Verkehrswende

Der grüne Bahnhofplatz

15’000 Fahrzeuge kreuzen täglich den Bahnhofplatz. Schon lange wird diskutiert, ob ein autofreier Platz möglich wäre. Die «Hauptstadt» zeigt, wie das aussehen könnte.

Visual Utopia
Aus Grau wird Grün: Eine Utopie oder dereinst möglich? (Bild: Jan Kamensky)

Wie lässt sich städtischer Raum neu denken? Eine mögliche Antwort auf diese Frage liefert Jan Kamensky. Der Hamburger Artdirector fotografiert öffentliche Plätze, gestaltet sie visuell um und ermöglicht so eine neue Perspektive auf den städtischen Raum.

Die «Hauptstadt» hat – in Kooperation mit ihrem Partnermedium «Bajour» und der Plattform Wepublish – von Jan Kamensky zwei Plätze umgestalten lassen: Den Aeschenplatz in Basel und den Berner Bahnhofplatz.

Die «Hauptstadt» wählte den Bahnhofplatz, weil es der zentralste und meistfrequentierte Platz der Stadt Bern ist. Täglich queren 30’000 Passant*innen und 15'000 Autos den Platz unmittelbar vor dem Hauptbahnhof. Der Ort ist Treffpunkt, Verkehrsknotenpunkt und Eingangstor zur Altstadt. Zudem wird in der Stadt Bern seit Jahrzehnten diskutiert, ob ein autofreier Bahnhofplatz möglich wäre.

Ginge es nach Jan Kamensky, würde der verkehrsbefreite Platz so aussehen:

Eine Umgestaltung des Bahnhofplatzes wäre kein Novum – im Gegenteil, wie ein Blick in die Vergangenheit zeigt:

Ein Platz entsteht (1860-1900)

Für einen Bahnhofplatz brauchte es zunächst einen Bahnhof. Diesen erhält die Stadt Bern 1860. In den Jahren zuvor endeten die Züge allesamt noch im Wylerfeld ausserhalb der Stadt. Erst mit dem Bau einer Brücke über die Aare ist eine Fahrt bis ins Zentrum möglich.

Der neue Bahnhof ist zunächst als Kopfbahnhof konzipiert, sämtliche Züge enden in Bern. Die Empfangshalle verläuft bündig zur Heiliggeistkirche und zum Burgerspital. Der grosse Teil des heutigen Bahnhofplatzes ist folglich von ihr bedeckt.

Direkt daneben, wo heute die Trams unter dem Baldachin stoppen, steht zunächst der Christoffelturm. Der 55 Meter hohe Turm bildete im mittelalterlichen Bern das Eingangstor zur Altstadt. Mitte des 19. Jahrhunderts steht er aber jenen Erneuern im Weg, die am Bahnhof ihre Vision einer modernen Stadt umsetzen wollen. In einer äusserst knappen Abstimmung (415 zu 411 Stimmen) beschliesst die Gemeindeversammlung 1864 den Abbruch des Turms.

Abbruch-Christoffelturm
Im Frühjahr 1865 wird der Christoffelturm abgerissen. Im Hintergrund links der Bahnhof, rechts die Heiliggeistkirche. (Bild: zvg)

Fortan öffnet sich den Reisenden beim Verlassen des Hauptbahnhofs der Blick Richtung Spitalgasse. Auf dem neu entstandenen Platz vor dem Bahnhof, dem Bahnhofplatz, warten derweil Mietkutschen, um die Ankömmlinge an ihr Ziel zu bringen.

Aufkommen von Trams und Bussen (1900-1945)

Mit dem neuen Jahrhundert wird der öffentliche Verkehr zur städtischen Aufgabe. 1899 kauft die Stadt Bern die private Tramway-Gesellschaft. Tramlinien ersetzen die zuvor omnipräsenten Mietkutschen und Pferdeomnibusse.

Zusätzlich zu den Trams verkehrt ab 1917 die Bern-Solothurn-Bahn (heute: RBS) vom Bahnhofplatz aus. In den 1920er-Jahren fahren erstmals auch motorisierte Busse der städtischen Verkehrsbetriebe (heute: Bernmobil) durch die Stadt.

Weil alle Tram- und Buslinien über den Bahnhof- und Bubenbergplatz führen, wird es dort zunehmend eng – eine Neugestaltung der Bahnhofsumgebung drängt sich auf. Zusätzlicher Raum soll geschaffen werden. Zur Debatte steht, wie einst beim Christoffelturm, der Abriss des Burgerspitals.

Die Stadt entscheidet sich jedoch für eine andere Lösung: 1930 wird das Bahnhofgebäude um 30 Meter zurückversetzt. Der Bahnhofplatz «wächst». Ein langgezogener Flachbau dient fortan als Tramhaltestelle.

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Nach der Rückversetzung des Bahnhofs bietet sich vor diesem mehr Platz für den Tram- und Busverkehr. Vorne im Bild der Flachbau, der als Tramhaltestelle dient. (Bild: Staatsarchiv des Kantons Bern (FN Nydegger 1308))

Auch der angrenzende Bubenbergplatz wird umgestaltet: Das Bubenbergdenkmal muss von der Mitte des Platzes an seine heutige Stelle beim Hirschengraben weichen. Die Tramgleise werden auf einem Rasenfeld gebündelt, parallel dazu verläuft je eine Fahrspur für den restlichen Verkehr.

Bern im Autofieber (1945-1985)

Vor dem Bahnhof Bern wird es in den Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg enger und enger. Immer mehr Menschen können sich ein eigenes Auto leisten.

Bern will deshalb seinen zentralsten Platz erneut umgestalten. Am 1. Juli 1956 verwerfen die Stimmberechtigten jedoch eine Vorlage, die den Bahnhof westwärts an die Laupenstrasse verschieben und so zusätzlichen Platz im Stadtkern schaffen wollte.

Stattdessen votieren die Berner vier Monate später für einen Umbau des bestehenden Bahnhofs. Dabei wird die Ankunftshalle erneut zurückversetzt, dieses Mal um 56 Meter an seine heutige Stelle. Der Umbau endet 1974.

Von der Umgestaltung profitiert fast nur der Autoverkehr. So werden Fussgänger*innen in die neugeschaffenen Neuengass- und Christoffelunterführungen gelenkt. Die Autos hingegen brausen nahezu hindernisfrei auf einer vierspurigen Strasse über den Bahnhofplatz.

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Platz für die Autos: Im rechten Teil des Bildes ist die vierspurige Strasse quer über den Bahnhofplatz erkennbar. (Bild: Burgerbibliothek Bern (VA BSB 192777))

Beinahe hätte man dem Autoverkehr sogar noch mehr Platz eingeräumt: Bis 1960 sah die Planung des Nationalstrassennetzes eine Autobahn mitten durch Bern und via Bahnhofplatz vor. Letztlich entschied man sich jedoch für die nördliche Umfahrung der Stadt.

Die Idee der verkehrsfreien Plätze (1990er-Jahre)

Gegen Ende des 20. Jahrhunderts findet in Bern ein Umdenken statt: Erstmals überhaupt soll der Raum für den Autoverkehr reduziert werden. Der städtische «Masterplan für den Bahnhof Bern» skizziert 1993 einen autofreien Bahnhofplatz als Möglichkeit für die kommenden Jahre.

1997 können die Stadtberner Stimmberechtigen über das Vorhaben abstimmen. Für 130 Millionen Franken soll der Schanzentunnel gebaut werden – eine Bahnhofumfahrung für den Autoverkehr, die Raum schaffen soll für drei autofreie Stadtplätze (Bollwerk, Bahnhof- und Bubenbergplatz) an der Vorderseite des Bahnhofs.

Schanzentunnel
Der Plan sieht eine unterirdische Umleitung (rot) des Autoverkehrs vor, damit Bollwerk, Bahnhof- und Bubenbergplatz (violett) als autofreie Plätze genutzt werden können. (Bild: zvg)

Widerstand gegen den Tunnel kommt aus unerwarteter Richtung: Die SP lehnt ihn aufgrund der hohen Kosten ab und stellt sich somit gegen ihren Stadtpräsidenten und die eigenen Parteimitglieder in der Stadtregierung. Auch die Grünen wehren sich aus Angst vor Mehrverkehr in den Quartieren gegen das Vorhaben.

An der Urne lehnen schlussendlich 63,3 Prozent der Stimmenden die Vorlage ab. Der Bahnhofplatz wird – zumindest vorerst – nicht autofrei.

Trotzdem soll der Verkehr auf dem Bahnhofplatz um einen Fünftel reduziert werden. In derselben Abstimmung befürworten 56,3 Prozent der Stimmenden die «Kurzfristige Übergangslösung (KÜL)». Diese sieht unter anderem die Sperrung des Hirschengrabens für den motorisierten Individualverkehr vor.

Der Platz erhält ein Dach (2000er)

Im Jahr 2000 lanciert die Stadt Bern einen Projektwettbewerb für den Bahnhofplatz. Ziel ist es, im Bahnhofsbereich «lebenswerte Stadträume zurückzuerobern».

Das Siegerprojekt sieht drei grössere Veränderungen vor:

  • Eine neue Verkehrsführung, nicht mehr diagonal über den Platz, sondern orthogonal diesem entlang, damit ein «richtiger» Platz entsteht
  • Eine Konzentration der ÖV-Haltestellen und damit verbunden die Aufhebung der Haltestellen auf dem Bubenbergplatz
  • Eine teilweise Überdachung des Platzes

Kein Thema mehr ist hingegen die Sperrung des Bahnhofplatzes für den Autoverkehr. Eine Tatsache, die in Teilen des bürgerlichen Lagers nicht gut ankommt. In einem Rückweisungsantrag im Stadtrat fordern Vertreter*innen der FDP und SVP die Prüfung einer zusätzlichen Variante, bei welcher der motorisierte Individualverkehr vom Bahnhofplatz wegverlegt wird – ohne Erfolg.

2005 können die Stimmberechtigen in einer Variantenabstimmung über die Umgestaltung des Platzes abstimmen. Sie haben die Wahl zwischen der Variante mit Baldachin und einer leicht billigeren Variante mit Einzeldächern bei den ÖV-Haltestellen.

Mit einem hauchdünnen Mehr kommt die Baldachin-Variante durch. Während der Bauzeit von Mai 2007 bis Mai 2008 ist der Bahnhofplatz für sämtlichen Verkehr gesperrt. Kurz vor Beginn der Fussball-Europameisterschaft 2008 wird der neu gestaltete Platz eingeweiht.

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Der Baldachin prägt seit 2008 das Bild des Berner Bahnhofplatzes. (Bild: Marion Bernet)

Autofrei: Ja o | Nein x (2009)

Zum zweiten und bisher letzten Mal können sich die Stadtberner Stimmbürger*innen 2009 zur Idee eines autofreien Bahnhofplatzes äussern. Eine entsprechende Initiative war ein Jahr zuvor in jener Zeit lanciert worden, als der Berner Bahnhofplatz während der Umbauphase tatsächlich autofrei war. Initiiert hatte die Initiative ein Komitee bestehend aus linken Parteien und Verkehrsverbänden.

Im Stadtrat ist man sich von links bis rechts grundsätzlich einig: Die Idee eines autofreien Bahnhofplatzes ist attraktiv. Nun sind es aber Bürgerliche, die auf die Bremse treten und vor Mehrverkehr in den Quartieren warnen – jenes Argument, das bei der Abstimmung 1997 noch die Grünen vorbrachten.

Am Abstimmungssonntag wird die Vorlage mit 51 Prozent der Stimmen knapp abgelehnt. Das Vorhaben «autofreier Bahnhofplatz» ist – erneut – gescheitert.

Überraschungen und Pläne in der Schublade (heute)

Als der Stadtberner Jungfreisinn im Corona-Sommer 2020 eine temporäre Sperrung des Bahnhofplatzes und stattdessen eine grosszügige Bewilligung von Pop-up-Lokalen an bester Lage fordert, weckt er alte Geister. Plötzlich ist das Thema «autofreier Bahnhofplatz» in Bern wieder aktuell.

Zusätzliche Brisanz erhält die Debatte im Frühjahr 2021 durch die Abstimmung über eine neue Fussgängerunterführung am Hirschengraben. Um die Durchfahrt für den ÖV sicherzustellen, sieht die Vorlage Tempolimits und Abbiegeverbote im Bereich um den Bahnhof vor.

Mit der Annahme der Vorlage (58 Prozent Ja-Stimmen) ist klar: Künftig werden noch weniger Autos über den Bahnhofplatz rollen. Das entspricht dem langjährigen Trend seit der ideologischen Wende der Neunzigerjahre. So betrug im Jahr 1990 der durchschnittliche Tagesverkehr auf dem Bubenbergplatz rund 30’000 Motorfahrzeuge. Heute sind es an einem Werktag noch rund 15’000.

Einer Allianz aus links-grünen Parteien und der bernischen Sektion des Verkehrsclubs der Schweiz (VCS) ist das nicht genug. Nur einen Tag nach der Abstimmung fordert sie die Errichtung eines autofreien Bahnhofplatzes.

Auftrieb erhält das Vorhaben durch eine Studie im Auftrag der Stadt, die besagt, dass ein autofreier Bahnhofplatz verkehrstechnisch machbar ist und kaum negative Auswirkungen mit sich bringt. Gemäss den Autor*innen der Studie ist ein autofreier Bahnhofplatz «frühestmöglich im Zeitraum 2031–2033» realisierbar.

Die Stadt Bern beschäftigt sich denn auch aktiv mit einer zukünftigen Umgestaltung des Platzes – ohne Autos. Das belegt ein Zwischenbericht, den die Behörden vergangenes Jahr veröffentlichten. Der Bericht umfasst drei potenzielle Entwicklungsvarianten für den Bahnhofplatz.

Visualisierung
Eine der drei Varianten: Neubau einer «Markthalle» entlang des Burgerspitals; der ÖV verkehrt zwischen der «Markthalle» und der Heiliggeistkirche. (Bild: Stadt Bern)

Die Varianten sind mögliche Entwicklungsrichtungen für die mittelfristige Zukunft. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Von einem autofreien Bahnhofplatz, wie ihn Jan Kamensky visualisiert hat, ist Bern zwar noch ein Stück weit entfernt. Ganz so utopisch, wie er auf den ersten Blick scheint, ist er aber nicht.

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Diskussion

Unsere Etikette
Leandro Spillmann
18. Oktober 2022 um 12:46

Durchfahrt nur noch für den öffentlichen Verkehr sowie Liefer-, Handwerker- und Notfallfahrzeuge fände ich sinnvoll. Damit wären weniger Fahrspuren und bessere Querungsmöglichkeiten möglich. Eine intensivere Begrünung und die Entsiegelung gewisser Platzbereiche wären allerdings auch heute schon machbar.

Thomas Balmer
06. September 2022 um 07:39

Utopien haben den Vorteil, sich nicht um die Sachverhalte zu kümmern. Es geht nicht nur um den von Links verteufelten Autoverkehr, sondern auch um die Notfallfahrzeuge und auch der öffentliche Verkehr ist zwingend auf diesen Durchgang angewiesen. Dadurch, dass RGM den Schanzentunnel verhindert hat, wurde der autofreie Bahnhofplatz verunmöglicht. Eine Einsicht, die auch bei den RGM Parteien inzwischen gekommen ist, doch die Reue kommt zu spät. Der Bahnhofplatz ist nach den umgesetzten Verkehrsberuhigungen in den Quartieren der einzige Durchgang, der nicht durch ein Wohnquartier oder über die bereits überlastete Autobahn führt. Zum Verweilen und Spielen haben wir beim Waisenhausplatz und dem Bärenplatz genug Möglichkeiten und brauchen dazu nicht noch den Bahnhofplatz, wenn wir eine funktionierende Stadt erhalten wollen. Wer das nicht einsieht, soll sich einmal auf dem Stadtplan schlau machen und wird dann sehen, dass ein verkehrsfreier Bahnhofplatz vielleicht doch utopisch ist.

Stefanie Stalder
02. September 2022 um 12:25

Interessanter Beitrag.

Seine Visualisierung gefällt mir persönlich weniger.

Bettina Wyler
02. September 2022 um 06:15

Interessant, danke!