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Transgenerationale Traumata rücken langsam ins Bewusstsein der Schweizer Bevölkerung (Bild: Silja Elsener)

Die Kinder der Verdingkinder

Lange wurden in der Schweiz Kinder verdingt oder fremdplatziert. Eine Forschungsgruppe beschäftigte sich nun mit den Kindern der Betroffenen. Ein Austausch beginnt.

Beat, der in Wirklichkeit anders heisst, setzt sich aufs Sofa. Er hat ein Kinderfoto hervorgeholt: Ein Junge sitzt mit löchrigen Schuhen auf einer Mauer und lächelt in die Kamera. Beat erzählt von seiner Kindheit. Manchmal sind die Erinnerungen kaum aushaltbar, dann verliert er den Faden. Für diesen Artikel möchte er anonym bleiben, weil seine Geschichte für ihn mit viel Scham behaftet ist.

Beats Mutter war ein Verdingkind. Sie wurde als Halbwaise nach dem Ersten Weltkrieg von Deutschland in die Schweiz geholt. Und hier verdingt. 

Beat ist heute 78 Jahre alt und gehört zur zweiten Generation von Betroffenen fürsorgerischer Zwangsmassnahmen. Die traumatischen Erfahrungen, die die zehntausend Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen in der Schweiz gemacht haben, haben sich auf die Beziehung zu ihren Kindern ausgewirkt. Menschen wie Beat hatten mit nicht aufgearbeiteten Traumata der Eltern und sozialer Ausgrenzung zu kämpfen.

Damit befasst sich seit 2019 eine Forschungsgruppe an der Berner Fachhochschule Soziale Arbeit. Im Rahmen eines Projekts des nationalen Forschungsprogramms «Fürsorge und Zwang» hat sie 27 Kinder von administrativ Versorgten, Verdingkindern, Heimkindern und willkürlich Weggesperrten befragt. Menschen wie Beat. 

Fürsorgerische Zwangsmassnahmen

Als Betroffene von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen gelten:

  • Verdingkinder: Kinder und Jugendliche, die als billige Arbeitskräfte auf Bauernhöfen ausgebeutet wurden. Sie erlebten schwere körperliche, physische und zum Teil sexualisierte Gewalt.
  • Heimkinder: Kinder und Jugendliche, die in Heimen untergebracht und dort misshandelt wurden.
  • Administrativ Versorgte: Menschen, die ein Leben führten, das gesellschaftlich als inakzeptabel galt und die deshalb in Arbeits- oder Strafanstalten eingewiesen wurden – ohne einen strafgerichtlichen Beschluss.
  • Junge Frauen, die unter Zwang oder grossem psychischem Druck Abtreibungen oder Sterilisationen durchführen liessen oder Kinder zur Adoption freigeben mussten.
  • Menschen, die Opfer von Medikamentenversuchen wurden.
  • Jenische Familien, die gewaltsam auseinandergerissen wurden, durch die systematische Fremdplatzierung jenischer Kinder.

Bis 1981 wurden fürsorgerische Zwangsmassnahmen von den Behörden und Stiftungen – wie der Pro Juventute, die für die Kindswegnahme von rund 600 Jenischen Kindern verantwortlich war – praktiziert. Zehntausende Kinder und Erwachsene wurden Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen.

Die Forschungsergebnisse zeigen: Das Leiden nahm in der Schweiz mit der Aufhebung von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen nicht einfach ein Ende. Es wirkte sich auch auf die Familien der Betroffenen aus. Die behördlichen Untaten haben Folgen bis heute. Aber die Thematik der zweiten Generation findet in der Schweiz noch kaum Beachtung. 

Andrea Abraham, die das Forschungsprojekt leitete, hält deshalb Vorträge zum Thema. Ein Anlass für die zweite Generation ist nun zum ersten Mal in Bern geplant. Organisiert wird er vom «Erzählbistro», das regelmässig Stammtische für Betroffene von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen arrangiert. Nun sollen die Kinder der Betroffenen ihre Geschichten teilen können. 

Fehlende Liebe

Beat erhielt als Kind wenig Liebe. Seine Mutter konnte sie nicht geben, erzählt er. Sie sei schwer traumatisiert gewesen. Für ihn und seine Geschwister konnte und wollte sie nicht sorgen. «Meine jüngeren Geschwister hat sie weggegeben, und auch wir älteren sind lange fremdplatziert worden», erzählt Beat. Ab und zu sei sie einfach weggelaufen, mit der ältesten Tochter an der Hand.

Ähnliches erzählt Forscherin Abraham: «Viele, die wir befragt haben, erlebten ein schwieriges Verhältnis von Nähe und Distanz zu ihren Eltern.» Körperliche Gewalt, Übergriffe und emotionale Distanz seien in vielen Kindheiten eine Realität gewesen. Die Kinder hätten gemerkt, dass die Eltern unter der Vergangenheit litten und hätten sich in starkem Ausmass verantwortlich für die Eltern gefühlt. «Sie hatten beispielsweise Mitleid mit ihnen, ohne recht zu wissen, warum.» Dabei ist es Abraham wichtig zu betonen, dass nicht alle Kinder von Betroffenen solche Erfahrungen gemacht haben. 

Beat machte seiner Mutter lange Zeit Vorwürfe: «Ich habe sie für ihr Verhalten gehasst, bis ich realisiert habe, was sie als Verdingkind und junge Frau in der Krisen- und Kriegszeit durchmachen musste.» Das habe seinen Blick verändert. «Ich konnte mit der Zeit aufarbeiten, dass sie uns weggeben wollte, ich konnte ihr verzeihen.» Als Beat zehn Jahre alt war, starb sie.

Auch die erneute Fremdplatzierung der Kinder von Betroffenen konnte eine Folge fürsorgerischer Zwangsmassnahmen sein, erklärt Abraham. Sie habe mit der Prekarität, in der die Betroffenen häufig lebten, aber auch mit deren psychischen Leiden und der gesellschaftlichen Stigmatisierung zu tun. 

Die Geschichte setzt sich fort

Als Beats Mutter starb, waren fürsorgerische Zwangsmassnahmen noch eine gängige Praxis von Schweizer Behörden und Stiftungen. Beat und seine Geschwister wurden von der Vormundschaftsbehörde getrennt und an unterschiedlichen Orten untergebracht. Eine Weile lebte Beat auf einem Bauernhof, hatte weder Zimmer noch Stift, um seinen Geschwistern Briefe zu schreiben. Auf dem Bauernhof musste er als Bub arbeiten und hatte konstant Hunger, erinnert er sich. In der Schule schämte er sich für die alten Kleider, die ihm viel zu gross waren. Später konnte er, weil er zu dieser Zeit von «guten Leuten» aufgenommen worden war, das Gymnasium absolvieren und Jura studieren.

Personen wie Beat, bei denen einerseits die Eltern, aber auch sie selbst von den Zwangsmassnahmen betroffen waren, befragte Abraham ebenfalls im Forschungsprojekt. Sie seien häufig schwer belastet, sagt sie.

Als die Schweiz 1981 entsprechend der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1974 schliesslich Gesetze gegen die willkürlichen Massnahmen verabschiedete, war Beat Ende dreissig und hatte eine Kindheit und Jugend mit ständig wechselndem Zuhause hinter sich. 

Öffentliche Aufarbeitung

Ein wichtiger Moment in Beats Leben ereignete sich im April 2013, 32 Jahre nach der gesetzlichen Regulierung von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen. Die damalige Bundesrätin und Justizministerin Simonetta Sommaruga entschuldigte sich im Namen der Landesregierung bei den Betroffenen, «ihr seid nicht Schuld». Diese Worte von Sommaruga waren für Beat sehr wertvoll. 

Mit der öffentlichen Entschuldigung begann man, die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen in der Schweiz aufzuarbeiten. Ein offener Tisch wurde eingerichtet, bei dem sich Betroffene und Politiker*innen gegenüber sassen. Die Stammtisch-Treffen des Erzählbistro wurden ins Leben gerufen. Sie wurden von Betroffenen selbst lanciert. Der Bund gab Forschungsprojekte in Auftrag. 

Die Forschung zur 2. Generation

Die Erforschung und auch der Begriff der zweiten Generation sei in den 1980er Jahren in Israel und Deutschland aufgekommen, erklärt Abraham. Kinder von Holocaust-Opfern hätten vermehrt Therapien aufgesucht und man realisierte, dass auch sie von den Schrecken, die ihre Eltern erleben mussten, nachhaltig betroffen waren.  

In der Zweiten-Generation-Forschung wird vor allem die Weitergabe von Traumata untersucht. Aber auch gesellschaftliche Stigmatisierung und ökonomische Benachteiligung spielen eine Rolle. Manchen Kindern sei verboten worden, mit Kindern von Betroffenen zu spielen, sagt Abraham. Wegen der Armut, der Familiengeschichte, vielleicht den familiären Schwierigkeiten.

Beat lernte als Jugendlicher von unterstützenden Pflegeeltern, wie er sich «bürgerlich» zu verhalten habe. Lernte Tischregeln und die «richtige» Art, sich zu bewegen, «den Normen entsprechend», wie er sagt. Denn das konnten ihm seine Eltern und die Betreuer*innen der verschiedenen Pflegeplätze davor nicht beibringen. 

Das soziale Stigma sei von den Betroffenen verinnerlicht worden, erklärt Abraham: «Das Narrativ ‹Du bist nichts, du kannst nichts, aus dir wird nichts›, hat sich bei vielen Betroffenen von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen tief eingeprägt und wirkte in den Familien weiter.»

Auch im Bildungsweg zeigte sich die Benachteiligung: «Viele Eltern waren aufgrund ihrer Verfassung und wegen fehlender schulischer Bildung nicht in der Lage, ihre Kinder zu unterstützen. Andere förderten ihre Kinder umso mehr, weil sie nur durch schulische Bildung den Ausweg aus der Armut sahen», führt Abraham aus. 

Lilienfoto
Kinderfoto von Beat (Bild: Anonym/zvg)

Fast alle Eltern hätten in irgendeiner Weise etwas von der Kindheit durchblicken lassen. Wirklich darüber sprechen konnte aber kaum jemand. «Befragte erzählten uns, dass plötzlich Menschen auftauchten, von denen sie nicht wussten, wer sie waren. Oder aber, dass gewisse Familienmitglieder wie die Grosseltern einfach nicht da waren.» 

Beat wusste kaum etwas über die Kindheit seiner Mutter. Als Kinder wurden er und seine Geschwister selten von einer Tante besucht, einer Schwester seiner Mutter. Ein Gespräch mit ihr über das Schicksal seiner Mutter war nicht möglich. Sie war selbst fremdplatziert worden und davon schwer traumatisiert. 

Seit der öffentlichen Aufarbeitung werde weniger geschwiegen, stellt Abraham fest: «Angehörige der zweiten Generation konnten sich nun erklären, was mit ihren Eltern passiert war. In den Familien wurden Gespräche, wurde ein Austausch möglich.»

Als Erwachsener versuchte Beat mehr über die Biografie seiner Mutter in Erfahrung zu bringen. Er vermutet, dass sie als kleines Mädchen von der Pro Juventute in die Schweiz geholt wurde, die sie hier als Verdingkind vermittelt hat. In den Akten der Pro Juventute konnte er dafür aber keinen Nachweis finden.

Das Ende der Gewaltspirale

Es gebe auch Eltern, die mit ihren Kindern nach wie vor nicht über das Erlebte sprechen und sich selbst auch nicht als Opfer sehen wollen, berichtet Abraham. Und Kinder, die mit der Geschichte der Eltern keinen Umgang finden. Für sie sei es sehr belastend, zu erfahren, was die Eltern erlebt haben.

In extremen Fällen sei es vorgekommen, dass Täter*innen, die im Rahmen fürsorgerischer Zwangsmassnahmen gehandelt hatten, immer noch in das Familienleben involviert waren. «Wenn man dann erfährt, dass es sich bei diesem nahen Menschen um eine Person handelt, die einem Elternteil viel Leid zugefügt hat, erschüttert das die eigene Geschichte zutiefst», erklärt sie. Angehörige der zweiten Generation mussten zum Teil ihre ganze Biografie hinterfragen oder neu rahmen. 

Gemeinsame Aufarbeitung

Abrahams Untersuchung zeigt zudem, dass es vielen der zweiten Generation gelang, belastete Familiennarrative und Gewalt zu durchbrechen. Das habe auch mit der politischen und gesellschaftlichen Aufarbeitung und den therapeutischen Möglichkeiten zu tun, meint sie. Auffällig sei, dass sich viele Angehörige der zweiten Generation in ihrem Alltag oder Beruf sozial engagierten. Dass sie damit gewissermassen das getane Unrecht kompensieren oder präventiv verhindern wollen.

Beat gründete eine Familie. Und er ist finanziell gut situiert. Die lebenslange Therapie half und hilft ihm, einen Umgang mit dem Erlebten zu finden und mit den eigenen Kindern eine andere Beziehung zu führen, als die, die er als Kind erlebt hatte. Er verfolgte den Runden Tisch und nahm am Betroffenenforum teil, an dem die Aufarbeitung und Wiedergutmachung durch den Bund besprochen wurde. Und er hat sich später dafür eingesetzt, dass Betroffene sich austauschen können.

Wenn Vertreter*innen der zweiten Generation ihre Erfahrungen miteinander teilen können, kann aus einer individuellen Geschichte eine kollektive werden. Und vielleicht ermöglicht das Treffen des Erzählbistro auch einen Austausch der Generationen und ein gegenseitiges Verstehen. 

Das Erzählbistro mit der zweiten Generation findet am Dienstag 14. November von 13 Uhr bis 17 Uhr an der Fabrikstrasse 12 in Bern statt. Es richtet sich an direkt Betroffene und Angehörige der zweiten Generation.

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