Who wants to live forever?
Seine Herbstaversion führt unseren Philosophie-Kolumnisten Christian Budnik zu einem Gedankenspiel über Unsterblichkeit. Doch wollen wir wirklich ewig leben?
Die Berner Quartierstrassen sehen seit einigen Tagen nach Herbst aus. Es gibt Menschen, die behaupten, diese Jahreszeit zu lieben. Sie schwärmen von den Farben, dem Rascheln der Blätter auf den Trottoirs.
Für mich ist der Herbst die schlimmste Jahreszeit. Der Anfang vom Ende. Im Winter ist man wenigstens mittendrin im Schlimmsten. Der Herbst kündigt das Winterelend erst an. Nie ist man so weit vom Sommer entfernt wie im Herbst. Ich vermisse die warmen Tage, vermisse es, ohne Jacke vor die Tür zu gehen. Wenn es dunkel wird, zieht Tristesse durch die Strassen, die Leute huschen unfreundlich aneinander vorbei, alles spiegelt sich kopfüber in Pfützen. Es ist eine unwürdige Jahreszeit, wenn man es recht bedenkt.
Ginge es nach mir, könnte man Herbst und Winter abschaffen. Ich träume davon, irgendwo zu leben, wo es nie kälter als achtzehn Grad wird. Meist träume ich leise, weil man sowas angesichts der Klimakatastrophe, auf die wir zusteuern, als pietätlos empfinden könnte. Ich kann mir aber nicht helfen: Sommer ohne Ende, das wäre das reinste Glück.
Mehr als eine Sommersehnsucht?
Wer küchenpsychologisch gestimmt ist, wird einwenden, dass es mir hier eigentlich um etwas anderes geht. Selbst wenn alles gut läuft, ist der Herbst meines Lebens nicht mehr weit entfernt. Vielleicht ist meine Herbstaversion nur die Kehrseite der Angst vor dem Sterben. Vielleicht kann ich mit dieser Jahreszeit nur deshalb nicht ins Reine kommen, weil ich mit meiner eigenen Vergänglichkeit hadere. Das kann schon sein. Aber manchmal ist eine Sommersehnsucht eben nur eine Sommersehnsucht. Und ich verabscheue den Herbst nicht erst, seit ich eine Lesebrille tragen muss.
Ganz in Ordnung ist es wohl nicht, dass das Leben irgendwann vorbei sein soll.
Andererseits geht es mir mit dem Gedanken, in der Hälfte des Lebens zu stehen, tatsächlich ganz ähnlich wie mit dem Anblick vergilbter Blätter. Ganz in Ordnung ist es wohl nicht, dass das Leben irgendwann vorbei sein soll. Und zwar nicht nur, wenn es um mein eigenes Leben geht. Die Personen, die mir wichtig sind, sollten nie sterben, denke ich oft. Nicht nur, dass sie nicht zu früh sterben sollten, was auch immer das heisst – ich hätte gerne, dass sie nie sterben, dass ich nie sterbe, und dass wir gemeinsam für immer weiterleben. Und noch während ich solche Gedanken denke, merke ich, wie kindisch oder bestenfalls kindlich sie sind. Es fehlt nur noch, dass ich mit dem Fuss aufstampfe.
In der Regel am Leben bleiben
In welchem Sinne ist es aber unangemessen, niemals sterben zu wollen? Die beliebte Plattitüde, dass der Tod zum Leben gehört, verdeckt an dieser Stelle die Komplexität des Problems. Einerseits gehört er eben dazu, in anderen Fällen bedauern wir ihn zurecht. Mich schaudert immer noch, wenn ich mich an die Stimmen erinnere, die während der Corona-Pandemie eine positive Einstellung zum Sterben als Alternative zum Lockdown empfohlen haben.
Zwar kennen wir tatsächlich Fälle, in denen Personen mit Hilfe lebensverlängernder Massnahmen über Jahre in einem unwürdigen Zustand – manchmal sogar gegen ihren eigenen Willen – gehalten werden. Aber man kann daran festhalten, dass Leben nicht um jeden Preis verlängert werden sollte, und gleichzeitig der Auffassung sein, dass Menschen in der Regel am Leben bleiben wollen. Es ist im Standardfall alles andere als kindisch, wenn Personen ihr Leben zu erhalten versuchen oder sich für andere Menschen wünschen, dass sie am Leben bleiben. Das scheint mir so unbestreitbar, dass ich an dieser Stelle dankbar darauf verzichte, Fälle aufzuzählen, in denen der Tod einer Person für uns ein besonderes Übel darstellt.
Sterben nach 342 Jahren
Dem Kindischen an meiner Reaktion lässt sich eher auf die Spur kommen, indem man über eine Argumentation nachdenkt, die Bernard Williams, einer der wichtigsten Philosophen des vergangenen Jahrhunderts, verfolgt hat. Williams akzeptiert zunächst den gerade formulierten Gedanken, nach dem der Tod in der Regel einen Verlust darstellt, den wir gerne abwenden würden. Aber er macht darauf aufmerksam, dass aus der Tatsache, dass wir in konkreten Situationen nicht sterben wollen, keinesfalls folgt, dass es wünschenswert wäre, niemals zu sterben.
Anders gesagt: Nur weil der Tod schrecklich ist, heisst es nicht, dass Unsterblichkeit toll wäre. Um diesen Punkt zu illustrieren, bezieht Williams sich auf ein Theaterstück von Karel Čapek, in dem eine Frau namens Elina Makropulos von ihrem Vater ein Unsterblichkeitselixier verabreicht bekommt, nur um im hohen Alter von 342 Jahren dessen Einnahme zu verweigern und zu sterben.
Warum tut Elina Makropulos dies? Weil das Leben ihr nach drei Jahrhunderten zu einer unerträglichen Qual geworden ist. Der generelle Punkt von Williams ist, dass Unsterblichkeit zum Überdruss führen würde. In einem Leben ohne Ende würden wir uns zu Tode langweilen.
Und immer wieder samstags Pizza
Zumindest auf den ersten Blick scheint diese These plausibel. Egal welche noch so attraktive Tätigkeit ich mir vorstelle; ihre Attraktivität erschöpft sich, sobald ich mir zusätzlich vorstelle, dass ich sie über einen längeren Zeitraum ausführen soll. Gerade jetzt würde ich etwa nichts lieber machen, als ein Buch zu lesen. Es wäre toll, wenn ich zwei Stunden Zeit für die Lektüre hätte oder sogar einen ganzen Nachmittag. Aber es wäre eine Qual, wenn ich in den nächsten Tagen nichts anderes tun könnte, als Bücher zu lesen.
Nun lässt sich einwenden, dass ein endloses Leben nicht unbedingt ein Leben sein müsste, in dem wir nur eine Sache machen. Wenn ich unsterblich wäre, könnte ich nicht nur alle Bücher lesen, die lesenswert sind, sondern jede Menge anderer Dinge tun, die Spass machen: Tennis spielen, Pizza backen oder einen Ausflug in den Wald machen. Auf der anderen Seite reden wir hier aber nicht nur über einen sehr langen Zeitraum, der mit spannenden Tätigkeiten gefüllt werden müsste, sondern über ein endloses Leben. Und es steht zu erwarten, dass wir irgendwann – ob im Alter von 342, 500 oder 1000 Jahren – an einen Punkt kommen würden, an dem wir nichts mehr finden, das uns Freude macht.
An dieser Stelle stampft das kleine Kind in mir wieder mit dem Fuss auf: Es gibt eben doch Dinge, die niemals aufhören, Spass zu machen. Nur weil ich schon oft Tennis gespielt oder eine Pizza gebacken habe, ist meine Freude an diesen Tätigkeiten nicht geringer geworden. Im Gegenteil. Ich hätte nichts dagegen, für den Rest der Zeit jede Woche zweimal Tennis zu spielen und samstags Pizza zu backen.
Sinn entsteht durch Sterblichkeit
Man kann Williams’ Makropulos-Szenario zudem dahingehend modifizieren, dass alle anderen Menschen auf der Welt ebenfalls unsterblich werden. Dann hätte ich jede Menge unsterblicher Personen um mich herum, die ich liebe und mit denen ich mein Leben teilen könnte. Kann man sich wirklich vorstellen, dass einem so ein Leben langweilig werden würde? Persönliche Beziehungen sind wertvoll, aber sie sind nicht deshalb wertvoll, weil sie zur Abwechslung beitragen und Langeweile vertreiben, sondern weil wir die mit ihnen verbundene Nähe, Intimität und Vertrautheit schätzen. Es scheint mir schwer, dies zu bestreiten.
Doch die These von Williams ist noch radikaler. Es geht ihm nicht nur darum, dass wir uns angesichts der Unsterblichkeit langweilen würden. Seiner Ansicht nach stellt unsere Sterblichkeit eine Bedingung dafür dar, dass wir in unserem Leben überhaupt so etwas wie Sinn erfahren können. Wenn ich eben behauptet habe, dass mir die Interaktionen mit bestimmten Personen am Herzen liegen, dann habe ich diese Behauptung gewissermassen noch aus der Perspektive der Endlichkeit gemacht. Man könnte auch sagen, ich habe das Gedankenexperiment um Elina Makropulos nicht ernst genug genommen.
Der Sinn in unserem Leben besteht darin, angesichts von Verlusterfahrungen Verbindungen zu anderen Menschen herzustellen und ihnen in Güte zu begegnen.
Was für persönliche Beziehungen gilt, lässt sich auf alle anderen Kontexte übertragen, die unser Leben sinnvoll machen. In einer Welt, in der es keinen Tod gibt, würden wir keine Romane schreiben. Wir würden nichts tun, was von Wert ist. Oder zumindest würden wir es nicht tun, weil es uns erfüllt. Es würde uns nichts so am Herzen liegen, wie uns jetzt die Dinge am Herzen liegen, da wir endlich sind und wissen, dass die Zeit, die uns zur Verfügung steht, begrenzt ist. Das wäre dann wirklich ein Leben, dessen man schnell überdrüssig wird.
Verlust macht uns zu dem, was wir sind
Nick Cave, ein anderer Experte in Sachen Endlichkeit, hat vor kurzem einen ganz ähnlichen Gedanken formuliert. Seiner Ansicht nach ist die fundamentale Erfahrung von Menschen der Verlust. Diese Erfahrung ist ihm zufolge das entscheidende Element, das uns zu den besonderen Wesen macht, die wir sind. Und der Sinn in unserem Leben besteht darin, angesichts dieser Verlusterfahrungen Verbindungen zu anderen Menschen herzustellen und ihnen in Güte zu begegnen.
Ohne Verlust wären diese Akte der Güte nicht möglich, denkt Cave, und unser Leben würde entsprechend seinen Sinn verlieren.
Versteht man den Tod als eine – und möglicherweise sogar die zentrale – Form von Verlust, dann deckt sich der Gedanke von Nick Cave mit der Argumentation von Bernard Williams: Der Tod ist schrecklich, aber es ist kindisch, unsterblich sein zu wollen, weil wir ohne Sterblichkeit nichts so wichtig finden würden, wie die Dinge, deren Verlust wir fürchten, wenn wir uns vor dem Tod fürchten. Irgendwas an diesem Gedanken leuchtet mir ein. Für einen Moment höre ich auf, mit dem Fuss aufzustampfen. Zumindest wenn es um den Tod geht.
Den Traum von einem Jahr ohne Herbst und Winter habe ich noch nicht verloren.
Christian Budnik ist Philosoph. Er verbrachte seine ersten Lebensjahre in Polen, emigrierte dann mit seiner Familie nach Deutschland und lebt nun seit 15 Jahren in Bern.