Viel Dankbarkeit und einige Schlägereien
Die Zahl der unbegleiteten minderjährigen Flüchtenden ist stark gestiegen. Die Stiftung Zugang B, die diese Jugendlichen im Kanton Bern betreut, läuft am Anschlag. Ein Besuch in Huttwil.
An der Wandtafel hängen grüne Poster. Die Wörter «Boxen», «Tanzen», «Kochen» und «Cricket spielen» sind eingekreist. Darum herum stehen weitere Wörter, die mit den Aktivitäten zu tun haben. Sechs afghanische Jungs sitzen vornübergebeugt an Schultischen und füllen Arbeitsblätter aus. Anhand ihrer Hobbys lernen sie Deutsch. Sie alle sind ohne erwachsene Begleitung in die Schweiz geflüchtet, haben Asyl oder eine vorläufige Aufnahme erhalten und sind nun Teil einer Alphabetisierungsgruppe im Ankunftszentrum auf dem «Campus Perspektiven» in Huttwil.
Das Angebot ist Teil der Tagesstruktur. Aktuell werden im ganzen Kanton 270 Jugendliche an drei Standorten in einer Art Integrationsschule betreut. Sie ist das Herzstück des Angebots, das die Stiftung Zugang B im Auftrag des Kantons Bern für unbegleitete Minderjährige aufgebaut hat. Die «Hauptstadt» konnte in Huttwil hinter die Kulissen der Betreuungsinstitution schauen. Über den Winter wurde die Zahl der Mitarbeitenden im Schnellverfahren verdoppelt. Und noch immer läuft der Betrieb am Limit.
Im vergangenen Jahr ist die Zahl der Minderjährigen, die ohne Begleitung in der Schweiz um Asyl ersuchen, in die Höhe geschnellt. Allein in den Monaten Oktober bis März musste der Kanton Bern 249 Jugendliche von den Bundesasylzentren übernehmen. Sie machen derzeit ein Viertel der in Bern aufgenommen Geflüchteten aus. Die allermeisten Jugendlichen stammen aus Afghanistan, sind männlich und 16 oder 17 Jahre alt. Sie alle dürfen als anerkannte Flüchtlinge oder vorläufig Aufgenommene in der Schweiz bleiben und kommen aufgrund ihrer Kinderrechte in ein intensiveres Betreuungs- und Integrationsprogramm als erwachsene Geflüchtete.
Die Stiftung Zugang B betreut derzeit über 500 junge Menschen. Dabei war der Betrieb gemäss Konzept ursprünglich auf 150 Plätze ausgelegt. In Huttwil hat die Stiftung auf einem Sportgelände eine Tagesstruktur und ein Ankunftszentrum mit aktuell über 50 Jugendlichen eingerichtet. An anderen Standorten betreibt sie acht weitere Wohnheime. Dazu kommen Speziallösungen für besonders vulnerable Jugendliche sowie Platzierungen in Wohngruppen, Pflegefamilien und bei Verwandten.
In der Alphabetisierungsklasse spricht die Lehrerin die Wörter, die die Jungs auf ihre Arbeitsblätter geschrieben haben, immer wieder laut aus und erklärt sie: «Turnen ist das gleiche wie Sport.» Beim einen Jungen, der erst seit drei Tagen in der Klasse ist, lobt sie die schöne, ausgeprägte Schrift. «Er kann wohl schnell in eine nächste Klasse wechseln.» Einer der Jungen schaut kurz zum Fenster hinaus. Draussen auf dem Fussballfeld spielt eine andere Klasse Frisbee.
Die Jugendlichen sind motiviert
Es wird hier mehr Sport unterrichtet als an Regelschulen: Zweimal pro Woche ein halber Tag. «Sport ist sehr wichtig in der Tagesstruktur», erklärt Leiterin Sabine Aeschlimann. «Er beruhigt sehr, sofern er gut angeleitet ist». Für die Sportstunden kommen auch Jugendliche aus den Standorten Wiedlisbach und Münsingen auf den Campus. Früher war sogar noch mehr Sport im Programm der Tagesstruktur. «Aber es wurde zu viel, denn die Jungen wollen ja vor allem Deutsch lernen», sagt Aeschlimann.
Die Jugendlichen seien sehr motiviert. «Sie sagen: ‹Endlich haben wir Schule.› Und sie sind stolz darauf.» Das motiviere auch die Lehrpersonen. Man spüre viel Dankbarkeit bei den Jugendlichen, das zeige sich an der grossen Hilfsbereitschaft. «Die Tafel wird immer geputzt, man muss keine schweren Taschen tragen, die Türe wird uns aufgehalten.»
Die Zeit, in der Aeschlimann und ihre Kolleg*innen die Jugendlichen schulisch bilden und zu deren Integration in der Schweiz beitragen können, ist kurz. Die meisten sind rund 16 Jahre alt, wenn sie ankommen. Sobald sie volljährig sind, werden sie anderen Asylorganisationen übergeben und in andere Unterkünfte verlegt. «Wir versuchen, sie schulisch so schnell wie möglich fit zu machen und geben ihnen Alltagskompetenzen mit», sagt Aeschlimann. Zum Beispiel, wie man sich im Bus verhält.
Täglich um 9 Uhr kommen die Jugendlichen zur Schule, machen von 12 bis 13.15 Uhr Mittagspause und lernen dann weiter bis 16 Uhr. Hauptsächlich Deutsch, ein wenig Mathematik und Fächer wie Kochen, Malen und Nähen.
«Diese Tagesstruktur zu stemmen, ist derzeit ein Kraftakt sondergleichen», sagt Lukas Zürcher. Er ist der Co-Geschäftsführer von Zugang B. Der schulähnliche Alltag sei ein tragender Pfeiler in der Betreuung der Minderjährigen. Das gebe den Jugendlichen Struktur, Sicherheit, Sinn und sie seien abends «rechtschaffen müde». «Auf diese Weise fördert die Tagesstruktur auch das friedliche Miteinander im Wohnalltag», sagt Zürcher. Er meint damit: Fehlt diese Verbindlichkeit, dann steigt die Unzufriedenheit, es kommt zu Konflikten und ab und zu auch zu Schlägereien.
Die Sprache ist für die Arbeit der Betreuer zentral
Hassan Ali, der Leiter der Unterkunft, bespricht im kleinen Betreuerzimmer des Huttwiler Wohnheims mit Kollegen gerade den Schichtwechsel. An einer Magnetwand sind zu allen Bewohnern die wichtigsten Angaben notiert, zum Beispiel die Muttersprache. Oft ist das entweder Paschtu oder Dari.
«Wir schauen aktuell, dass im Betreuerteam immer eine Person anwesend ist, die eine der beiden afghanischen Sprachen spricht», sagt Ali. In der Flüchtlingswelle 2015/2016 habe er selbst sich gut auf Arabisch und Somalisch mit den meisten Jungen unterhalten können. «Heute brauchen wir diese Herren, die afghanische Sprachen sprechen», sagt Ali und deutet auf die drei kräftigen jungen Betreuer. Die neuen afghanischen Betreuer bringen oft Erfahrung mit dem Schweizer Asylwesen mit, sei es persönlich oder im Umfeld.
Die Sprache ist für die Arbeit der Betreuer zentral. In letzter Zeit sei es immer wieder zu Konflikten zwischen Hazara und Paschtunen – zwei grosse Ethnien in Afghanistan – gekommen. «Wenn wir ihre Sprache beherrschen, können wir bei Konflikten schnell reagieren, eine Gruppe auseinandernehmen und ein Interventionsprogramm aufstellen.»
Seit mehreren Monaten sei der ethnische Konflikt in Afghanistan virulenter, ergänzt Zürcher. «Und dann bricht er auch in unseren Strukturen aus, und wir haben hier gewalttätige Auseinandersetzungen.» Besonders während des Ramadan sei die Lage oft angespannt.
«Wir sind froh, wenn die Polizei vor Ort kommt, wenn es sie braucht», sagt Zürcher. Ihre Präsenz könne zur Deeskalation beitragen. In Einzelfällen setzt die Polizei auch ein befristetes Hausverbot durch. Ein solches erhält, wer auch nach wiederholten Verwarnungen noch gegen die Hausordnung verstösst.
Die Einhaltung der Hausordnung ist für das friedliche Zusammenleben in den Wohnheimen zwingend. Regelverstösse führten schnell zur Destabilisierung von Wohnheimen, sagt Zürcher. Wird bei einem Jugendlichen als vorübergehende Massnahme ein befristetes Time-out verordnet, werde darauf geachtet, dass er auch dann ein Bett habe, sei es bei Bekannten oder in einer Notschlafstelle. «Man muss es sich ein Stück weit verdienen, hier im Heim zu wohnen», sagt Zürcher.
Für die Mädchen gibt es einen abgetrennten Bereich
Unruhe entsteht aber nicht nur bei ethnischen Konflikten, sondern auch, wenn es aufgrund der hohen Belegung in Gemeinschaftsräumen und Schlafzimmern eng und laut wird. Rückzugsmöglichkeiten fehlen, der Durchlauf von Jugendlichen in einem Wohnheim ist hoch. «Solche Situationen sind eine Belastung für die Jugendlichen», sagt Zürcher. Auch der Transfer in andere Wohnheime könne herausfordernd sein. «Bei den Jungen hat schnell jeder unserer Standorte einen spezifischen Ruf. Zudem hätten die Jungen eigene Vorstellungen, mit wem sie künftig zusammenwohnen wollen.
Für die wenigen Mädchen unter den unbegleiteten Minderjährigen – der Anteil liegt bei den Eintritten aktuell bei 4 Prozent – gibt es im Huttwiler Ankunfts- und Triagezentrum einen abgetrennten Bereich direkt neben den Betreuer*innenzimmern. Derzeit würden sie aber im Wohnheim in Belp untergebracht, sagt Zürcher. Dort sei die Trennung trotz hoher Belegung noch besser umsetzbar.
Im Wohnheim Huttwil ist es noch ruhig. Es ist 15 Uhr. In einer Stunde kommen die Jungs aus der Schule. Dann sind die Betreuer gefragt. «Wir begleiten sie von A bis Z», sagt Ali. «Wir wecken sie für die Schule, besprechen persönliche Probleme und begleiten sie zum Arzt oder zu Terminen mit der KESB oder der Beistandsperson.» Jeder Betreuer ist Bezugsperson für 4 bis 5 junge Männer. Die Arbeit sei herausfordernd, aber sie mache auch Freude. «Vor allem auf den Ausflügen und wenn wir sehen, dass es den Jungen gut geht.»
Kürzlich sei ein Jugendlicher aufgelöst zu ihm gekommen, erzählt Ali. Seine Mutter sei in der Heimat im Krankenhaus, sie brauche dringend Geld für die nötigen Behandlungen. «Unsere Sorge galt dann vor allem der Stabilität des Jugendlichen, der natürlich durch solche Nachrichten beunruhigt war.» Ali klärte mit ihm, wie sich die Situation für ihn etwas entspannen liesse. «In diesem Fall half auch der Transfer von etwas zusammengespartem Taschengeld.» Laut Ali thematisierten weder Betreuungspersonen noch Jugendliche Fluchtgründe. Wenn, dann sprächen die Jugendlichen eher über die schwierige Flucht und seien froh, nun in der Schweiz zu sein.
Den Besuch der «Hauptstadt» beim Beratungsangebots von Zugang B in Huttwil hat das kantonale Amt für Integration und Soziales organisiert. Zum Schutz der Jugendlichen gewähren der Kanton und die Stiftung nur sporadisch Journalist*innen einen direkten Einblick in die Betreuungssituation. Auf Wunsch des Geschäftsführers der Stiftung hat die «Hauptstadt» nicht mit den Jugendlichen, sondern nur mit den Betreuer*innen und Verantwortlichen gesprochen.
Ganz wenige der jungen Afghanen kommen nicht klar in ihrem neuen Leben in der Schweiz und verhalten sich selbst- und fremdgefährdend. Drei solche Jugendliche werden derzeit in einem Sondersetting betreut und stellen den Kanton und die Stiftung vor grosse Herausforderungen. «Die Suche nach geeigneten Plätzen und die Bereitstellung der vorübergehenden Notfallplatzierung binden derzeit enorm viele Ressourcen, sagt Zürcher. Es brauche Sondermassnahmen, damit man den Bedürfnissen dieser Jugendlichen gerecht werde. «Diese Jungs müssten eigentlich in spezialisierte Betreuungssettings.»
Das kantonale Amt für Integration und Soziales sucht nun direktionsübergreifend nach Lösungen. Amtsleiter Manuel Michel sagt: «Für diese Fälle gibt es eine Versorgungslücke.» Es gebe keine Institution, die die Ressourcen habe, diese Jugendlichen aufzunehmen, denn alle psychiatrischen Einrichtungen seien am Anschlag. «Darum haben wir aktuell ein Sondersetting mit der Securitas und Pflegepersonen und bringen die Jungs für die ambulante Behandlung in die UPD.» So könne man den Jugendlichen und der Situation einigermassen gerecht werden.
Michel ist sehr zufrieden mit der Arbeit von Zugang B, obwohl derzeit gewisse Kriterien im Leistungsvertrag nicht eingehalten werden. So konnte die Stiftung mit vielen Neueinstellungen zwar den Betreuungsschlüssel von 1 zu 12 laut Zürcher «weitgehend einhalten». Aber unter den vielen Neueinstellungen hat es zu wenig ausgebildete sozialpädagogische Fachkräfte. «Uns ist bewusst, dass die Stiftung ihren internen Ansprüchen nicht immer gerecht wird und die Anforderungen zum Teil nicht eingehalten werden», sagt Michel. Man sei aber in einem Krisenmanagement. «Angesicht der großen Herausforderungen läuft es gut.»
Aber wer kontrolliert die Arbeit von Zugang B und stellt sicher, dass die Jugendlichen zu ihren Rechten kommen? Er führe jedes Quartal Gespräche mit der Geschäftsleitung von Zugang B, sagt Amtsleiter Michel. Und es gebe vierzehntägliche Austauschsitzungen auf Fachebene sowie regelmässige Aufsichtsbesuche. «Zudem haben alle Minderjährigen eine Beistandsperson und auf fachlicher Ebene ist die KESB involviert», ergänzt er.
Froh ist Michel vor allem über die gute Tagesstruktur der Stiftung. Gemäss Konzept müssen alle volksschulpflichtigen Jugendlichen die Regelschulen besuchen. «Doch die Schulleitungen in der Region sagen: ‹Das schaffen wir nicht›», sagt Michel. Darum braucht es die Tagesstruktur von Zugang B, mit kreativen Lösungen und unkonventionellen Anstellungen. «Zum Glück haben wir nicht nur ausgebildete Lehrpersonen», sagt Schulleiterin Aeschlimann. Sie habe etwa auch mit Quereinsteigern aus handwerklichen Berufen gute Erfahrungen gemacht. «Die können den Pubertierenden sehr glaubwürdig erklären, dass man pünktlich und sauber zur Arbeit erscheinen sollte.»
Doch was kann die Tagesstruktur in Huttwil in der kurzen Zeit, bis die Jungs volljährig sind, an Integration erreichen? «Alles und nichts», sagt Aeschlimann. Einige Jugendliche hätten Mühe, überhaupt täglich in der Schule zu erscheinen. Es gebe aber auch solche, die in Afghanistan nur gearbeitet hätten, um die Familie zu ernähren und hier nach zwei Monaten Deutsch könnten. «Unser Ziel ist es, die Jugendlichen von der Tagesstruktur via regionale Integrationsklassen in die Regelschule oder in das 10. Schuljahr zu bringen, damit sie eine Lehrstelle suchen können.» Viele Jungen wollen Automechaniker werden, sagt Aeschlimann, andere Arzt. «Wichtig ist einfach, dass sie eine Lehre machen», sagt Aeschlimann, danach sei alles offen.
Leider gebe es aber mit 18 Jahren oft einen Bruch. Bei Erwachsenen reduziere sich das Unterstützungsangebot stark. «Mein Wunsch wäre, diesen Bruch zu vermeiden», sagt Aeschlimann. Dann gäbe es wohl noch mehr berufliche Erfolgsgeschichten, so wie die eines jungen Afghanen, der in weniger als zwei Jahren fliessend Berndeutsch sprach und eine Lehrstelle bei der Migros fand.