Girlanden und Intersektionalität
Der Berner Klimastreik ist aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden – wie geht es der Bewegung? Eine Bestandsaufnahme mit Aktiven und Ehemaligen.
In der Stadt Bern hängen wieder Plakate mit der orange-roten Flamme auf hellblauem Grund, dem Logo des Klimastreiks. Sie machen auf den Internationalen Klimastreik aufmerksam, der am Freitag, 3. März, stattfinden soll. Auch in Bern.
Die Mobilisierung zu dieser Demo ist ein Lebenszeichen einer Bewegung, die in den letzten Monaten in der Öffentlichkeit wenig präsent war. Das Bild des menschenvollen Bundesplatzes vom September 2019 ist verblasst. In den Schlagzeilen sind hingegen Aktionen von Einzelpersonen, die zum Beispiel Strassen blockieren, indem sie ihre Hände auf den Asphalt kleben.
Ist die Zeit der grossen Demonstrationen vorbei? Oder anders gefragt: Wie steht es um den Berner Klimastreik?
Mit diesen Fragen im Gepäck macht sich die «Hauptstadt» auf den Weg in den Klimaraum, dem Treffpunkt des Berner Klimastreiks. Er befindet sich in einer Zwischennutzung, einem Ex-Verwaltungs-Plattenbau an der Mattenhofstrasse im Monbijou. Biederer Bundesverwaltungs-Chic aus dem letzten Jahrtausend – endlose dunkle Gänge, reihenweise Bürotüren, grau-polierte Terrazzoböden.
Eine Liftfahrt später eröffnet sich ein ganz anderes Bild. Der Klimaraum ist farbig und hell. An einer Wand stehen Regale voll mit der Technik, die es für Demonstrationen braucht: Megafon, Lautsprecher, Mikrofon, Kabel und so weiter. Die anderen Wände sind behängt mit Plakaten und Transparenten. Durch die grosse Fensterfront sieht man weit über das Mattenhofquartier und auf den Gurten.
Am grossen Tisch im Klimaraum sitzen Philippe und Michèle – beide Anfang zwanzig, beide studieren und arbeiten nebenbei, beide sind während der Corona-Pandemie beim Klimastreik Bern aktiv geworden.
Basteln für eine bessere Welt
Plötzlich kommt Leben in den Klimaraum. Etwa 15 Aktivist*innen trudeln ein. Kurz darauf sitzen alle zusammen am Tisch und besprechen die anstehenden Aufgaben. Heute steht Girlandenbasteln auf dem Programm. Stoffdreiecke sollen mit Streikparolen bemalt werden, damit sie dann, aufgereiht an einer Schnur und an verschiedenen Orten in der Stadt aufgehängt, auf den Klimastreik aufmerksam machen können.
30 bis 40 Aktivist*innen kämen jeweils an die Vollversammlungen, erklärt Philippe. «Einen genauen Überblick zu haben ist aber schwierig, da der Klimastreik Bern in verschiedenen selbstständigen Arbeitsgruppen organisiert ist.» Einen Rückgang an Personen hätten sie in der Zeit, in der sie aktiv waren, nicht festgestellt. «Aber es hat auf jeden Fall einen Generationenwechsel gegeben», meint Michèle. «Inzwischen gehöre ich mit 21 schon fast zu den Älteren», sagt sie. Viele von denen, die die ersten Klimademos organisiert hatten, seien nun um die 30-jährig und nicht mehr dabei. Aus verschiedenen Gründen.
Die Sicht der Ehemaligen
Denis Kriegesmann, 29-jährig, aus Bern, ist während der Corona-Pandemie ausgestiegen. Zuvor hatte der Umweltingenieur Bildungsworkshops und Filmabende organisiert. «Die Energie, die mir die Treffen mit den anderen Aktivist*innen gegeben hatte, fehlte plötzlich», sagt er im Gespräch mit der «Hauptstadt». Online sei es nicht mehr das gleiche gewesen.
Ausserdem habe er etwas die Hoffnung verloren, dass Menschen ihr Verhalten anpassen würden, wenn sie genügend Wissen über die Klimakrise hätten. Darum kehrt er auch jetzt, da physische Treffen wieder möglich sind, nicht zur Bewegung zurück.
Auch Jelena Filipovic ist nicht mehr aktiv im Berner Klimastreik. Die 30-Jährige Politologin sitzt seit 2021 im Berner Stadtrat für das Grüne Bündnis. In die institutionelle Politik einzusteigen sei nie ihr Ziel gewesen, teilt sie der «Hauptstadt» mit. «Es kam aus der Dringlichkeit heraus, der Klimakrise entgegenzuwirken. Ich will nicht abwarten, sondern innerhalb unseres politischen Systems Veränderungen anstossen.»
Wie Jelena Filipovic in Bern sind auch in anderen Städten und Kantonen Menschen aus der Klimastreikbewegung in die institutionelle Politik eingestiegen. Zum Beispiel im Schaffhauser Kantonsrat, im Basler Grossen Rat, im Aargauer Kantonsrat oder im Zürcher Gemeinderat.
Trotz ihres Parlamentsmandats sieht sie sich immer noch als Aktivistin. Insbesondere durch ihr Ehrenamt als Co-Präsidentin von Landwirtschaft mit Zukunft, einem Verein, der aus der Klimastreikbewegung heraus gegründet wurde und sich für die Transformation des Ernährungssystems einsetzt.
Jelena Filipovic will sich nicht zwischen Aktivismus und institutioneller Politik entscheiden. «Beides sind wichtige Pfeiler unserer Demokratie. Ohne den unermüdlichen Einsatz von Aktivist*innen würden die Entscheidungsträger*innen nur halb so schnell oder gar nicht handeln.» Die institutionelle Politik sei wichtig, weil sie die «einzige Instanz» sei, die «Rahmenbedingungen so formulieren und umsetzen kann, dass sie bereits benachteiligte Gruppen der Gesellschaft schützt oder nicht noch weiter ausbeutet.»
Mehr interne Arbeit, weniger Mobilisierung
Zurück im Klimaraum in Bern. Philippe ist gespannt, wie viele Menschen am Freitag an der Demo auftauchen werden. «Im September waren wir in Bern mit 2000 Menschen auf der Strasse. Früher haben wir auch schon 3000 bis 4000 zusammengebracht.»
Michèle hat eine Vermutung, warum sie bei der letzten Demo weniger Menschen mobilisieren konnten: «Die Mobilisierung ist immer extrem ressourcenaufwändig.» Zur Zeit würde der Klimastreik Bern viel interne Arbeit leisten und habe deswegen nicht die Kapazität, um voll auf die Mobilisierung zu fokussieren.
Wie blickt eine Wissenschaftlerin auf den Klimastreik? Die «Hauptstadt» hat dafür mit Cloé Jans, Politologin beim Politikforschungsunternehmen gfs, gesprochen. Jans findet: «Der Klimastreik hat das Schweizer Politsystem insofern massgeblich verändert, dass keine Partei existieren kann, ohne eine Position zur Klimakrise zu beziehen.» Seit 2019 sei das Klima fest in der Wahrnehmung der Bevölkerung verankert. «Heute ist das Klima vielleicht nicht mehr als einziges Thema relevant, bei den meisten politischen Entscheidungen wird es aber dennoch mitgedacht», so Jans.
Der Klimastreik stehe vor den Herausforderungen, mit denen sich früher oder später alle sozialen Bewegungen konfrontiert sähen. «2020 fühlten sich bei uns im ‹CS Jugendbarometer› mehr Jugendliche dem Klimastreik zugehörig, als zu einer Religion», erklärt sie. Heute sei der Klimastreik weniger eine Massen-Protestbewegung. Ein Grund dafür sei die schwindende mediale Aufmerksamkeit. «Dadurch wird es für eine soziale Bewegung schwierig, ihr Momentum aufrechtzuerhalten und die Dringlichkeit ihres Themas zu vermitteln.»
Andere Ausbildung, andere Beteiligung
Die Klimakrise habe es geschafft, eine ganze Generation von jungen Menschen zu politisieren. Dennoch lasse sich ein Unterschied in der Art der politischen Beteiligung zwischen verschiedenen Ausbildungswegen feststellen. «Urban geprägte Jugendliche an Gymnasien beteiligen sich eher an sozialen Bewegungen als ländlich geprägte Jugendliche, die eine Berufsschule besuchen», sagt Cloé Jans. Letztere würden sich eher durch institutionelle, direktdemokratische Mittel beteiligen.
Dass nun zusätzlich zum Klimastreik andere Bewegungen aktiv seien, welche zu radikaleren Protestformen, wie etwa dem Blockieren von Strassen greifen, berge gleichzeitig Chancen und Risiken, so Jans. Solche Aktionen würden einerseits helfen, das Thema Klimakrise in den Medien zu halten. «Wenn sich Menschen auf die Strasse kleben, merkt man, dass sie es wirklich ernst meinen – das vermittelt eine Dringlichkeit.»
Andererseits könnten solche Aktionen die breite Öffentlichkeit davon abschrecken, selbst für dieses Anliegen aktiv zu werden. «Ob die breite Öffentlichkeit wirklich zwischen dem gemässigteren Klimastreik und radikaleren Bewegungen wie ‹Extinction Rebellion› oder ‹Renovate Switzerland› unterscheidet, wage ich zu bezweifeln.»
Die Bewegung hat sich intensiv mit ihren Strukturen beschäftigt. «Zum einen mussten wir informelle Hierarchien abbauen», meint Philippe. «Ausserdem haben wir uns stark mit dem Thema Intersektionalität auseinandergesetzt», sagt Michèle. Dass beim Klimastreik Bern vor allem weisse Menschen und Menschen mit höheren Bildungsabschlüssen aktiv seien, wolle man ändern. «Wir arbeiten dafür zum Beispiel an unseren internalisierten Rassismen», erklärt sie. Ausserdem arbeite der Klimastreik Bern daran, mehr an Berufsschulen zu mobilisieren.
Beim Treffen in Bern zeigt sich, dass die tatsächliche Rollenverteilung die Ideale des Klimastreiks – wozu auch Geschlechtergerechtigkeit gehört – noch nicht erfüllt. Die männlich gelesenen Aktivist*innen besprechen die benötigte Technik für den Klimastreik vom 3. März. Währenddessen kleben die weiblich gelesenen Aktivist*innen den Boden ab, mischen Farben an und suchen nach geeigneten Parolen.
Verknüpfte Krisen erfordern Bündnisse
Ein weiterer Punkt, der Ressourcen von der Mobilisierung abzieht und in der Öffentlichkeit wenig sichtbar ist, ist die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen. «Wir arbeiten mit dem Bündnis ‹Fertig Luschtig› zusammen, um uns auf soziale Ungerechtigkeiten zu fokussieren», sagt Michèle. «Fertig luschtig» ist ein Zusammenschluss von verschiedenen Bewegungen aus der Region Bern, wie zum Beispiel das «femimistische Kollektiv Thun – Berner Oberland», die «FAU» oder die Gassenarbeit.
Michèle rechtfertigt den Schritt: «Wir müssen die Krisen verknüpfen, um diese angehen zu können. Wer etwas anderes behauptet, ist nicht ehrlich.» Der Kampf gegen den Klimawandel sei ein sozialer, feministischer und antirassistischer Kampf. Das Bedenken, dass der Klimastreik durch das breite Themenspektrum zu kompliziert für Interessierte oder Neueinsteiger*innen werde, entkräftet sie: «Wir haben nicht den Anspruch, dass Menschen alles Wissen von Anfang an haben – wir wollen andere Meinungen und Blickwinkel.» Auch sie seien immer in einem Lernprozess.
Philippe meint dazu: «Es kommen ja auch immer wieder neue Aktivisti dazu.» Gerade in den letzten Monaten habe es einen Anstieg an neu Dazugekommenen gegeben. «Das ist fast wie eine neue Generation», freut sich Michèle. Von den Interessierten bleibe etwa die Hälfte langfristig aktiv.
Der Besuch bei Philippe und Michèle hat den Eindruck bestätigt: Der Berner Klimastreik ist in der Öffentlichkeit weniger sichtbar als früher. Dies hauptsächlich, weil die Bewegung mit internen Angelegenheiten beschäftigt ist und der Mobilisierung weniger Priorität einräumt. Verliert da eine Bewegung vor lauter interner Diskussionen an Schlagkraft oder holt sie durch verbesserte Strukturen Anlauf zu einer neuen Mobilisierung? Spannend wird sein, was passiert, wenn diese strukturellen Prozesse nicht mehr einen so grossen Anteil der Aktivist*innenenergie beanspruchen.