Was essen wir?
Vielen Menschen wird es wichtiger, woher ihr Essen kommt und wie es produziert wird. In den nächsten beiden Wochen widmet sich die «Hauptstadt» der lokalen Ernährung.
Fährt der Zug aus Zürich in Bern ein, wirkt der Bauernhof am Uferweg unten an der Aare wie ein Postkartensujet. Er gaukelt Landleben in der Stadt vor. In Wirklichkeit sind Bauernhöfe in der Stadt Bern dünn gesät. Es gibt den städtischen Bauernhof Elfenau, der bei kleinen Kindern weitherum bekannt ist, weil sie dort Tiere streicheln können. Und dann gibt es vor allem Höfe im Berner Westen, in Oberbottigen-Riedbach, dessen städtischste Eigenschaft die Postleitzahl ist. Dort empört sich niemand über Güllegestank oder Fliegen, die überall zahlreich sind, wo Tiere wohnen.
Abos und solidarische Landwirtschaft
Stadtlandwirtschaft im Sinn von Landwirtschaft in der Stadt gibt es also nicht. Und doch gibt es sie. In den letzten Jahren ist es vielen Menschen wichtiger geworden, woher ihre Lebensmittel stammen. Während ein Restaurant vor zehn Jahren damit punkten konnte, wenn es ausschliesslich regionale und saisonale Speisen anbot, ist das heute kein Alleinstellungsmerkmal mehr. Abos, mit denen Gemüse direkt von Bauernhöfen zu den Konsument*innen geliefert werden, sind in der Region Bern so zahlreich, dass der Überblick schwerfällt.
Und wer als Städter*in nicht blindlings den Bäuer*innen vertrauen will, hat sich einer solidarischen Landwirtschaftsinitiative angeschlossen, bei der die Konsument*innen die Produzent*innen anstellen, die Arbeits- und Anbaubedingungen selber bestimmen – und als Gegenleistung das erhalten, was geerntet wird. Das Radiesli in Worb war die erste solidarische Landwirtschaft im Raum Bern, seit 2016 bewirtschaftet die Initiative einen ganzen Hof. Es ist die wohl kompromissloseste Art von Stadtlandwirtschaft.
Für Lebensmittel gab ein durchschnittlicher Haushalt 2019 rund 12 Prozent seines Budgets aus.
Doch trotz der zahlreichen alternativen Angebote: Nur ein kleiner Teil der Berner*innen konsumiert so, die Mehrzahl kauft immer noch bei Grossverteilern ein. 67 grosse Supermärkte von über 1’000 Quadratmetern Fläche gibt es im Kanton Bern laut dem Bundesamt für Statistik (Erhebung von 2019). Von den 10’254 landwirtschaftlichen Betrieben im Kanton sind gut 13 Prozent biologisch bewirtschaftet. Pro Person wurden 2020 rund 844 Kilogramm Nahrungsmittel verbraucht, davon waren 532 Kilogramm pflanzlichen und 312 Kilogramm tierischen Ursprungs, wobei der Fleischkonsum 47,4 Kilogramm pro Person betrug.
Für diese Lebensmittel gab ein durchschnittlicher Haushalt 2019 rund 12 Prozent seines Budgets, beziehungsweise fast 1’200 Franken pro Monat, aus – inklusive Mahlzeiten und Getränke in Restaurants. Gut ein Zehntel dieses Budgets – 125 Franken – ging für Fleisch drauf.
12 Prozent klingt nach viel, ist aber im historischen Vergleich wenig: 1969 betrug der Anteil der Konsumausgaben für Ernährung noch 31 Prozent, 1979 20 Prozent. Wir geben also – gemessen an unserem Budget – immer weniger für Ernährung aus. Und sind auch nicht bereit, mehr für Nahrungsmittel zu zahlen. Das ist jedenfalls der häufig gehörte Einwand, warum die Landwirtschaft den Anteil nachhaltig produzierter Lebensmittel nicht erhöht.
Im Vorfeld der Initiative
Die Kosten sind auch ein Hauptargument gegen die Massentierhaltungsinitiative, über die die Schweizer Stimmberechtigten am 25. September abstimmen. Die Initiative will strengere Vorgaben in der Nutztierhaltung, was vor allem Schweine und Hühner betreffen würde. Die Tiere sollen mehr Platz und Auslauf erhalten – der Standard mit einer langen Übergangsfrist demjenigen der Bioproduktion angepasst werden.
Die meisten Bäuer*innen sind dagegen. Demeter-Bauer Fritz Sahli aus Schüpfenried bei Wohlen ist einer der wenigen, der sich öffentlich für die Initiative ausspricht. «Lebensmittel müssen nicht unbedingt teurer werden, wenn besser auf das Tierwohl geachtet wird», findet er. Als Beispiel fügt er Geflügelbratwürste an, die er aus dem Fleisch ausgedienter Legehennen herstellen lässt.
Wie sieht ein Lebensmittelkonsum aus, der weder Klima noch Menschen ausbeutet?
Die «Hauptstadt» wird sich in den nächsten zwei Wochen mit unterschiedlichen Aspekten der Nahrungsproduktion in Bern beschäftigen. Wir besichtigen eine Pouletmast, wo Hühner in 35 Tagen auf ihr Schlachtgewicht gemästet werden, wir berichten von milchlosem Käse aus Cashew-Nüssen, einem Bio-Bohnenfeld von zwei Hektaren, das mit der Maschine abgeerntet wird, wir widmen uns der Preispolitik bei der Hafermilch, Anbinde- und Auslaufställen von Kühen und der Forschung zum Essen der Zukunft. Und wir haben Fritz Sahli in Schüpfenried besucht, der erzählt, wie schwierig es ist, sich gegen die Meinung des mächtigen Bauernverbands zu stellen.
In unserem Schwerpunkt Stadtlandwirtschaft fragen wir hier in Bern: Wie kann die Zukunft der Landwirtschaft nachhaltig gestaltet werden? Wie sieht ein Lebensmittelkonsum aus, der weder Klima noch Menschen ausbeutet? Und verstehen die Konsument*innen in Stadt und Agglomeration eigentlich, was da auf dem Land vor sich geht?
Zum Schluss ein Lichtblick für alle, die sich für einen nachhaltigeren Konsum einsetzen: Auch wenn die Massentierhaltungsinitiative vermutlich chancenlos bleiben wird, ein Umdenken in der Bevölkerung findet trotzdem statt. So hat Kilian Baumann, Nationalrat der Grünen und selber Bauer, festgestellt, dass inzwischen ein gesellschaftlicher Konsens herrsche, weniger Fleisch zu konsumieren: «Während grüne Politiker*innen vor zwei, drei Jahren noch für solche Äusserungen angegriffen wurden, können heute sogar Mitte-Politiker*innen fordern, man solle weniger Fleisch essen.»