Drinnen schlafen ohne Wohnung
In Bern gibt es mehr Obdachlose. Deshalb hat die Stadt eben eine neue Strategie in Kraft gesetzt. Die häufig von Obdachlosigkeit betroffenen Sans-Papiers werden in den Massnahmen wenig berücksichtigt.
Seit die Tage kälter geworden sind, fällt auf, wie viele Menschen unter den Lauben und vor den Ladeneingängen ihr Schlaflager eingerichtet haben.
Ist es die Jahreszeit, die die Brutalität von Wohnungslosigkeit mehr ins Bewusstsein rückt? Fallen die Schlafsäcke und ausgerollten Decken deshalb mehr auf? Oder sind es schlichtweg mehr Menschen als sonst, die draussen auf der Strasse schlafen?
Massnahmen in der Not
Es sind tatsächlich mehr Menschen, die auf der Gasse leben, sagt die Stadt. Die Zählungen von Pinto, der aufsuchenden Sozialarbeit der Stadt, ergeben, dass zurzeit 44 Menschen auf der Strasse schlafen. Bis 2019 lag diese Zahl stabil unter 20 Personen, nach einigen Schwankungen sei sie ab 2021 kontinuierlich gestiegen, so die Statistik von Pinto.
Die Stadt hat deshalb Ende November mit der «Strategie Obdach 2024-2027» auf die steigenden Zahlen reagiert. Darin hält sie fest, dass die bisherigen Angebote für Obdachlose nicht ausreichen. Die letzte Strategie zu Obdachlosigkeit stammt aus dem Jahr 2009. Damals gab es nur halb so viele Notschlafplätze wie heute und das Angebot galt als bedarfsgerecht. Im nun geltenden Massnahmenplan müssen mehr Schlafplätze her.
Passantenheim: Wird von der Heilsarmee betrieben und befindet sich an der Muristrasse im Gryphenhübeli-Quartier. Es bietet 60 Schlafplätze, darunter 10 Plätze ausschliesslich für Frauen. Das Passantenheim verfügt über einen Leistungsvertrag mit der Stadt, wird von ihr also erheblich finanziell unterstützt.
Sleeper: Wird vom Verein Pro Sleeper betrieben und befindet sich an der Neubrückstrasse beim Henkerbrünnli. Er bietet 20 Schlafplätze, darunter 6 Plätze ausschliesslich für Frauen. Der Sleeper verfügt über keinen Leistungsvertrag mit der Stadt.
Pluto: Ist eine Notschlafstelle für Minderjährige und junge Erwachsene und befindet sich an der Studerstrasse. Sie wird vom Verein «Rêves sûrs - Sichere Träume» getragen und betrieben. Die Notschlafstelle bietet 7 Schlafplätze. Pluto verfügt über keinen Leistungsvertrag mit der Stadt.
Aber: Wie kommt die Stadt zu mehr Schlafplätzen? Als kurzfristige Notmassnahme hat sie zusätzliche Wohnungen angemietet. Nun stehen ergänzend 15 Studios und eine 4-Zimmer-Wohnung zur Verfügung, die bei voller Auslastung 50 Schlafplätze hergeben, erklärt Claudia Hänzi, Leiterin des Sozialamts, auf Anfrage. Dieses erweiterte Angebot bestehe allerdings nur den Winter über.
Der Aufenthaltsraum «Punkt 6» an der Nägeligasse verlängert ausserdem seine Öffnungszeiten am Abend: Er wird von Pinto betreut und bietet obdachlosen Menschen von November bis März tagsüber einen warmen Aufenthaltsort sowie ein einfaches Frühstück, Duschen, WLan und Notbetten.
Blick in die Zukunft
Aber auch langfristig möchte die Stadt das Angebot für Obdachlose erweitern. Schon länger zur Diskussion steht eine Notschlafstelle für Frauen. Eine Motion, die eine solche Notschlafstelle fordert, wurde im Stadtrat im März dieses Jahres angenommen. Durch die Präsenz von Cis-Männern fehle den Frauen ein ausreichender Schutzraum, argumentierte Eva Chen (AL). Dieses Argument nimmt die Stadt nun auf: Frauen in der Obdachlosigkeit seien häufiger von sexualisierter Gewalt bedroht als Männer, schreibt sie in der Strategie. Laut Befragungen fühlen sich viele Frauen in gemischtgeschlechtlichen Notschlafstellen nicht sicher und meiden diese eher. Doch auch wenn der Bedarf erkannt ist: Wie, wo und wann die Notschlafstelle für Frauen realisiert wird, führt die Strategie nicht aus.
Besonders vulnerabel sind ausserdem obdachlose Menschen mit schwerwiegender psychischer Belastung. Der Aufenthalt in Mehrbettzimmern sei für sie häufig nicht möglich. Die Stadt plant deshalb, in einem späteren Schritt fünf bis sieben Einzelunterkünfte bereitzustellen. Es gehe darum, diese Menschen vor dem Erfrieren zu bewahren, steht in der Strategie.
Zuerst die Wohnung, dann alles andere
Einen neuen Kurs schlägt die Stadt mit dem Pilotprojekt «Housing First» ein, eine Massnahme, die zurzeit viel gelobt wird: Wohnangebote können von Nutzer*innen meist nur angenommen werden, wenn sie eine Therapie oder Betreuung in Anspruch nehmen. Mit «Housing First» soll diese Bedingung verschwinden. Das mache Wohnangebote für Obdachlose zugänglicher, da viele von ihnen vor einer Therapie zurückschrecken würden. Den Betroffenen zunächst eine sichere Wohnsituation zu ermöglichen, sei meist ein erster wichtiger Schritt. «Housing First» hat sich in Finnland bereits als erfolgreiches Modell erwiesen.
Wann und wie dieses Pilotprojekt gestartet wird, ist aber noch unklar: Man sei mit möglichen Anbieter*innen im Gespräch, könne aber noch nichts über Eckdaten sagen, so Sozialamtsleiterin Hänzi.
Ebenfalls prüfen will die Stadt das Angebot einer medizinischen Grundversorgung für Menschen ohne Krankenversicherung. Es könnte etwa in bestehende Anlaufstellen für Obdachlose integriert werden.
Sans-Papiers profitieren kaum
Wer in all den Plänen zu kurz kommt, sind Menschen ohne gültige Aufenthaltspapiere. Das niederschwellige Wohnangebot «Housing First» sei für Sans Papiers nicht zugänglich, da man sich registrieren müsse, sagt Jörg Dittmann, Dozent an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW). Er leitete 2020/21 eine Studie über Obdachlosigkeit in acht grossen Schweizer Städten – darunter auch Bern.
Sans Papiers machen laut Dittmanns Studie einen Grossteil der Betroffenen aus: 61 Prozent aller Menschen, die von Obdachlosigkeit in Schweizer Städten betroffen sind, würden über keinen offiziellen Aufenthaltsstatus verfügen, so Dittmann. Sie könnten aus Angst vor Konsequenzen wie zum Beispiel einer Ausschaffung kaum die für Menschen ohne Obdach vorgesehenen Hilfen in Anspruch nehmen, kritisiert er. Das sei nicht tragbar. Die Situation würde sich seiner Meinung nach dann verbessern, wenn sich auf höherer politischer Ebene etwas ändert. Etwa was die Praxis mit Härtefallgesuchen anbelange.
Fehlende Partizipation
Die Kirchliche Gassenarbeit Bern leistet aufsuchende Sozialarbeit im öffentlichen Raum und stellt einen Aufenthaltsraum zur Verfügung, der Treffpunkt und Beratungsort ist. Sie befürwortet, dass die Stadt das Angebot für Obdachlose ausbauen will. Allerdings hat sie auch Vorbehalte, wie Sozialarbeiterin Nora Hunziker im Gespräch mit der «Hauptstadt» erläutert.
«Schon lange machen wir, insbesondere im Winter, darauf aufmerksam, dass das Angebot nicht ausreicht. Aber in die Ausarbeitung der Strategie Obdach wurden wir nicht miteinbezogen», sagt sie.
Im Vergleich mit Basel hat Bern damit etwas Wichtiges unterlassen: Im Rahmen von Dittmanns Studie haben sich im Kanton Basel-Stadt 2018 ein Grossteil der Akteur*innen aus der Obdachlosenhilfe an einen Tisch gesetzt, um Bedarf und Lösungen zu diskutieren. Das erleichtere die Zusammenarbeit der verschiedenen Akteur*innen deutlich, so Wissenschaftler Dittmann.
Hunziker von der kirchlichen Gassenarbeit betrachtet die Massnahmen der Stadt vor allem als Symptombekämpfung. Wolle man Obdachlosigkeit an der Wurzel bekämpfen, müsse man bei der marktorientierten Wohnungspolitik ansetzen, aufgrund derer Wohnungen für viele nicht mehr erschwinglich seien.
Das unterstreichen die Zahlen, die in der Studie der FHNW erhoben wurden: Rund 2100 Menschen in der Schweiz seien obdachlos. Weitere 8000 seien gefährdet, ihre Wohnung zu verlieren und obdachlos zu werden. Die Prävention von Obdachlosigkeit sollte laut Hunziker also zu einer Strategie Obdach gehören.
In den Notschlafstellen ist der Handlungsbedarf konkret zu spüren: Die Notschlafstelle Sleeper sei diesen Winter, wie auch schon in den Wintern zuvor, «übervoll», erzählt eine Mitarbeiterin. Regelmässig müssten Nutzer*innen im Notbett und im Küchenbett untergebracht werden.
Die Nöte der Betroffenen sind so essenziell, dass zuerst die dringendsten geregelt werden müssen. Auf die Frage, was die Notschlafstelle gerade braucht, antwortet die Mitarbeiterin: «Socken. Socken und Trainerhosen, am besten in den Grössen M und L, die passen fast allen aufs Füdli».