde das Bieler Autobahnprojekt Westast im Jahr 2020 sistiert. Beim geplanten Ausbau der Autobahn im Grauholz auf acht Spuren gibt es seit letztem Herbst Widerstand von ungewohnter Seite: Auch verkehrsbelastete, bürgerliche Gemeinden wie Zollikofen, die davon profitieren würden, haben Einsprache erhoben. Der Strassenausbau für den Individualverkehr ist nicht mehr so selbstverständlich wie früher.
Bei den beiden Umfahrungen in Oberburg und Aarwangen geht es auch um Grundsätzliches. Können solch grosse Strassenausbauten in Zukunft noch umgesetzt werden? Lösen sie ein Problem oder verlagern sie es bloss? Wohin wird sich unsere Gesellschaft angesichts der Klimakrise entwickeln? Und nicht zuletzt: Welche Rolle spielt die Solidarität zwischen Stadt und Land?
In Oberburg zeigt sich dieses grosse Dilemma, vor dem auch die Agglomeration Bern steht, exemplarisch. Um alle Seiten davon zu verstehen, kehre ich nach 30 Jahren zurück an die Emmentalstrasse.
Der Hochnebel verfliesst mit dem Grau der Strasse und dem schmutzig wirkenden Farbton der Häuser. Die Fussgängerampel an der Löwenkreuzung steht auf Rot. Ein Vater stülpt den Kragen hoch und hält sein Kind fest an der Hand. Als es endlich Grün wird, zieht er es energisch mit sich, die Grünphasen sind kurz.
Die Löwenkreuzung ist seit jeher Sinnbild für die Verkehrsüberlastung in der Region. Hier kommen die Strassen aus Hasle, Burgdorf und Krauchthal zusammen. Um ins Emmental hinein oder aus dem Emmental hinaus zu fahren, findet man keine anderen Möglichkeiten in der Nähe. Ein Nadelöhr.
«Das Pendeln ist schwierig», sagt Patrick Nottaris. Der 48-Jährige ist Chef der Firma Nottaris, die seit 180 Jahren Gullydeckel für Kund*innen in der ganzen Schweiz herstellt. Er führt in die Büros des Industriebetriebs im 1. Stock, durch die Fenster sieht man direkt auf die Löwenkreuzung. «Wir kennen es nicht anders», sagt Nottaris, «wir haben uns angepasst».
Wird auch wirklich gebaut?
Die meisten Angestellten von Nottaris beginnen vor 6.45 Uhr morgens mit der Arbeit und machen vor 16 Uhr Feierabend. So dass sie das tägliche Verkehrschaos umgehen können. Viele der rund 50 Mitarbeiter*innen wohnen nicht in Oberburg, sondern kommen aus der ganzen Region zwischen Langnau, Huttwil, Lyss und Aarwangen. «Wenn ich neue Angestellte suche, dann überlegen die sich gut, ob sie wirklich nach Oberburg pendeln wollen», sagt der Firmenchef. Auch er selber sei aus diesem Grund nur ins benachbarte Hasle und nicht tiefer ins Emmental gezogen.
Patrick Nottaris betont, dass er klar für die Umfahrung sei. «Aber ich glaube nicht daran, dass sie jemals gebaut werden wird.» Zu lange dauere das Ganze schon, zu oft sei eine Option wieder verworfen worden. Zu ungewiss scheint ihm der Weg noch, bis die Umfahrung gebaut sein könnte. «Dann werde ich schon pensioniert sein.» Er zeigt jetzt mit dem Finger nach unten. «Natürlich bin ich dafür, der Tunnel würde ja direkt unter unserer Giesserei durchführen. Ich habe zugestimmt.»
Tatsächlich soll ein Tunnel die Emmentalstrasse entlasten. Er würde kurz vor der Ortseinfahrt aus Richtung Burgdorf abtauchen und gegen Ende Dorf Richtung Hasle wieder in die Emmentalstrasse führen. Es ist die grösste und kostspieligste Massnahme der Umfahrung Emmental, zu der auch eine Bahnunterführung in Burgdorf und eine kleine Umfahrung in Hasle gehören. Zu teuer, sagen Kritiker*innen. Der zuständige Regierungsrat Christoph Neuhaus (SVP) betonte an der Medienkonferenz zum Auftakt des Abstimmungskampfs, das Vorhaben habe «in den ordentlichen Budgets Platz».
Gleichzeitig mit dem Tunnel soll der Bereich rund um die Löwenkreuzung verkehrsberuhigt werden. Die Lebensqualität soll steigen. Für die für Verkehr zuständige SP-Gemeinderätin Barbara Stöckli ist das eines der Hauptargumente für die Umfahrung. Sie zeigt auf die Plakate, die am Gemeindehaus, das ebenfalls an der Löwenkreuzung steht, flattern. «Wir müssen auf diese Abstimmung aufmerksam machen, sie ist so wichtig für uns – und ich glaube, im Rest des Kantons interessiert sie weniger.»
Braucht es den Tunnel?
Am meisten noch bei Umweltverbänden und linken und grünen Parteien – ein Nein-Komitee wehrt sich gegen die «Megastrassen». Die Umfahrungsstrassen seien «ein Raubzug auf die Kantonskassen – auf Kosten von wertvollem Ackerland, Umwelt und Klima.» Der VCS zum Beispiel schlägt vor, auf der Emmentalstrasse Tempo 30 und verkehrsberuhigende Massnahmen einzuführen – und nur die Bahnunterführung in Burgdorf zu bauen. Das wäre viel billiger und schneller umzusetzen. Linderung für die Menschen an der Emmentalstrasse würde diese Massnahme allerdings kaum bringen.
Und sowieso, ist es so einfach, Barbara Stöckli? Die SP-Frau, die in Jegenstorf aufgewachsen ist und an der ETH in Zürich Umweltwissenschaften studiert hat, lacht. «Natürlich nicht!» Dann wird sie sofort wieder ernst. «Die Realität zeigt: Wir wachsen weiterhin, der Verkehr nimmt zu – und der politische Wille, die Leute weg vom Individualverkehr hin zum öffentlichen Verkehr zu bringen, fehlt.» Auch aus diesen Gründen sei sie für die Umfahrung, meint sie pragmatisch. Für sie ist es schlicht nicht denkbar, dass der Verkehr durch das Nadelöhr ohne Umfahrung abnehmen kann.
Der Oberburger Gemeinderat, zusammengesetzt aus je zwei Mitgliedern von SP und der Unabhängigen Ortspartei (UOP) sowie drei SVPler*innen, ist geschlossen für die Umfahrung. Die Oberburger SP hingegen ist gespalten. «Das Projekt ist sehr umstritten, wir haben heftig diskutiert», sagt Barbara Stöckli, die seit zwei Jahren im Gemeinderat sitzt und seit 18 Jahren im Dorf wohnt.
Werden die Gräben bleiben?
Noch kann sie nicht sagen, wie tief die Gräben innerhalb der lokalen SP bleiben werden. «Das kommt auch darauf an, wie bei Annahme der Vorlage die Dorfgestaltung sein wird – ob sich die Situation für die Menschen an der Emmentalstrasse wirklich verbessert.» Mit ihrer Zustimmung exponiert sich Barbara Stöckli innerhalb ihrer Partei. Doch das schreckt sie nicht: «Ich sehe einfach, dass es für dieses Problem keine andere Lösung gibt.»
Die Umweltwissenschaftlerin hat den 413-seitigen Umweltprüfungsbericht der Umfahrung Kapitel für Kapitel gelesen. «Das Projekt besteht die Prüfung, der Tunnel greift wenig in die Natur ein, für das Grundwasser gibt es kein Problem, es gibt Kompensationsmassnahmen», sagt sie.
Und was ist angesichts des Klimawandels, angesichts der grauen Energie für den Bau, findet sie dieses Projekt wirklich zukunftsträchtig? Barbara Stöckli antwortet nicht sofort, überlegt erst. Das sei eine schwierige Frage, meint sie schliesslich. Die persönliche Betroffenheit spiele da mit hinein. Was sie aber manchmal nerve, sei Folgendes: «Wenn ich durch ein linkes, verkehrsberuhigtes Quartier in Bern spaziere, die Peace-Fahnen sind rausgehängt, und ich genau weiss, dass die Leute hier sagen, die Umfahrung braucht es nicht. Diese Menschen wissen gar nicht, was sie haben und was uns fehlt.»
Josef Jenni lebt und arbeitet seit 1983 in Oberburg. Er gilt als Solarpionier, hat die Jenni Energietechnik AG gegründet und sass von 2006 bis 2012 für die EVP im Grossen Rat. «Schon 1983 haben sie uns mit dem Argument hierher gelockt, dass bald eine Umfahrung gebaut werde», sagt er. Er ist froh, dass es sie nicht gibt. «Natürlich, der Verkehr ist lästig, die Strasse ist ein Nadelöhr – aber der Bau einer Umfahrung wäre ein absolutes Verkennen der Herausforderungen der heutigen Zeit», sagt Jenni. Damit meine er die aktuelle Klimaentwicklung und auch die finanzielle Situation des Kantons, der doch jetzt andere Prioritäten haben sollte. «Der Bau von neuen Strassen führt zu Mehrverkehr. Wenn wir kürzere Fahrzeiten haben, pendeln wir einfach weiter», sagt er. «Der Verkehr würde sich in der Folge einfach beim nächsten Flaschenhals in Burgdorf stauen.»
Auch für seine Firma, die eine Flotte von 30 Fahrzeugen für den Kundenservice hat, hätte eine Umfahrung vordergründig Vorteile. «Wir könnten dann dank kürzerer Fahrzeit auch Aufträge aus Zürich annehmen, von wo wir viele Anfragen haben», sagt er. Doch für ihn sei der Bau dieser Umfahrungsstrasse «eine völlig falsch gesetzte Priorität».
Kurz nach dem Mittag an der Löwenkreuzung, die Autos stauen sich aus Richtung Hasle an der roten Ampel. «Ein kleiner Peak», sagt Barbara Stöckli, «die Leute kommen vom Mittagessen zurück.» Fussgänger*innen sind nur wenige unterwegs, die meisten steuern die Confiserie Neuhaus auf der anderen Strassenseite an. Die Confiserie mit integriertem Café gibt es seit über 60 Jahren, sie ist weitherum bekannt für ihre selbstgemachte Schokolade und für ihre Spezialität: Die Oberburgerli, ein ovaler Traum aus Schokolade, Biscuit- und Krokantschichten.
Ruedi Neuhaus hat die Unternehmung in zweiter Generation geführt und sie vor kurzem an die dritte Generation, seine Kinder Patrick und Sarah, übergeben. «Die Strasse stört uns eigentlich nicht», sagt er. Er wuchs in der Wohnung oberhalb der Confiserie auf. Vor einigen Jahren ist er mit seiner Familie zwar weggezogen – aber doch an der Emmentalstrasse geblieben, er wohnt jetzt einfach weiter oben im Dorf.
«Wir haben gute Fenster, da hört man nichts vom Verkehr», sagt er. Für die Umfahrung ist er trotzdem. «Es wäre ruhiger zum Wohnen und angenehmer für unsere Kundschaft.» Angst, dass die Confiserie an der verkehrsberuhigten Strasse weniger Umsatz machen würde, hat Neuhaus nicht. «Ob jetzt 10’000 oder 5000 Autos am Tag vorbeifahren – es kommen trotzdem nicht mehr Kunden», sagt er. Viele der Stammkund*innen aus Burgdorf nähmen in letzter Zeit den Weg zur Confiserie nicht mehr auf sich. «Warum auch, wenn man für einen fünfminütigen Weg eine halbe Stunde braucht und nach dem Einkauf fast nicht mehr wieder auf die Strasse kommt?», fragt er rhetorisch. Nach seinem Bauchgefühl habe der Verkehr in den letzten fünf Jahren zugenommen. «Jetzt stehen sie bis nach Burgdorf.»
Stehen werden die Autos noch lange an der Emmentalstrasse in Oberburg – auch wenn das Volk im März Ja sagt zur Umfahrung. Laut Projektwebsite würden die Bauarbeiten «ungefähr ab 2025» starten. Der Tunnel wird, wenn überhaupt, für die künftigen Generationen gegraben.