Mehr Pflanzen, weniger Tiere
Wissenschaftler*innen und Bürger*innen denken gerade fleissig über ein nachhaltiges Ernährungssystem nach. Doch bis ihre Ideen auf den Tellern ankommen, dauert es noch eine Weile.
In Zollikofen, unweit der Raststätte Grauholz, ragt ein schwarzer Quader zwischen den grünen und wetterbedingt braunen Feldern und Wiesen heraus. Hier, an der Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften der Berner Fachhochschule (BFH-HAFL), werden die Praktiker*innen unseres Ernährungssystems ausgebildet. Im Moment sind Semesterferien, die Mensa ist geschlossen und der Pausenplatz verwaist bis auf den Gärtner, der Stauden schneidet.
Während die Student*innen pausieren, läuft die Wissensaneignung bei den Forscher*innen – befreit von der zeitaufwändigen Lehre – auf Hochtouren. Evelyn Markoni und Matthias Meier untersuchen, wie eine nachhaltige Ernährung in der Stadt Bern aussehen könnte.
«In Städten leben viele Menschen auf wenig Raum. Wenn wir es schaffen, dort die Ernährungsweise zu verändern, hat das eine grosse Wirkung», sagt Matthias Meier, Dozent für nachhaltige Lebensmittelwirtschaft. «Und in Städten zeigen sich soziale Ungleichheiten besonders stark», ergänzt Soziologin Evelyn Markoni. «Aber natürlich müssen auch sozial Benachteiligte Zugang zu einer nachhaltigen und gesunden Ernährung haben.»
Nachhaltig ist die Ernährung dann, wenn sie die Menschen mit genügend Nährstoffen versorgt, ohne die Ressourcen der Erde zu übersteigen. Konkret heisst das: Unsere Ernährung sollte zu drei Vierteln aus pflanzlichen Lebensmitteln bestehen, vor allem aus Gemüse, Früchten, Getreide, Hülsenfrüchten und Nüssen. Tierische Produkte wie Fleisch, Eier, Milchprodukte und Fisch sollten maximal einen Viertel ausmachen. Im Vergleich zu heute müsste sich der durchschnittliche Konsum von Tierprodukten um zwei Drittel reduzieren.
Im Moment sind die Forscher*innen damit beschäftigt, den Ist-Zustand zu erfassen: Welche Lebensmittel kaufen Berner*innen? In welchen Geschäften? Wo wurde das Gemüse angebaut? Wie gross ist der Anteil an Label-Fleisch? «So erfahren wir, wo wir ansetzen müssen, damit die Konsument*innen mehr Produkte aus regionaler und nachhaltiger Produktion kaufen», sagt Markoni.
Essen ist eine höchst persönliche Angelegenheit. Kaum ein anderes Konsumprodukt lassen wir so nahe an unseren Körper heran, ja gar in ihn hinein. Nicht umsonst tragen Lebensmittel diesen Namen – sie sind der Stoff, der uns antreibt und konstituiert. Entsprechend ungern lassen sich Menschen reinreden in ihren Speiseplan. Dessen sind sich Markoni, Meier und ihre interdisziplinäre Forschungsgruppe, zu der auch Leute vom Center for Development and Environment (CDE) der Universität Bern gehören, bewusst.
«Gemeinsam mit den Berner*innen wollen wir das Ernährungssystem nachhaltiger gestalten», so Markoni. Beispielsweise sollen Bürger*innen die Forschungsfragen mitformulieren. Besonders wichtig sei es, die Bedürfnisse von Menschen mit wenig Geld und Zeit zu erkennen, Alleinerziehenden oder von Altersarmut Betroffenen etwa.
Was die Stadt Bern beitragen kann
Die Forscher*innen untersuchen auch, was die Stadt Bern zu einem nachhaltigen Ernährungssystem beitragen kann. Da ist zum einen das Menü-Angebot in ihren Kantinen, Kitas, Tagesschulen und Alters- und Pflegeheimen: Was die Leute dort essen, kann die Stadt steuern. Doch eine Vorschrift für vegetarische und vegane Mahlzeiten hat der Stadtrat kürzlich abgelehnt. «Die Stadt könnte aber zum Beispiel Anbieter*innen lokal und nachhaltig produzierter Lebensmittel die Standgebühr auf dem Wochenmarkt erlassen», schlägt Matthias Meier vor. Oder Plätze zur Verfügung stellen für Quartiergärten, in denen Gemüse wächst.
Auch Bildungsarbeit sei wichtig, sagt Meier: «Viele Menschen verstehen nicht, wie gross der Einfluss ihrer Ernährung auf die Umwelt ist.» Er hofft, dass die Konsument*innen nachhaltiger einkaufen, wenn sie mehr über ihr Essen wissen. Besonders relevant sei das, weil die meisten Lebensmittel über den Detailhandel zu den Kund*innen gelangen: «Dort kann die Stadt natürlich keine Vorschriften erlassen.» Meier schwebt vor, dass Kinder in der Schule besser und früher über die Ernährung und ihre Auswirkungen unterrichtet werden; Erwachsene erreiche die Stadt mit Öffentlichkeitsarbeit. Eine entsprechende Plakatkampagne wurde in der Stadt Bern aber kürzlich sistiert, weil das Budget fehlte.
Der Bürger*innenrat
Auch ausserhalb der Forschungsstuben werkeln Menschen am Entwurf eines nachhaltigen Ernährungssystems. Zum Beispiel Daniel Bachofner aus Bümpliz und Claudia Bösiger aus Detligen, beide 49-jährig. Der Aussendienstmitarbeiter und die Berufsschullehrerin und Juristin sind Mitglied im Bürger*innenrat für Ernährungspolitik. Während eines halben Jahres sollen die 85 per Los bestimmten Ratsmitglieder herausfinden, wie ein Ernährungssystem in der Schweiz aussehen könnte, das nachhaltige, gesunde und tierfreundliche Lebensmittel zur Verfügung stellt, die unter fairen Bedingungen produziert worden sind und dann Forderungen an die Politik formulieren.
An einem Samstagmorgen im Juli reisen Bachofner und Bösiger mit weiteren Ratsmitgliedern aus der ganzen Schweiz zum Restaurant Werkhof im Liebefeld, ausgerüstet mit Notizblock und Kugelschreiber. Regelmässig besuchen sie Bauernhöfe und Restaurants, die nach Einschätzung der Projektleitung bereits heute vorbildlich wirtschaften. Die Besuche sollen die Ratsmitglieder inspirieren für die Arbeit am Forderungskatalog.
Der Werkhof im Liebefeld dient als Studienobjekt, weil dort nur Lebensmittel aus der Schweiz auf die Teller kommen. Möglichst lokal sollen sie sein, gerne biologisch angebaut.
Nach einer kurzen Führung durch die Räume des Betriebs erläutert das Werkhof-Team den Ratsmitgliedern weitere Teile seiner Philosophie: Eine Speisekarte gibt es nicht – die Gäste können einzig die Anzahl Gänge wählen, so soll Foodwaste verhindert werden. Es wird viel Wert darauf gelegt, die Produzent*innen zu kennen. Für Veganer*innen seien sie offen, servieren aber Fleisch, weil Tierprodukte «einfach dazugehören». Und sie machen auf den Widerspruch aufmerksam, dass viele Leute sorglos neue Smartphones und Kleider kaufen, sich bei Nahrungsmitteln hingegen über jeden gesparten Rappen freuen.
Da wird Claudia Bösiger hellhörig: «Nicht alle Menschen können es sich leisten, regional und biologisch einzukaufen. Manchen fehlt zudem die Zeit, sich mit der Herkunft des Essens zu beschäftigen.» Die Lebensmittel zu einem günstigeren Preis anzubieten sei aber auch nicht die Lösung, findet Bösiger, denn so würde den Produzent*innen der Lohn fehlen. Hier klingt Claudia Bösiger ganz wie die Soziologin Evelyn Markoni von der BFH-HAFL.
«Das Preisdilemma ist mir während der Arbeit im Bürger*innenrat bewusst geworden», sagt Bösiger. In regelmässigen Online-Treffen tauschen sich die Teilnehmer*innen aus und bilden sich weiter. In der Lage, konkrete Forderungen an Politiker*innen zu stellen – was das Ziel bis im November ist – fühlt sich Claudia Bösiger trotzdem nicht. Zu komplex seien die Zusammenhänge.
Daniel Bachofner nickt. «Das halbe Jahr ist zu kurz, um fundierte Vorschläge zu formulieren. Und die Diskussionen gehen zu wenig in die Tiefe, weil das Fachwissen fehlt.» Zwar begleiten Wissenschaftler*innen den Bürger*innenrat. Aber ihre Inputs seien zu kurz und oberflächlich, sind sich Bösiger und Bachofner einig.
Hinter dem Bürger*innenrat stehen die Stiftung Biovision, der Verein Landwirtschaft mit Zukunft und das Netzwerk für Nachhaltigkeitslösung. Auch der Bund beteiligt sich mit rund 400'000 Franken am Projekt. Der Rest der Gesamtkosten von 1,3 Millionen Franken kommt von Stiftungen und den Trägerorganisationen.
Markus Ritter, Präsident des Bauernverbandes und Mitte-Nationalrat, äussert sich kritisch in der Aargauer Zeitung: Dem Bürger*innenrat fehle die demokratische Legitimation, Staatsgelder seien da unangebracht. Kilian Baumann hingegen, Präsident der Kleinbauernvereinigung und Grüne-Nationalrat, findet das Gremium eine Bereicherung, weil die Politik im Bereich der Ernährung oft nicht im Sinne der Gesellschaft entscheide.
Bürger*innenräte sind keine Fremdkörper in Demokratien: In der Stadt Winterthur diskutierten in diesem Sommer 22 ausgeloste Menschen, wie die lokale Lebensmittelproduktion gefördert werden kann. Ende Jahr informiert die Stadt, wie sie die Empfehlungen umsetzen will. Und in Uster befassten sich 20 ausgeloste Bürger*innen mit Klimaschutz und Abfallvermeidung.
Akteur*innen vernetzen
Evelyn Markoni und Matthias Meier von der BFH-HAFL finden den Bürger*innenrat eine «gute Idee». Komplizierte wissenschaftliche Erkenntnisse würden so in eine für viele Menschen verständliche Sprache runtergebrochen und sich über Gespräche von Ratsmitgliedern mit Freund*innen und Familien in der Gesellschaft verbreiten. Auch könnten so Bürger*innen am Wandel zu einem nachhaltigen Ernährungssystem aktiv mitwirken.
Das Forschungsprojekt zum Stadtberner Ernährungssystem, das vom Berner Amt für Umweltschutz und der Stiftung Mercator Schweiz finanziert wird, dauert bis Ende 2024. Zwischenresultate sollen der Öffentlichkeit fortlaufend an unterschiedlichen Veranstaltungen kommuniziert werden.
Erwarten könne man aber nicht die eine Lösung, eher ein «Bündel mit unterschiedlichen Massnahmen und Handlungsempfehlungen», betonen Markoni und Meier. «Wir freuen uns sehr, dass die Stadt unsere Forschung unterstützt. Nur gemeinsam mit Politik, Verwaltung, Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft schaffen wir einen Wandel zu einem nachhaltigen Ernährungssystem», so Markoni.
Evelyn Markoni engagiert sich auch in ihrer Freizeit für eine nachhaltige Ernährung in der Stadt Bern. Sie ist im Vorstand des Ernährungsforum Bern, das Akteur*innen aus dem Berner Ernährungssystem zusammenbringt und verschiedene Anlässe organisiert wie die Berner Food Talks.
Und sie ist Botschafterin bei «Bären Hunger». Der Verein betreibt von September bis Oktober dieses Jahres ein Pop-Up in der Adrianos-Filiale im Berner Bahnhof mit einem «nachhaltigen, zukunftsfähigen, ökologischen, regionalen und leckeren» Angebot.
Wenn die Politik untätig bleibt, handeln die Bürger*innen eben selbst.