Braucht Bern eine City Card?
Die Stadtberner Regierung möchte einen neuen Ausweis für alle. Wer davon profitieren würde und weshalb die Polizei dieses Ausweisdokument nicht einfach akzeptieren könnte: Das war der zweite «Hauptsachen»-Talk – auch als Video zum Nachschauen.
«Ich fühlte mich, als wäre ich durchsichtig.» So beschreibt Liliana Lopez, wie sie sich als Sans-Papiers in der Schweiz fühlte. Die Kolumbianerin wuchs in der Schweiz auf, ehe sie fürs Studium in das Heimatland ihrer Eltern ging – und so ihre Aufenthaltsberechtigung in der Schweiz verlor. Mit einem Touristenvisum reiste sie Jahre später wieder nach Bern. Als dieses nach drei Monaten ablief, wurde Lopez zur Sans-Papiers.
Könnte eine City Card einer Person wie Liliana Lopez helfen? Wie müsste eine solche City Card aussehen? Und wo dürfte diese überhaupt zum Einsatz kommen? Um Fragen wie diese ging es am 3. November anlässlich des zweiten «Hauptsachen»-Talks, der Polit-Diskussionsreihe der «Hauptstadt» in Zusammenarbeit mit dem Progr.
Hier gibt es den ganzen «Hauptsachen»-Talk zum Nachschauen:
Eine City Card funktioniert als städtische Identitätskarte, die allen Stadtbewohner*innen, unabhängig von Nationalität und Aufenthaltsstatus, Zugang zu städtischen Dienstleistungen gewährt. Sie dient auch als Ausweisdokument gegenüber Behörden und Polizei. Auf der City Card sind – so handhabt es zumindest die Stadt New York – nur die notwendigsten Informationen enthalten: Name, Foto, Geburtsdatum und Wohnadresse.
«Die City Card ist kein Wundermittel», sagt Sarah Schilliger. Die Soziologin arbeitet am Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung der Universität Bern und forscht zum Thema City Card. Doch ein städtischer Ausweis wäre in ihren Augen ein starkes Signal. «Damit könnte man zeigen: Wir alle sind Berner*innen», sagt Schilliger, die sich auch zivilgesellschaftlich für solidarische Beteiligungsformen engagiert.
Die aktuelle Tendenz in der Stadtberner Politik begrüsst Schilliger: Jüngst sprach die Berner Stadtregierung nämlich 120’000 Franken, um die Umsetzung einer City Card voranzutreiben. Bis 2024 soll die Möglichkeit einer Berner City Card eruiert werden. Vorbild ist die Stadt New York, die bereits einen solchen Stadtausweis kennt.
Rückkehr zur Stadtpolizei?
Ein städtischer Ausweis könnte Sans-Papiers insbesondere den Umgang mit Behörden erleichtern. Etwa, wenn eine betroffene Person in eine Polizeikontrolle gerät. Alexander Ott warnt jedoch vor zu grossen Hoffnungen: «Die Polizei könnte City Cards nur bedingt akzeptieren», so der Co-Leiter des Polizeiinspektorats der Stadt Bern. Ott ist in dieser Funktion für die Abteilung Einwohnerdienste, Migration und Fremdenpolizei zuständig. Rechtliche Vorgaben in Sachen Aufenthaltsstatus seien nahezu ausschliesslich auf Bundesebene geregelt, so Ott. «Daran muss sich die Polizei ebenso wie die Stadt bei der Ausgestaltung ihrer eigenen Gesetze halten.»
«Gäbe es aktuell denn überhaupt eine Möglichkeit, dass die Polizei eine City Card als Ausweisdokument akzeptiert?», will eine Person aus dem Publikum wissen. Die kurze und präzise Antwort von Alexander Ott: «Mit der aktuellen Gesetzeslage nicht, nein.» In der Stadt Bern existiert unter anderem aus diesem Grund das Vorhaben, die 2008 abgeschaffte Stadtpolizei wieder einzuführen. Dieser sollte es anschliessend einfacher möglich sein – so die Idee der Befürworter*innen – eine städtische City Card zu akzeptieren. Das Problem dabei: «Auch eine Stadtpolizei müsste Bundesrecht durchsetzen», sagt Ott.
Immer diese Angst
Trotzdem: Sans-Papiers würde eine City Card einen angstfreien Zugang zu Behörden ermöglichen, ist Soziologin Schilliger überzeugt. Denn genau diese Angst spürte Liliana Lopez während ihrer Zeit als Sans-Papiers immer, wie sie erzählt. «Ich wusste beispielsweise bei der Einschulung meiner Kinder nicht, was ich den Schulleiter fragen durfte und was nicht», sagt sie.
Was hätte die City Card denn Liliana Lopez gebracht? «Sie hätte mich unabhängiger gemacht», ist sie sich sicher. Nicht einmal ihren Nachbar*innen hatte sie von ihrem fehlenden Aufenthaltsstatus erzählt. Einzig der städtischen Beratungsstelle für Sans-Papiers vertraute sie sich in dieser Zeit an.
Der Vorteil des Digitalen
Aus dem Publikum kommt die Frage auf, ob eine City Card nicht zu mehr Stigmatisierung führe. Insbesondere, wenn der Ausweis nicht von allen Städter*innen, sondern nur von Menschen ohne schweizerische Dokumente gebraucht würde. «Diese Gefahr besteht tatsächlich», sagt Sarah Schilliger. Dem könnte entgegengewirkt werden, indem der Ausweis vor allem digital eingesetzt würde und für alle notwendig wäre. «Beispielsweise zum Lösen einer Parkkarte oder um als Stadtberner*in den verbilligten Hallenbadeintritt zu erhalten.»
Von Vorteil ist dabei, dass sowieso immer mehr Behördengänge digital stattfinden. Eine digitale City Card könnte so die Hemmschwelle für alle ohne Schweizer Pass senken. Gemäss einer Untersuchung von Sarah Schilliger würden nämlich auch andere Bevölkerungsgruppen profitieren. «Leute mit einem B-Ausweis könnten sich beispielsweise identifizieren, ohne den ebenfalls stigmatisierten Ausländerausweis zeigen zu müssen», so Schilliger. Und Non-Binäre sowie Transmenschen könnten im Ausweis ihr Geschlecht selbst bestimmen.
Nur «Pflästerlipolitik»?
Getreu ihrem Namen wäre eine Berner City Card jedoch nur in einer Gemeinde, der Stadt Bern gültig. Ein Nachteil der Idee, wie Alexander Ott findet. «Die Bewegungsfreiheit hört ja nicht an der Stadtgrenze auf.» Zumal wichtige Aspekte kantonal geregelt sind – etwa die weiterführende Schulbildung oder das Gesundheitswesen. «Ein städtischer Ausweis ändert letztlich nichts am fehlenden Aufenthaltsstatus einer Person», so Ott. Er plädiert darum dafür, das Problem an der Wurzel zu packen. «Wir müssen uns damit beschäftigen, welche Gründe Menschen zur Flucht zwingen.» Alles andere – und somit auch eine City Card – sei lediglich «Pflästerlipolitik».
Und doch sind alle drei zum Schluss der Diskussion zuversichtlich, dass die Stadt Bern in wenigen Jahren einen städtischen Ausweis einführen wird. Für Sans-Papiers ebnet dies den Weg zurück in die Legalität. Dies erlebte Liliana Lopez bereits vor knapp einem Jahr. Sie, ihr Mann und ihre Kinder erhielten nämlich einen B-Ausweis. «Das war meine Rückkehr ins Leben. Ich fühlte mich wie neugeboren.»
Der nächste «Hauptsachen»-Talk findet am 1. Dezember im Progr statt. Dabei wird es um den Autobahnausbau im Grauholz gehen. Astra und Kanton sind für den Ausbau der A1. Zahlreiche Gemeinden, aber auch Bauern und Verbände sind dagegen. Wir fragen uns deshalb: «Braucht Bern eine 8-spurige Autobahn?»