Wie viel Vertrauen braucht es in der Badi?
Zur Hochsaison des Aareschwumms macht sich Philosophie-Kolumnist Christian Budnik Gedanken über vertrauensvolles Sonnenbaden und Fürsorge im Fluss.
Über viele Dinge kann man meinetwegen gerne unterschiedlicher Meinung sein, aber nicht darüber, dass das Beste an Bern die Aare und die Badis sind. Wie viele Sommer habe ich auf der einen oder anderen Badiwiese verbracht, während ich eigentlich andere Dinge hätte tun müssen! Und doch kommen mir diese Sonnenstunden nicht wie verschwendete Zeit vor.
Schon eher muss ich ab und zu daran denken, dass es nicht ganz ungefährlich ist, was ich da seit Jahren mache. Da liege ich manchmal mit geschlossenen Augen in der Sonne, höre vielleicht über Kopfhörer Musik und bin auf diese Weise möglichen Übeltäter*innen schutzlos ausgeliefert. Ist das nicht im Grunde waghalsig? Vielleicht sogar auf kritikwürdige Weise fahrlässig? Woher weiss ich denn, dass mich im sanften Halbschlaf niemand bestehlen oder überfallen wird?
Vertrauen macht das Leben leichter
Eine gute Antwort auf diese Frage wäre, dass das eben nicht garantiert werden kann, und dass wir hier keine Gewissheit erwarten können. Wir müssen uns diesbezüglich aber auch nicht sicher sein, solange wir darauf vertrauen können, dass wir in der Badi nicht überfallen werden. Im Rahmen philosophischer Vertrauenstheorien wird angenommen, dass der Wert von Vertrauen gerade darin besteht, uns in verschiedenen Kontexten das Leben leichter zu machen: Wer vertraut, braucht nicht ständig nach Dieb*innen Ausschau zu halten.
Genauso stellt Vertrauen aber auch die Voraussetzung dafür dar, dass wir unsere Kinder in die Kita geben, ein Essen im Restaurant geniessen können oder ohne Angst in einen Bus steigen. In all diesen Zusammenhängen können wir nicht ganz sicher sein, dass uns nicht übel mitgespielt wird, und dennoch setzen wir darin wichtige Güter aufs Spiel.
In der philosophischen Diskussion hat es sich eingebürgert, zwischen Vertrauen und blossem Verlassen zu unterscheiden.
Wenn ich völlig entspannt auf der Badiwiese liege, verhalte ich mich also keinesfalls waghalsig – vorausgesetzt ich kann darauf vertrauen, dass mir vonseiten der anderen Badibesucher*innen keine Gefahr droht.
Kann ich das aber wirklich? Und was ist dieses Vertrauen genauer? Um sich Antworten auf diese Fragen zu nähern, hat es sich in der philosophischen Diskussion eingebürgert, zwischen Vertrauen und blossem Verlassen zu unterscheiden. Wir verlassen uns etwa oft darauf, dass bestimmte Gegenstände in unserem Alltag funktionieren werden, aber es wäre schief zu behaupten, dass wir zum Beispiel unserem Auto vertrauen. Wir würden dem Auto auch nicht ernsthaft Vorwürfe machen, wenn es einmal liegen bleiben sollte.
Wessen Vertrauen enttäuscht wurde, kann aber durchaus sehr heftig emotional reagieren, und daran ist nichts irrational oder ungewöhnlich. Nun können wir uns aber auch auf unsere Mitmenschen verlassen, ohne dass das gleich auf Vertrauen hinausläuft. Wenn ich davon ausgehe, dass mein Nachbar morgens mit seinem Hund spazieren gehen wird, weil er das immer tut, dann ist hier ebenso wenig Vertrauen im Spiel wie in Situationen, in denen ich mir Gedanken über das Funktionieren von Gegenständen mache oder davon ausgehe, dass jeden Morgen die Sonne aufgehen wird. In solchen Zusammenhängen nehme ich eine betrachtende Aussenperspektive ein und versuche eine Art Vorhersage über etwas zu treffen – und das ist nicht genug für Vertrauen oder für das Gefühl, betrogen worden zu sein, wenn meine Erwartungen enttäuscht werden.
Verlassen wir uns auf soziale Kontrolle …
An dieser Stelle taucht allerdings sofort die Frage auf, ob wir in der Badisituation jemals die Ebene des Vertrauens erreichen: Möglicherweise kann ich mich immer nur darauf verlassen, dass mir in der Badi nichts passiert. Ist es denn nicht eigentlich so, dass ich nur deshalb sorglos auf der Wiese liege, weil es eine ganze Armada an gesetzlichen und sozialen Sanktionen gibt, die potenzielle Badiverbrecher*innen effektiv abschrecken? Aus der Perspektive solcher Verbrecher*innen müsste ein Überfall in der Badi extrem riskant sein. Man würde ja mit grosser Sicherheit beobachtet werden. Es könnten sich andere Badibesucher*innen einmischen. Früher oder später würde einen die Polizei fassen. Und dann hätte man nichts als Ärger am Hals. Es grenzt an Irrsinn, Personen in der Badi zu überfallen.
Deswegen können wir umgekehrt davon ausgehen, dass es nicht sehr wahrscheinlich ist, Opfer eines solchen Überfalls zu werden. Möglicherweise sieht die Situation beim Diebstahl anders aus. Wir lassen unsere Wertsachen ja in der Regel nicht länger aus dem Auge. Manchmal tun wir das aber eben doch, weil es lästig wäre, sie ständig wegzuschliessen und weil wir wiederum davon ausgehen, dass es schon mit dem Teufel zugehen müsste, wenn jemand sie stiehlt. Das ist alles. Eine einfache Einschätzung der Wahrscheinlichkeit, mit der etwas passieren oder eben nicht passieren wird. Und zu wenig, um von Vertrauen im eigentlichen Sinne reden zu können.
… oder vertrauen wir den Mitmenschen?
Vielleicht ist dieser Schluss aber voreilig. Wäre es wahr, dass wir uns in der Badi lediglich darauf verlassen, dass wir nicht überfallen oder bestohlen werden, müssten unsere Reaktionen in dem Fall, in dem dies doch passiert, ähnlich ausfallen wie in Fällen, in denen ein Gerät nicht mehr funktioniert. Und doch denke ich, dass wir uns von einer Person, die unsere Brieftasche stehlen wollte, in einem tieferen Sinne betrogen fühlen würden. Das liegt daran, dass wir einen legitimen moralischen Anspruch darauf haben, nicht bestohlen zu werden. Solche Ansprüche können wir nicht an unbelebte Gegenstände stellen, und das ist auch der Grund, warum wir ihnen nicht im eigentlichen Sinne vertrauen können.
Solange wir es mit zurechnungsfähigen Wesen zu tun haben, betrachten wir unsere Mitmenschen also nicht nur als Wesen, deren Verhalten wir mehr oder weniger gut vorhersagen können, sondern als Wesen, von denen wir gewisse Dinge erwarten. Und das gibt uns zumindest einen vorläufigen Grund, ihnen zu vertrauen.
Aareschwimmen unter Freunden
Dass der Besuch in der Badi etwas mit Vertrauen zu tun hat, sieht man auch an einer anderen Facette des Berner Sommers. Der Aareschwumm gehört zu den schönsten Dingen, die man in unserer Stadt machen kann, aber er ist nicht ungefährlich. Jedes Jahr sterben Menschen in der Aare, und man sollte dem Fluss mit einer gehörigen Portion Respekt begegnen. Ich selber habe auch schon Situationen erlebt, die brenzlig waren. Zumindest in der Nähe der Badis fühle ich mich aber immer relativ sicher, und zwar nicht nur an den Tagen, an denen die Aare wenig Wasser hat und träge dahinfliesst. Dieses mit Vertrauen verwandte Gefühl der Sicherheit geht auf die Anwesenheit der anderen Menschen zurück.
Es ist schwer, dieses Phänomen in Worte zu fassen, ohne furchtbar esoterisch zu klingen, aber in der Aare habe ich nie das Gefühl, unter Fremden zu sein. Ich glaube, der Fluss macht etwas mit uns. Er verbindet uns auf eine sehr eigentümliche Weise, unabhängig von Alter, Herkunft oder Weltanschauung. Sobald die Strömung einen mitreisst, ist man Teil einer Gemeinschaft geworden. Einer Gemeinschaft, in der jede Person für sich selbst verantwortlich ist, in der man aber auch aufeinander achtgibt. Es liegt in dieser Mischung aus Eigenverantwortung und Fürsorge, dass wir uns im Fluss begegnen – und einander vertrauen können.
Christian Budnik ist Philosoph. Er verbrachte seine ersten Lebensjahre in Polen, emigrierte dann mit seiner Familie nach Deutschland und lebt nun seit 15 Jahren in Bern.