Verlieren – «Hauptstadt»-Brief #146
Samstag, 11. März 2023 - die Themen: Demokratie-Spiele; Teilzeitarbeit; Wahlsystem-Änderung in Köniz; Ladenöffnungszeiten; Kirchenfusion; Hunde-Tagi; Westwind. Berner Kopf der Woche: Annalisa Berzigotti.
Eigentlich dachte ich bisher, ich sei eine recht gute Verliererin. Darum erschrak ich über meine heftige Reaktion vor anderen Leuten. Ich nahm am Donnerstagabend an einem Anlass der neu geschaffenen Demokratie-Bar im Polit-Forum Bern teil. Die Organisation Demokrative, die spielerisch politische Bildung vermittelt, hatte zu einem Spiele-Abend geladen.
Mit drei Menschen, die ich vorher nicht kannte, setzte ich mich an einen Tisch, um «Draw the line» zu spielen. In diesem an sich simplen Spiel geht es darum, dass alle Teilnehmer*innen ein Feld mit Symbolen zugeteilt bekommen und dieses Feld dann reihum immer um eins erweitern, indem sie in das Territorium der anderen vorpreschen. Dabei will man von einer Farbe oder Form so viel wie möglich sammeln.
«Easy», dachte ich, als die anderen drei Spieler*innen von allen Seiten in mein Feld eindrangen, «dann nehme ich einfach einen anderen Weg». Irgendwann wurde mir der Weg abgeschnitten, zuerst von der einen Spielerin, dann vom anderen. Ich fing an zu jammern und klagen, wollte gar nicht mehr mitspielen. Ich fand es unfair, denn niemand ging auf meine mitleidige Tour ein.
«Wie habt ihr euch während des Spiels gefühlt?», fragte die Spielleiterin der Demokrative am Schluss. Und nun erst ging die Diskussion los: Wie ist es zu verlieren? Wie fühlt man sich, wenn man in einer Minderheit ist? Sollte man sich beim nächsten Mal mehr absprechen, um gemeinsam gegen eine stärkere Spielerin vorzugehen? Könnte man auch einfach kooperieren, mehr zusammen reden, damit am Schluss alle gleich viele Symbole haben und nicht eine Person nichts?
Schon waren wir mittendrin in Themen wie Minderheitenschutz, Kooperation, Fairness. Meine unbezähmbare Wut, die ich als etwas Peinliches wahrgenommen hatte, ergab plötzlich Sinn. Und ja, in einer Demokratie sollte man zwar reden und verhandeln, aber am Schluss auch verlieren können. Auch wenn das manchmal recht unfair erscheint.
Und das möchte ich dir mit ins Wochenende geben:
- Teilzeitarbeit: Schadet Teilzeitarbeit der Wirtschaft und sind es insbesondere teuer ausgebildete Akademiker*innen der Gesellschaft schuldig, hochprozentig zu arbeiten? Diese Fragen werden derzeit breit in den Medien thematisiert. Unser Autor Simon Preisig hat sich dazu Statistiken angeschaut und herausgefunden: Wir arbeiten nicht weniger als vor 25 Jahren, sondern sogar mehr. Der Grund dafür liegt darin, dass insgesamt ein grösserer Anteil der hiesigen Wohnbevölkerung für Geld arbeitet, auch wenn die einzelnen Personen im Schnitt leicht weniger hochprozentig tätig sind.
- Änderung Wahlsystem Köniz: Ums Gewinnen und Verlieren geht es auch in einer hitzig diskutierten Motion, die am Montag im Könizer Parlament behandelt wird. Der Vorstoss «Für unverzerrte Proporzwahlen» aus Reihen der GLP, EVP und Die Mitte will das Wahlsystem für die Parlaments- und Gemeinderatswahlen ändern: Kurz gefasst würde zwar immer noch nach Proporz (also Parteienstärke) gewählt, aber die Verteilung der Sitze würde anders berechnet, und zwar so, dass auch weniger wählerstarke Parteien mehr Chancen haben, Sitze zu ergattern. Umstritten ist die Systemänderung vor allem für die Wahl der fünfköpfigen Regierung: Grüne und SP werfen den Bürgerlichen vor, Machterhaltung zu betreiben und mit der Systemänderung zu versuchen, ihre Mehrheit zu verteidigen. Falls der vom Gemeinderat befürwortete Wechsel des Wahlsystems im Parlament eine Mehrheit findet, müsste er noch dem Stimmvolk vorgelegt werden, ehe er in Kraft tritt.
- Ladenöffnungszeiten: Ab Herbst sollen die Läden in der Berner Innenstadt an Samstagen bis 18 Uhr geöffnet bleiben dürfen. Die zusätzliche Stunde wird durch eine Reduktion des Abendverkaufs am Donnerstag kompensiert, wie der Handels- und Industrieverein des Kantons Bern, die Innenstadt-Vereinigung Berncity, die Gewerkschaft Unia und der Kaufmännische Verband Bern gestern in einem gemeinsamen Schreiben mitgeteilt haben. Das Pilotprojekt soll zwei Jahre dauern. Gleichzeitig wollen die Sozialpartner der Stadt Bern die Einführung eines Gesamtarbeitsvertrags (GAV) diskutieren. Der klassische Fall einer Verhandlung: Die Gewerkschaften stimmen dem Anliegen des Handels zu, und dieser ist zu Gesprächen über einen GAV bereit.
- Kirchenfusion: Am Mittwochabend haben die Stimmberechtigten der reformierten Stadtberner Kirchgemeinden Johannes (Breitenrain) und Markus (Wyler) ohne grosse Diskussionen entschieden, dass sie fusionieren werden, wie das Online-Portal Journal B berichtet. Die Fusion soll 2025 rechtskräftig werden. Umstrittener war die Aufgabe der Johanneskirche, über deren weitere Nutzung die Gesamtkirchgemeinde Bern bestimmen wird. Doch auch diese wurde schliesslich durchgewinkt.
- Hunde-Tagi: Die Nachfrage nach Tagesbetreuung bei Hunden wächst. In Bern West eröffnet darum dieser Tage eine neue Hundetagesstätte, die Platz für 19 Tiere bietet. Meine Kollegin Andrea von Däniken hat die beiden Leiter*innen besucht und sie gefragt, warum mehr Menschen ihre Tiere tagsüber abgeben und worauf man bei der Führung einer Hunde-Tagi achten müsse.
- Westwind: Gestern Nachmittag erfasste eine Böe unser stabil gebautes Tomatenhaus und wehte es einige Meter weit weg. Der Westwind sorgte für heftige Orkanböen, so stellte die Messstation auf dem Bantiger Windspitzen von 122 Kilometern pro Stunde fest, wie der private Wetterdienst Meteonews berichtet. Bis in den Abend hinein gab es Windspitzen mit bis zu 80 Stundenkilometern. Heute Morgen haben sie zum Glück nachgelassen, allerdings hat jetzt Schneeregen eingesetzt, der erst am Nachmittag aufhören soll.
«Eine geerdete Person zu sein ist genauso wichtig wie Ambitionen und Karriere», sagte Annalisa Berzigotti, Ärztin am Inselspital, vor ein paar Jahren, als sie mit einem Frauenförderungspreis ausgezeichnet wurde. Jetzt ist die geerdete Italienerin weit oben angekommen: Am 8. März, dem Internationalen Tag der Frau, teilte das Inselspital Berzigottis Ernennung zur Klinikdirektorin des Bereichs Hepatologie (Lebererkrankungen) mit.
Eine solche Laufbahn ist nach wie vor ungewöhnlich. Obschon 60 Prozent der Medizinstudent*innen weiblich sind, hängt die Glasdecke über Ärztinnen, die wissenschaftliche Karrieren anstreben. In der ärztlichen Leitung des Leberzentrums etwa ist Berzigotti, die gleichzeitig zur ordentlichen Professorin für Hepatologie an der Universität Bern befördert wurde, neben fünf Männern die einzige Frau.
Für sie selber sei es stets normal gewesen, aus gesellschaftlichen Zwängen auszubrechen und an die eigene Karriere zu glauben. Ihre Mutter trieb in Bologna, wo Annalisa Berzigotti aufwuchs und studierte, trotz Familienpflichten ihr eigenes Unternehmen voran. Jetzt ist Berzigotti selber ein Vorbild für jüngere Medizinerinnen. Jungen, ambitionieren Ärztinnen empfiehlt sie, sich Mentorinnen zu suchen. Und sie selber setzt sich für flexiblere Arbeitszeitmodelle ein, wenn Frauen mit kleinen Kindern wieder in die Forschung einsteigen.
Regelmässig äussert sich Annalisa Berzigotti als @docberza auf dem Social-Media-Kanal Twitter. Kürzlich schrieb sie: «Die Welt kann nur dann ein besserer Ort werden, wenn das Talent von Frauen entdeckt und unterstützt wird». Auguri! (Text: Jürg Steiner)
PS: Ein Bundesratssprecher, der ausgewählten Medien vertrauliche Informationen verrät? Was in den letzten Monaten in der Politik- und Medienwelt für Aufruhr sorgte, ist in Wirklichkeit weit verbreitet. Doch: «Wie viel Indiskretion braucht Demokratie?» Diesem Thema widmet sich eine Debatte der Neuen Helvetischen Gesellschaft am Montag (18.15 Uhr, Schmiedenplatz 5). Unter der Leitung meines Kollegen Jürg Steiner diskutieren Claude Longchamp, Casper Selg und Georg Humbel.