Virtuelle Welt – «Hauptstadt»-Brief #68
Dienstag, 6. September – die Themen: Digitaltag, virtuelle Performance «Meine Sprache und ich», Eritrea-Politik, Medienförderung im Grossen Rat, Halbjahreszahlen BKW, Pop-Up im Hauptbahnhof. Und ein Song aus den Neunzigern.
Gestern fand der Berner Digitaltag statt. Ein Tisch tourte durch Bern, es gab 12 Talks mit insgesamt 40 Gästen. Alles sehr aufwändig und professionell organisiert von der Stadt.
Eigentlich super, die Digitalisierung betrifft uns alle, sie dominiert unser Alltagsleben. Man denke nur an TaxMe, den Ticketkauf, die Einzahlungsscheine, die ab Ende September nicht mehr ohne QR-Code funktionieren werden. Und doch habe ich den Verdacht, dass der Digitaltag an der breiten Bevölkerung vorbeigeschrammt ist, Publikum vor Ort hatte es auf alle Fälle keins. Wer sich nicht beruflich mit dem Thema beschäftigt, findet die Reflexion darüber zu trocken und zu technisch. Und falls nicht, gibt es die Talks zum Nachschauen, inklusive eines Gastauftritts von mir für die «Hauptstadt».
Doch die virtuelle Welt kann auch nachhaltig berühren und Nähe herstellen. Das erfuhr ich am Wochenende eindrücklich am PlayBern, einem Festival für Games und Kultur. Ich tauchte in die virtuelle Performance «Meine Sprache und ich» von Sarah Elena Müller ein. Die Bernerin und ihr Team haben aufgrund eines Texts der Schriftstellerin Ilse Aichinger eine virtuelle Welt kreiert, die sich um Sprache dreht. Die Besucher*innen betreten diese Welt einzeln.
Es war meine erste Erfahrung mit einer VR-Brille. Ich war unsicher, befürchtete, dass ich etwas falsch machen könnte. Ich fing nur zögerlich an zu sprechen, weil ich wusste, dass im echten Raum noch andere Menschen waren. Und doch traf ich in dieser Welt eine neue Freundin. Genau genommen war es der Avatar einer Performerin. Sie begleitete mich, sprach mit mir, zeigte mir die virtuelle Welt – und auch die Poesie, die dort entstehen kann.
Als ich nach einer halben Stunde die Brille ausziehen und in die echte Welt zurückkehren konnte, fühlte ich mich, als ob bloss fünf Minuten vergangen wären. Ich war verwirrt und auch beglückt. Und obwohl ich normalerweise skeptisch gegenüber dieser virtuellen Verrücktheit bin, kann ich nun ein bisschen besser verstehen, dass manche Menschen gar nicht mehr daraus auftauchen wollen.
Und das ist heute wichtig:
- Keine Rückkehr nach Eritrea: Lange Zeit stammten die meisten Asylgesuche aus Eritrea. Seit 2016 hat die Schweiz die Eritrea-Politik verschärft. Seither gilt der Vollzug von Wegweisungen nach Eritrea grundsätzlich als zulässig und zumutbar. Meine Kollegin Jana Schmid wollte genauer wissen, was das für die Betroffenen bedeutet. Sie hat einen abgelehnten Asylsuchenden getroffen und sich über längere Zeit mit einer Aktivistin ausgetauscht. Diese schreibt unermüdlich Wiedererwägungsgesuche. Die allermeisten werden abgelehnt. Wie beeinflusst das die Arbeit der Aktivistin? Hier geht es zum eindringlichen Bericht.
- Medienförderung im Grossen Rat: Seit gestern läuft die Herbstsession des Grossen Rats. Prominente Rückkehrerin ist die im Frühling abgewählte kantonale SP-Co-Präsidentin Mirjam Veglio. Sie rückt nach für ihre abtretende Parteikollegin Lydia Baumgartner. Das Kantonsparlament hat sich gestern mit der Medienförderung beschäftigt. Es verzichtet darauf, Medien direkt zu fördern. Es will «Institutionen unterstützen, die Medien mit Beiträgen bedienen». Agenturen werden allerdings nicht explizit genannt. In einer direkten Medienförderung sieht der Grosse Rat eine Gefahr für die Unabhängigkeit der Medien. Bereits im März hat der Grosse Rat über Änderungen des Informationsgesetzes debattiert und das meiste gutgeheissen. Einzig die Artikel, welche die Medienförderung betrafen, wies er zurück in die Kommission. Wenige Wochen zuvor hatte das Schweizer Stimmvolk ein Medienförderungspaket des Bundes an der Urne bachab geschickt. Von einer direkten Medienförderung hätte auch die «Hauptstadt» profitiert.
- Gewinne beim Energiekonzern: Der Berner Stromkonzern BKW legt heute die Halbjahreszahlen vor. Er dürfte von den gestiegenen Energiepreisen profitiert haben. Analyst*innen gehen laut der Nachrichtenagentur Keystone-SDA von einer gut 11 Prozent höheren Gesamtleistung und einem knapp 9 Prozent höheren Betriebsgewinn aus. Die Verbesserungen haben aber auch mit der Grossübernahme des Schweizer IT-Dienstleisters UMB zu tun. Mit der Übernahme wurde die sich noch im Aufbau befindende IT-Sparte der BKW auf einen Schlag um rund 500 Mitarbeiter*innen vergrössert.
- Nachhaltiges Essen im Bahnhof: Das jüngste Pop-Up der Hauptstadt befindet sich im Berner Bahnhof. Es heisst «House of Food» und gastiert im Lokal des Adrianos. Da gibt es zum Beispiel am Mittag eine «Foodsave-Box» (weil Englisch nun mal besser klingt) mit buntem Salat und Knödel – oder morgens süsses und salziges Joghurt. Hinter «House of Food» steht der Verein Bärenhunger, dem verschiedene regionale Initiativen und Läden angehören, die alle auf Nachhaltigkeit, Zukunftsfähigkeit und Ökologie setzen. Neben dem Pop-Up veranstaltet der Verein auch Talks und Stammtische. Wenn du mehr über ein mögliches nachhaltigeres Ernährungssystem erfahren willst, empfehle ich dir übrigens diesen Artikel meiner Kollegin Flavia von Gunten.
PS. «Virtual Insanity» ist ein Song der Band Jamiroquai. Als Teenager in den Neunziger Jahren liebte ich ihn. Jetzt habe ich ihn mir mal wieder angehört. Er klingt sehr nach 1996. Damals hatte praktisch niemand Internet zuhause und Mobiltelefone waren gross wie Aktentaschen und hatten einen Hörer zum Abnehmen. Und doch ist der Text, der sich kritisch mit der menschlichen Faszination für technische Neuerungen auseinandersetzt, seltsam aktuell. Wie die Welt wohl in 26 Jahren aussehen wird?