«Von zu Hause kam die Ansage: Red mit niemandem darüber!»
Der Theaterschaffende Dennis Schwabenland (42) hat als Jugendlicher den sozialen Abstieg seiner Familie miterlebt. Darüber gesprochen hat er nie. Nun bringt er die Geschichte als Stück auf die Bühne.
Dennis Schwabenland, Ihr Vater verlor seinen Job, als Sie 16 waren. Wie hat Sie das beeinflusst?
Es prägte mein Leben stark. Ich bin im Ruhrgebiet aufgewachsen, mein Vater hat beim Grosskonzern Tengelmann gearbeitet, das war damals ein bedeutender und überall präsenter Lebensmittelhändler in Europa.
Und warum wurde Ihr Vater arbeitslos?
Die Firma hat sich in den 1990ern während einer Rezession verspekuliert. Da Tengelmann ein Familienunternehmen ist, gab man den Stab an die nächste Generation weiter. Als Junior Karl-Erivan Haub übernahm, hat er radikale Methoden angewendet und 25’000 Menschen entlassen. Mein Vater war als einfacher Einkäufer einer der Ersten. Um die Abfindung zu drücken, haben sie die Entlassenen beschuldigt, Fehler gemacht zu haben. Daraufhin gab es bei uns zu Hause sogar eine Polizeirazzia. Irgendwann hat mein Vater gesagt, okay, ich kämpfe nicht mehr. Hauptsache, das hört auf.
Dennis Schwabenland (42) lebt seit über 20 Jahren als freischaffender Theaterautor, -regisseur und -schauspieler in Bern. Er kam ursprünglich hierher, um die Schauspielschule zu absolvieren. 2008 gründete er zusammen mit Benjamin Spinnler und Christoph Keller die Theatergruppe PENG! Palast. Von seiner neuen Gruppe Thecodes stammt das Stück «Mülheim Absturz Ruhr», mit dem er seine persönliche Familiengeschichte aufarbeitet. Es feiert am 28. November Premiere im Schlachthaus Theater in Bern.
Ihr Vater hat danach nie mehr auf die Beine gefunden.
Nein, wir sind von der unteren Mittelschicht abgerutscht bis in die Sozialhilfe, was in Deutschland Hartz IV hiess. So habe ich meine Jugend verbracht.
Was heisst das?
Von zu Hause kam die Ansage: Red mit niemandem darüber! Da war so viel Scham. Die Schuld wird ja immer dem Individuum zugeschoben. Auch meine Eltern hatten diesen Leistungsmythos verinnerlicht, der sie dazu brachte, die Fehler bei sich selbst zu suchen. Statt das eigentliche Problem zu benennen: ein Systemfehler.
Wie sind Sie damit umgegangen?
Ich habe das in mich hineingefressen. Nicht mit Freunden und Kollegen in der Schule darüber gesprochen. Sie wussten es gar nicht. Als ich jetzt Werbung für mein Theaterstück machte, haben sich Leute aus der Schulzeit bei mir gemeldet und gesagt, hey, das wusste ich gar nicht.
Als Jugendlicher einen Polizeieinsatz in den eigenen vier Wänden zu erleben, stelle ich mir beängstigend vor.
Ja, es war krass. Sie kamen um halb sieben Uhr morgens, wir lagen noch im Bett. Sie haben alles durchsucht. Jeden Schrank aufgemacht.
Auch in Ihrem Zimmer?
Ja, auch in meinem Zimmer. Es ist ja ein Eindringen in die Privatsphäre. Wobei mir das in dem Moment nicht bewusst war. Danach war ich wütend, aber wusste nicht, an wen ich diese Wut richten sollte. Bis ich im Fernsehen politische Filme sah und entschied: Ich werde Schauspieler.
Der Polizeieinsatz machte Sie zum Schauspieler?
Ja, ich habe gedacht, irgendwie macht es Sinn, in dieser Form Kritik am System zu äussern. Weil es humorvoll oder traurig sein kann, aber an die Nieren geht. Genau das möchte ich machen.
Wobei Schauspieler ja meistens nicht selbst bestimmen können, was sie machen, sondern Anweisungen befolgen müssen.
Die klassische Schauspielerei hat mich nach der Schauspielschule nicht so interessiert. Ich wollte eher politische Sachen machen, war auf der Suche nach mehr Gerechtigkeit. Da spricht immer noch der 16-Jährige in seiner Ohnmacht aus mir.
Sie sind mit Anfang 20 nach Bern an die Schauspielschule gekommen.
Manchmal frage ich mich, warum ich hier gelandet bin. Ich kannte die Schweiz nicht, meine Eltern gehörten nicht der Klasse an, die Skiferien machte. Ich war völlig naiv. Aber ich glaube, es ist eben kein Zufall. Es gab damals recht viele Dozenten aus dem Osten Deutschlands, die direkt nach der Wende in die Schweiz gekommen sind und die ich als stark politisch denkende Theatermacher erlebt habe. Ihnen hat mein Vorsprechen wohl entsprochen. Die US-Essayistin Cynthia Cruz sagt, dass Leute, die in tiefen sozialen Schichten aufwachsen, diese Umstände verlassen müssen, um aus der Distanz darauf schauen zu können. Ansonsten sind sie zu sehr darin gefangen.
Bern gab Ihnen mehr Distanz.
Genau, aber ich habe an der Schauspielschule und auch danach nicht über meine Familienverhältnisse gesprochen. Erst vor drei Jahren habe ich mir Zeit genommen, nach Corona. Der Auslöser war, dass Karl-Erivan Haub, dieser Firmenchef, der meinen Vater damals entlassen hat, 2018 unter mysteriösen Umständen in den Schweizer Bergen verschollen ist. Wenn das nicht passiert wäre, hätte ich das Stück vielleicht gar nicht gemacht. Danach habe ich meinen Vater zum ersten Mal gefragt: Hast du den gekannt? Was ist damals eigentlich wirklich passiert?
Das Verschwinden des Firmenbosses half Ihnen.
Ja, ich hatte auf einmal zwei Geschichten, die ich erzählen kann. Den Absturz meiner Familie, aber auch den anderen Absturz, den des Firmenchefs, in eine Gletscherspalte oder wohin auch immer.
Sie sprechen vom Absturz Ihrer Familie, wie muss ich mir das vorstellen?
In Deutschland heisst Sozialhilfe ja eben auch: sehr wenig Geld vom Staat. Das waren damals zweimal 330 Euro pro Monat. Und dann zahlten sie noch einen Teil der Wohnung. Die Wohnung, in der wir lebten, war eigentlich zu teuer, sie war an andere Hoffnungen geknüpft, die Hoffnungen an ein mittelständisches Leben. Und dann gab es immer Sanktionsandrohungen. Meine Mutter musste für 1 Euro die Stunde in der Kirche arbeiten und mein Vater musste Kochkurse machen, wo er lernte, aus altem Brot Brotsalat zu machen. Da kann man sagen, ist ja mega lecker, aber es ist halt auch ein bisschen doppeldeutig: Wenn du nur altes Brot hast, dann mach doch diesen feinen Brotsalat. Mein Vater begann zu trinken.
Was bedeutete das?
Meine Eltern isolierten sich sozial. Sie zogen sich zurück in die eigenen vier Wände. Vorher hatten sie immer irgendwelche Freunde bei sich zu Hause. Das hat peu à peu abgenommen. Misstrauen ist entstanden. Diese Isolierung ist heute extrem fortgeschritten. Meine Eltern verlassen die Wohnung kaum.
Und trotzdem haben Sie einen so unsicheren Beruf gewählt.
Ja, sie hätten natürlich lieber gehabt, dass ich etwas Solides mache. Eine Banklehre oder so. Ich habe mich da überhaupt nicht gesehen. Aber schliesslich sagten sie, okay. Sie haben es geduldet.
Waren Ihre Eltern sofort einverstanden damit, dass ihre Geschichte auf die Bühne kommt?
Das Stück basiert zu Teilen auf Interviews mit meinen Eltern. Sie lasen eine erste Stückfassung als Erste. Wir haben dann über das Stück gesprochen. Manche Stellen sind für sie schwierig, aber anders als ich gedacht hätte. Es ging gar nicht darum, ob etwas vorkommt oder nicht, sondern darum, wie ich Ereignisse wahrgenommen habe. Das Stück ist mein Blick auf unseren familiären Absturz. Es gibt zum Beispiel eine Szene, wo mir als 16-Jähriger der Kragen platzt und ich denke, dass mein Vater zur Einsicht kommt, wenn ich seine Flaschen ausschütte. Und mein Vater mich packt und sagt, das ist scheisse, was machst du? Solche Szenen habe ich sehr verdichtet beschrieben. Das ist für meine Eltern nicht leicht. Wobei das meine Geschichte ist, die ich teile. Auch wenn ein Teil von ihnen drin ist.
War das heilsam für Ihre Beziehung zu den Eltern?
Das wird sich zeigen. Sie kommen nicht an die Premiere, sie werden das Stück erst schauen, wenn wir es nächstes Jahr in meinem Heimatort Mülheim an der Ruhr spielen. Ich würde schon sagen, dass die Beziehung gestärkt wurde. Schon nur, weil man endlich begonnen hat, darüber zu sprechen. Ich habe meinen Eltern erklärt, es gehe nicht darum, sie in die Pfanne zu hauen, sondern ihnen ein Ohr zu leihen. Und somit eine Stimme zu geben. Sie haben nichts falsch gemacht.
Was möchten Sie mit Ihrem Stück erreichen?
Mein Ziel ist, die Statue dieses Leistungsmenschen herunterzureissen. Karl-Erivan Haub, der Junior dieser Firma, wird bis heute von vielen als Vorbild gesehen. Dabei sollten meine Eltern auf dem Sockel stehen, nicht er. Auch wenn es bei uns im Familiären Reibung gab. Es war eine schwierige Situation, die ich nicht beschönigen möchte.
Wie hat Ihre Familiengeschichte die Art, wie Sie Theater machen, beeinflusst?
Es hat mich in der Themenwahl beeinflusst. Darum habe ich nach der Schauspielschule das Theaterkollektiv «Peng! Palast» gegründet. Darum hiess unser erstes Stück «Hamlet Massiv». Darin spielte ich einen sehr fatalistischen, patriarchalen, alkoholsüchtigen Hamlet in einem Sessel. Ab 2014, mit dem Stück «Fight-Palast» (frei nach dem Film «Fight Club») habe ich angefangen, andeutungsweise miteinfliessen zu lassen, in welchen Lebensumständen ich aufgewachsen bin. Ich wollte immer das politische System hinterfragen und neue Räume finden. Antworten auf die Frage: Wie kann ein Zusammenleben aussehen?
Wie viel Mut braucht das?
Schon sehr viel. Manchmal frage ich mich, warum ich es mache. Irgendwie mache ich mich nackt.
Sie sind jetzt ähnlich alt wie Ihr Vater, als er aus dem System fiel. Macht Ihnen das Angst?
Natürlich! Ich habe Existenzsorgen seit meiner Jugend, aber die sind in den letzten Jahren stärker geworden. Vor allem, weil ich jetzt selbst Vater bin. Ich muss für meinen Sohn sorgen. Mit dem Theater habe ich kein Fixeinkommen. Manchmal denke ich mir schon, wie lange ich diesen Beruf noch ausüben kann. Vor einem halben Jahr war es noch schlimmer und es gab komische Parallelen zum Text: Ich hatte zeitweise kaum noch Geld zum Leben – viele abgelehnte Förderanträge, kaum Jobs und das Abrutschen bis fast ans Existenzminimum. Ich habe mich ein bisschen wie mein Vater gefühlt. Oh nein, dachte ich, jetzt durchlebe ich diese ganze Scheisse nochmal. Ich wurde dann super unentspannt und angestrengt.
Die Angst vor dem sozialen Abstieg…
Ja, ich glaube, dass das Thema einen Nerv trifft und diese Angst ganz viele Menschen nachvollziehen können. Da wiederholen sich gerade Dinge. Ich persönlich rede mir halt ein, dass es bisher ja immer weiterging und nun auch weitergehen wird. Aber was, wenn es diesmal nicht so ist? Als ich damals in die Schweiz kam, hatte ich 400 Euro von meinem Opa pro Monat, das war alles. Und ich habe neben dem Studium jeden Job gemacht, den ich kriegen konnte. Man ist ja dann noch jünger und braucht weniger. Doch das sind Erfahrungen, die einen prägen.
Ein grosser Unterschied zu Ihren Eltern ist, dass Sie über diese Abstiegsangst sprechen.
Absolut. Es gibt ja Verständnis für diese Situation. Und sie ist der Antrieb für meine Kunst. Wenn ich das alles nicht erlebt hätte, könnte ich nicht so Theater machen. Diese Erfahrung macht mich zu dem Menschen, der ich jetzt bin.
Das Theaterstück «Mülheim Absturz Ruhr» von Dennis Schwabenland läuft ab 28.11. im Schlachthaus Theater, Bern. Vorstellungen bis 6.12.
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