Wir alle haben ein Kehrsatz in uns
Ein Städter kehrt zurück in die Agglomeration, wo er aufgewachsen ist. Ein Versuch, der Identität eines Schlafdorfs auf die Spur zu kommen, das keine Identität zu haben scheint.
Wenn dich der Verkehr aus dem Kreisel bei Kleinwabern schwemmt und durch die steckengerade Birkenallee Richtung Bergpanorama gondelt, durchbrichst du eine unsichtbare Mauer. Willkommen in der Agglomeration.
Kehrsatz ist nahe an Bern gelegen. Mit der S-Bahn bist du in 13 Minuten am Bahnhof Bern. Schneller als mit dem Tram vom Wankdorf. Von den Distanzen her könnte Kehrsatz ein Aussenquartier darstellen. Aber wenn du Kehrsatz erreichst, spürst du es: Etwas hier ist anders als in der Stadt.
Hundert Jahre Gebrauchsarchitektur
Die gefühlte Grenze der Stadt hat weniger mit der geografischen zu tun. Es sind andere Faktoren. Die Enden der Tramlinien haben beispielsweise einen Einfluss auf das Empfinden für die Aussengrenzen der Stadt. SVP-Plakate auch. Das erste SVP-Plakat südlich von Bern steckt oft in einem Kehrsatzer Acker.
Jüngst bin ich nach «Chäsitz» zurückgekehrt. Ich bin hier aufgewachsen. Danach habe ich zwanzig Jahre in der Stadt gelebt. Eigentlich habe ich mir geschworen, Kehrsatz hinter mir zu lassen; was das Dorf in mir hinterlassen hat, habe ich nie wirklich erforscht. Meine Kindheit war prima, trotz Kehrsatz, nicht wegen – so zumindest war meine Meinung als junger Erwachsener.
Der frühere «Bund»-Journalist und Musiker Simon Jäggi war Sänger der Berner Band Kummerbuben, die über die Jahre sechs Alben veröffentlichte. 2022 startete Jäggi zusammen mit Thierry Lüthy sein zweites Musikprojekt unter dem Namen «Birdman Jäggi». Mit einem Abschlusskonzert in der Heiteren Fahne beendete Jäggi am Freitag, 31. Mai das Projekt und gemäss eigenen Angaben auch seine Musikkarriere. Seit 2013 arbeitet Jäggi beim Naturhistorischen Museum, zuerst als Kommunikationsleiter, seit drei Jahren als Kurator. Er hat die prämierte Ausstellung «Queer – Vielfalt ist unsere Natur» und die aktuelle Aussellung «Insektensterben — Alles wird gut» kuratiert. Jäggi ist in Kehrsatz aufgewachsen, lebte zwanzig Jahre in Bern und wohnt seit 2022 wieder in Kehrsatz. Für die «Hauptstadt»-Woche in Kehrsatz hat Jäggi diesen Text zu seiner Rückkehr verfasst.
Nun bin ich wieder da, und muss mich der Frage stellen: Was macht Kehrsatz aus? Und wie viel «Chäsitz» steckt in mir – und uns allen? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Denn: Kehrsatz hat ein blau-gelbes Wappen, ein denkmalgeschütztes Gemeindehaus, ein nicht gerade hübsches Gesicht – und eine schwer zu ergründende Identität. Es scheint ein Ort ohne Seele. Ein zufällig hingekleckster Flecken aus Gebäuden zwischen Gurten und Längenberg. Eine tour de l’horizon durch hundert Jahre Gebrauchsarchitektur.
Kehrsatz franst zu allen Seiten aus – ein Cluster ohne ein Zentrum, das mit seinen Zentrifugalkräften das Dorf zusammenhalten könnte. Wo man ein Dorfkern vermuten könnte, stehen ein schmuckloses Coop und einige schlecht gealterte Industrie-Gebäude. Auf der Dorfmatte hätte schon vor zwei Jahrzehnten ein neues Zentrum entstehen sollen, es blieben bisher Pläne (immerhin sind sie nun wieder aus der Schublade geholt worden).
Als ich nach zwanzig Jahren zurückgekehrt bin, sind es Details gewesen, die mir aufgefallen sind. Details, die aber durchaus vielsagend sind:
- Die Velospur, die am Eingang des Dorfes endet und am Ausgang wieder beginnt. Hier darf noch mit 50 Sachen durchs Dorf gebrettert werden – ungeachtet der Kinder auf dem Schulweg.
- Der Schulhausplatz, der sich in zwanzig Jahren kaum verändert hat. Lediglich ein müdes Klettergerüst ist dazugekommen. Wer sich in der Stadt an die liebevollen Abenteuerspielplätze gewöhnt hat, schlägt hier wortwörtlich auf dem harten Asphalt der Agglo-Realität auf. Die Spielplätze in der Stadt sagen: Wir lieben Kinder, daher sollen sie eine gute Zeit haben. Der Platz vor der Dorfschule meldet: Es soll praktisch sein für den Abwart.
- Einige Hochglanz-Wohnblöcke sind dazugekommen, ein Lidl und eine Tankstelle mit Shop. Die Grünflächen werden weniger. Aber Begegnungsorte oder lebendige Quartierstrassen sind keine entstanden. Niemand kuratiert, was hier wächst.
- Im Coop ist die Hafermilch ganz oben im Regal. Die war in städtischen Einkaufszentren gleich in Griffnähe.
In der Woche vom 3. bis 6. Juni verlegt die Redaktion der «Hauptstadt» ihr Büro nach Kehrsatz ins Oekumenische Zentrum. Kehrsatz ist ein vergleichsweise kleiner Vorort von Bern. Was macht ihn aus? Was fehlt ihm? Und wie sieht es mit dem gastronomischen Angebot aus? Das soll in dieser Woche ausgeleuchtet werden.
Die «Hauptstadt» freut sich über Besuche. Zudem findet am Donnerstag, 6. Juni, von 9.30 bis 10.30 Uhr, ein offener und öffentlicher Austausch mit der Redaktion statt. Die «Hauptstadt»-Redaktion will mit Gästen darüber diskutieren, ob es zu wenig mediale Berichterstattung über Kehrsatz gibt und wenn ja, ob das überhaupt ein Problem ist und wie es angegangen werden könnte. Alle sind herzlich willkommen.
Eine Schönheit, nein, das ist Kehrsatz nicht. Ansehnlich ist Kehrsatz hauptsächlich dort, wo es alt ist. Das Landgut Lohn etwa, wo die hohen Gäst*innen übernachten. Als Kind habe ich Jassir Arafat in der Limousine vorbeirauschen sehen. Aber die Parkanlage ist für die Bevölkerung mehrheitlich gesperrt. Hübsch ist auch das Schloss, das als Kinderheim genutzt wird. Aber auch hier gilt für den Park, der ein lauschiger Treffpunkt sein könnte: Betreten verboten.
Entspannt unhip
Interessant ist Kehrsatz dennoch – vielleicht gerade wegen der fehlenden Schönheit. Denn gentrifiziert ist hier noch nichts. Auch das fällt dem geschulten Städterauge gleich auf. Kein Hipster-Kaffee, kein veganer Beck, keine ehemalige Fabrik mit Künstler*innen-Ateliers, keine Pop-Ups. In der ehemaligen Autogarage arbeiten ein paar junge Grafiker*innen und Richtung Gurten lebt eine Kommune, die sich das Geld teilt, aber damit hat es sich fast schon. Nichts an Kehrsatz ist hip – und das macht es wohltuend entspannt.
Interessant ist Kehrsatz durch seine Heterogenität. Es stellt einen gesellschaftlichen Querschnitt im Kleinformat dar. Fast jedes Quartier lässt sich einer sozioökonomischen Schicht zuordnen. Am schattigen Längenberg und an der lauten Bernstrasse in den abgewrackten Blöcken wohnen die Alkis, Armutsbetroffenen und Ausländer*innen der ersten Generation. Dann geht’s die gesellschaftliche Leiter hoch, in die etwas besser unterhaltenen 1970er-Blöcke bis zu den neu erbauten Siedlungen, in dem sich der Mittelstand seine Eigentumssehnsüchte erfüllen kann.
Das alteingessene Kehrsatz findet sich in den Einfamlienhaus-Quartieren. Am Gurtenhang sind der obere Mittelstand und einige Gutbetuchte zuhause, welche die sonnige Lage und die Aussicht schätzen. Ausnahmen gibt’s immer, aber in Kehrsatz lässt sich an der Adresse ziemlich genau das Milieu und das ungefähre Monatseinkommen einschätzen.
Höherer Ausländer*innen-Anteil als die Stadt Bern
Womit wir bei den Zahlen und Fakten wären. Wikipedia und die Webseite der Gemeinde wissen zu berichten:
Kehrsatz zählt 4581 Einwohner*innen. Nach einer fast dreissigjährigen Stagnation zeigt die Tendenz stark nach oben.
Ausländer*innen-Anteil: 27,8 Prozent. Zum Vergleich: Die Stadt Bern zählt 24,8 Prozent, Bremgarten bei Bern 9,5, Muri 17,9, Ostermundigen 31,9 Prozent.
Auf den 444 Hektaren finden sich 18 Bauern- und 242 Gewerbebetriebe. Insgesamt 900 Arbeitsplätze. Es gibt etwa eine Matratzenfabrik und eine Bärnerörgeli-Werkstatt.
Wahrscheinlich haben schon die Römer das Gebiet besiedelt. Erste urkundliche Erwähnung im Jahr 1270 unter dem Namen Cerrisaz. Was der Ortsnamen bedeutet, ist umstritten. Wahrscheinlich geht es auf das lateinische Wort für Kirschbaumhain zurück.
Der fünfköpfige Gemeinderat ist mehrheitlich bürgerlich: 2 Vertreter*innen von FDP, 1 von SVP, 1 von SP und eine Parteilose.
Und damit wären wir bei der Politik. Die Dorfpolitik ist seit Jahrzehnten bürgerlich geprägt, nun scheint Bewegung reinzukommen. Bei den letzten Nationalratswahlen 2023 wählte eine knappe Mehrheit Mitte-Links. Im Oktober will en neues Bündnis, das sich «Kehrsatz links der Mitte» nennt, die bürgerliche Phalanx durchbrechen. Hier nähert sich der Vorort allmählich städtischen Verhältnissen an – wie andere Agglomerationsgemeinden auch. Was aber nicht bedeutet, dass es die Gemeinde gelüstet, in einem Grossbern aufzugehen – ganz und gar nicht. Der Vorschlag, Fusionsverhandlungen mit der Stadt aufzunehmen, wurde vor drei Jahren in Bausch und Bogen verworfen.
Was zeichnet Kehrsatz aus? Ein Mord
Die Kehrsatzer*innen scheinen um ihre Identität zu fürchten. Aber was fürchten sie, zu verlieren? Was hat Kehrsatz, was andere Ortschaften nicht haben? Fragt man von Allschwil bis Zuoz, wird es wohl einige Leute geben, die den Berner Vorort kennen – aber aus unrühmlichen Gründen. Wegen des Zwahlen-Mordes. 1986 wurde in Kehrsatz eine Frauenleiche in einer Tiefkühltruhe aufgefunden. Der Ehemann sass einige Jahre im Gefängnis, musste aber wegen groben Fehlern von Polizei und Justiz entlassen werden. Der Mord ist bis heute oft die einzige Assoziation, die Befragten zu Kehrsatz in den Sinn kommt. Selbst bei Einheimischen ist das so.
Es ist vernünftig, nach Kehrsatz zu ziehen – ein Herzensentscheid ist es selten
Kehrsatz ist ein klassischer Pendlerort, ein Schlafdorf. Jeden Morgen das gleiche Schauspiel: E-Biker*innen brausen in ihren Neon-Gilets an den Autopendler*innen vorbei, die im Stau stehen, derweil die Zugpendler*innen in der S3 sinnlos ihr Handy malträtieren.
Was Kehrsatz auszeichnet, ist der Fakt, dass man rasch in Bern ist; alle Vorzüge der Stadt geniessen und gleichzeitig bezahlbaren Wohnraum finden kann. Es ist ziemlich vernünftig, nach Kehrsatz zu ziehen – ein Herzensentscheid ist es selten.
In der Stadt war es dörflicher
Auch wenn sich Kehrsatz Dorf nennt, spüre ich von einem lebendigen Dorf selten etwas. Die Stadtberner Matte, in der ich jahrelang gewohnt habe, versprüht viel mehr Dorf-Atmosphäre. Ich konnte nicht durchs Quartier laufen, ohne gegrüsst oder in ein Gespräch verwickelt zu werden.
Spannende und nette Menschen gibt es bestimmt auch in Kehrsatz kennenzulernen, nur gibt es kaum Treffpunkte, wo die heterogene Bevölkerung aufeinandertrifft und in Dialog kommen könnte. In Kehrsatz wird Tigrinya (von Eritreer*innen), Dari (von Afghan*innen) oder Albanisch gesprochen – nur höre ich es selten. Es fehlen der Dorfplatz, die Gelateria.
Verlust an Gemeinsinn, Unlust auf Gemeinschaft
Und so steht Kehrsatz exemplarisch für den Rückzug ins Private. Du richtest dir hier dein eigenes Raumschiff ein, in dem du dich wohl fühlst. Was zählt, sind die eigenen vier Wände, der Balkon, der Garten. Was sonst da draussen abgeht, sei es im Dorf oder der Welt – zweitrangig. Die dystopischen Aussichten für die Zukunft, die Kriege und Krisen, das alles hat diese Entwicklung noch verschärft.
Und Kehrsatz, dieser unheimlich unspektakuläre Berner Vorort ist ein Abbild für den Verlust an Gemeinsinn, für die Unlust auf Gemeinschaft. Die allgemeine Tendenz zeigt sich hier im Beispielhaftem. Wir alle haben ein Kehrsatz in uns.
Es gibt sie, die Engagierten
Es lässt sich aber auch eine andere Perspektive einnehmen. Ein Ort wie Kehrsatz bietet die Möglichkeit, im Kleinen etwas zu bewirken. Da gibt es etwa die engagierte Redakteurin vom Dorfblatt, den «Chäsitzer Louf», der jedes Jahr von einem freiwilligen OK und ihrem umtriebigen Präsidenten auf die Beine gestellt wird, die freiwillige Feuerwehr natürlich und die löbliche Umweltgruppe, die seit Jahrzehnten aktiv ist. Und bestimmt einige andere Menschen, die im Stillen etwas für die Allgemeinheit tun.
Meine Frau und ich unterhalten uns immer wieder darüber, dass wir mithelfen möchten, den trostlosen Schulhausplatz aufzuwerten. Oder wir denken über ein Mini-Food-Festival nach, das alle Nationalitäten an einen Tisch bringen würde. An Ideen würde es uns nicht mangeln, aber vielleicht kennst du es: Etwas ist immer, das einen davon abhält, aktiv zu werden.
Neuerdings bin ich mit den Frauen auf der Post Duzis. Ein Anfang. Aber hier wirklich anzukommen, das könnte noch etwas dauern.