Woran die Kitas kranken
Die Situation für Kitas ist schwieriger geworden. Das Beispiel der Kita Ahoi am Bollwerk, die Ende 2023 geschlossen wurde, zeigt auch, wo die Probleme der Branche liegen.
Es klang nahezu ideal – ein super Betreuungsschlüssel, flexible Pensen, eine lange Eingewöhnungszeit für die Kinder mit der Möglichkeit, Tür an Tür mit dem Kind im Co-Working zu arbeiten, zentrale Lage direkt am Bahnhof: Als die Kita Ahoi Bollwerk am 1. September 2022 eröffnete, schien eine neue, innovative Form der Kinderbetreuung in Bern möglich. «Wir waren begeistert vom Konzept», erzählt eine Mutter. Das ganze Haus am Bollwerk 21 ist mit Angeboten für Familien und Kinder belegt; von der Kinderarztpraxis über Therapieangebote bis hin zum Babyschwimmen ist hier alles unter einem Dach.
Eine Kita mit Co-Working-Option für die Eltern schien da perfekt zu passen. Und die Aussichten waren noch besser.
Als Halbtagesangebot gestartet, sollten die Betreuungszeiten später ausgebaut werden, erfuhren interessierte Eltern. Auch sei geplant, dereinst vom Eckraum im Erdgeschoss in den oberen Stock umzuziehen, wo ein Lichthof und deutlich mehr Platz zur Verfügung stehen würde. Und tatsächlich: Die Kita hielt für die Eltern, was sie versprach. Die Betreuungsbedingungen waren optimal; maximal 8 Kinder auf 2 ausgebildete Betreuungspersonen gemäss Konzept, was deutlich besser ist als der kantonale Mindeststandard; im Alltag war der Betreuungsschlüssel noch besser.
Konnte das wirtschaftlich aufgehen?
Nein. Ein gutes Jahr nach dem Start, am 6. Oktober 2023, erhielten die Eltern die Mitteilung, dass die Kita auf Ende 2023 geschlossen werde. Teilweise waren ihre Kinder erst wenige Monate in der Kita Ahoi betreut worden.
Die Eltern hätten vielleicht ahnen können, dass es nicht zum Besten steht mit der Kita. Der angekündigte interne Umzug war immer wieder verschoben worden, die Kindergruppe war klein geblieben, und es hatte Personalwechsel gegeben. Insbesondere hatte die diplomierte Kindheitspädagogin HF, die das neue Betreuungsangebot auf die Beine gestellt hatte, den Betrieb per Ende Mai 2023 verlassen.
«Aus heiterem Himmel»
Und trotzdem sagen mehrere Eltern: Für sie sei die Nachricht der Schliessung «aus heiterem Himmel» gekommen. Als Grund für die Schliessung gab der Vorstand in der Kündigung unter anderem an, dass die Kita «in den letzten Monaten immer wieder ein Defizit» geschrieben habe und dass sich kein passendes Führungs- und Betreuungspersonal fand. Stephan Zesiger, alleiniger Verwaltungsrat der am Bollwerk 21 tätigen Kompetenzwerk 21 AG und treibende Kraft hinter dem «Haus für Kinder», war nicht zu einem Gespräch über deren Ende bereit. Er hielt aber bei der Anfrage im November schriftlich gegenüber der «Hauptstadt» fest: «Die finanziellen Rahmenbedingungen haben sich in den letzten 18 Monaten sehr verändert.» Alle anderen Angebote im Bollwerk würden aber bestehen bleiben. «Das Haus ist voll vermietet mit Angeboten rund um die Themen Eltern mit Kleinkindern, Bindung und Schwangerschaft.»
Auch wenn beim Scheitern der Kita Ahoi zahlreiche spezielle Faktoren mitspielten, kann der Fall aufzeigen, woran letztlich die ganze Branche krankt. Eine Branche, die eigentlich boomen müsste, wenn man die potenzielle Nachfrage an der Häufigkeit misst, mit der Politiker*innen und Arbeitgeber*innen das mystische Konzept der «Vereinbarkeit» bemühen.
Woran liegt es, dass wir beim Thema Kita vor allem von Problemen hören? Fünf problematische Aspekte der familienergänzenden Kinderbetreuung, die letztlich alle eng verknüpft sind – und in den meisten Fällen nicht nur Stadtberner Kitas betreffen:
1. Der Personalmangel
Problem Nummer 1, 2 und 3 der Kitas in der Schweiz ist laut einer aktuellen Erhebung des Branchenverbands Kibesuisse der Personalmangel. Am meisten Sorgen bereiten den Kitas Krankheitsausfälle (fast drei Viertel der befragten Kitas nannten diese), am zweitmeisten das Finden von Personal mit angemessener Qualifikation. Auch die Kita Ahoi litt laut Stephan Zesiger an Personalknappheit. Nun dürfte das teilweise am allgemeinen Fachkräftemangel liegen (der ironischerweise womöglich abgeschwächt werden könnte, wenn es mehr bezahlbare Betreuungsangebote gäbe).
Doch in der Kita-Branche gehen die Probleme tiefer. Der Lohn ist im Verhältnis zur Verantwortung und Belastung niedrig: Beim Berufseinstieg verdient eine Fachperson Betreuung mit Eidg. Fähigkeitszeugnis bei einem 100-Prozent-Pensum durchschnittlich 56‘200 Franken brutto. Die Entwicklungsmöglichkeiten sind gering. Selbst Kindheitspädagoginnen, die einen Fachhochschulabschluss haben, müssen sich teilweise mit dem Lohn einer Fachperson Betreuung Kind (FaBe-K) begnügen.
Lange vermochte die Sinnhaftigkeit des Berufs diese Nachteile offenbar zu kompensieren. Doch in den vergangenen Jahren, gerade in der Pandemie, hat die Attraktivität der Branche gelitten. Nahm die Zahl der Lernenden jahrelang stark zu, stagniert sie seit 2020. Die Fluktuation (Austrittsquote) von ausgebildeten Fachpersonen ist mit 33 Prozent sogar noch deutlich höher als in den Spitälern (unter 20 Prozent), wo schon längst von einem «Pflegenotstand» die Rede ist. Zur Einordnung: Eine gesunde Personalfluktuation liegt bei etwa 10 Prozent.
Und so ist längst eine Negativspirale in Gang, die kaum zu stoppen scheint: Qualifizierte Personen verlassen die Branche und suchen einen besser bezahlten Job beispielsweise an einer Schule; die verbleibenden versuchen den chronischen Personalmangel zwar zu kompensieren (den Kindern zuliebe!), leiden aber unter den unbefriedigenden Arbeitsbedingungen und brennen teilweise aus. Darunter leiden letztlich auch jene Betriebe, die lange keinerlei Probleme hatten, Personal zu finden, weil sie aussergewöhnlich gute Arbeitsbedingungen bieten. Der Personalnotstand ist schon lange bekannt, die Branche warnt seit Jahren vor einer Betreuungskrise. Eine Entspannung ist noch nicht in Sicht.
Kurzfristige Linderung in der aktuellen Situation böten beispielsweise Aus- und Weiterbildungsangebote für unqualifiziertes Assistenzpersonal oder Quereinsteigende; Kibesuisse arbeitet an solchen. Nun seien aber die Behörden am Zug, fordert der Verband. «Sie müssen rasch und engagiert mehr Geld ins System pumpen.»
2. Die Finanzen
Die Betreuung in einer Kita ist für Stadtberner Eltern seit 2021 und dem Übergang des Betreuungsgutschein-Systems an den Kanton teurer geworden, und zwar in allen Altersklassen. Das zeigt das Monitoring zu Kindertagesstätten des Forschungsunternehmens Infras im vergangenen September. «Eltern mit tieferen Einkommen bezahlen seit der Systemumstellung überdurchschnittlich mehr für die Kita-Betreuung», schreibt Infras. Das wirkt sich logischerweise auf die Nachfrage aus – weniger Eltern können sich eine Betreuung in der Kita leisten. Auch die Kita Ahoi konnte ihre Plätze nicht auslasten.
Ein Kita-Platz für einen Säugling wird vom Kanton Bern mit höchstens 150 Franken pro Tag subventioniert. Ab 1-Jährig beträgt der Maximalsatz für tiefe Einkommen 100 Franken, bei Kindergartenkindern 75 Franken. 100 Franken für ein Kleinkind: Das deckt nicht einmal annähernd die Kosten, die ein Platz tatsächlich verursacht. In einem Positionspapier von Kibesuisse werden allein die Personalkosten pro Kind in einer beispielhaften Modellrechnung auf 156 Franken beziffert (und dieses Papier ist bereits vier Jahre alt, der Betrag dürfte heute noch höher liegen). Dabei machen die Personalkosten etwa drei Viertel der Gesamtkosten aus – die hypothetischen Vollkosten betrugen demzufolge also schon im Jahr 2020 mehr als 200 Franken pro Kitakind und Tag.
Wer zahlt die Differenz? Alle Kosten, die über den subventionierten Betrag hinausgehen, werden entweder den Eltern verrechnet (einzig in der Stadt Bern gibt es noch einen Zustupf) – oder aber die Kitas tragen die Kosten selber: In der bereits erwähnten Umfrage von Kibesuisse gaben 30 Prozent der Kitas an, im Jahr 2022 Verlust geschrieben zu haben. Ebenfalls 30 Prozent der Befragten befanden in der Umfrage, das Finanzierungsmodell sei eine der grössten Herausforderungen im betrieblichen Alltag. Damit sei schlicht kein kostendeckendes Arbeiten möglich.
3. Die mangelnden Anreize für Qualität
Das Problem bei allen Betreuungsdienstleistungen ist, dass hier die üblichen marktwirtschaftlichen Effizienzregeln nicht gelten – die Politik Kitas aber dennoch so steuert, als ob. Kitas erhalten gleich viel Geld pro subventionierten Betreuungsplatz, egal, ob sie einen rechtlich gerade noch genügenden Betreuungsschlüssel haben oder eine deutlich bessere Betreuung anbieten. Das setzt in Bezug auf die Qualität Fehlanreize. Denn die Betreuung eines Kindes (eines alten Menschen, einer Kranken) kann nur beschränkt «effizienter» gestaltet werden, wie das bei der Produktion eines Autos am Fliessband möglich ist. Auch bei der Kita Ahoi, die ebenfalls gutscheinberechtigte Plätze anbot, ergab sich diese Problematik: «Die Betreuungspersonen haben auf einen Betreuungsschlüssel bestanden, der bei weitem nicht für eine schwarze Null gereicht hätte», schreibt Stephan Zesiger. Resultat: Kinder und Eltern waren zwar glücklich, aber das Geld fehlte.
Mehrere Expertinnen bestätigen im Gespräch: Es fehlen Qualitätsanreize bei der Kinderbetreuung – die Kitas werden allein über Mindeststandards und finanzielle Anreize gesteuert. Der Kanton sieht keinen Anlass, das zu verändern: «Da die Erziehungsberechtigten die Kita selber wählen können, ist es ihnen überlassen, eine gegebenenfalls aufgrund der Zertifizierung etwas teurere Kita zu wählen und entsprechend höhere Kosten zu tragen», schreibt die zuständige Sozialdirektion des Kantons. Die pädagogische Qualität ist auch kein Thema in der SP-Kita-Initiative, wie der Branchenverband Kibesuisse bemängelt. Eine Lösung ist also auch hier nicht absehbar.
4. Die Kurzfristigkeit des politischen Zyklus
Obwohl seit Jahrzehnten erwiesen ist, welche wichtigen Leistungen zur Integration und frühkindlichen Bildung eine gute familienergänzende Kinderbetreuung vollbringen kann, und zahlreiche Studien auch ihren volkswirtschaftlichen Nutzen nachweisen, wird sie weder wertgeschätzt noch ausreichend finanziert. Das Problem: Der positive Nutzen guter Betreuung für die Öffentlichkeit zeigt sich erst nach Jahren. Der kurzfristige Schaden mangelhafter oder fehlender Betreuungsangebote hingegen wird lange von Individuen abgefedert. Folge dieser Problematik sind ausgebrannte Betreuungspersonen; Eltern, die ihre Kinder mangels qualitativ hochwertiger und bezahlbarer Betreuungsangebote lieber zuhause betreuen und dabei auf eigene berufliche Chancen verzichten; Kinder, die ihr Potenzial nicht entfalten können oder schlimmer noch, unter überforderten Eltern und Betreuungspersonen leiden; Trägerschaften, die Betreuungsplätze abbauen, Öffnungszeiten reduzieren oder Gruppen schliessen. Zwar sind sich Fachleute einig, dass sich jeder Franken, der in die frühkindliche Bildung und Betreuung gesteckt wird, mehrfach auszahlt. Aber Politik funktioniert naturgemäss eher kurzfristig, in Budgetjahren oder Legislaturen.
Inzwischen scheint das Problem zumindest erkannt. Aktuell ist eine Vorlage für eine Vergünstigung der Betreuungskosten beim Ständerat hängig – er hatte das Geschäft vor den Wahlen verschoben. Die Vorlage würde 770 Millionen Franken pro Jahr kosten. Unterstützt wird sie von einer verhältnismässig breiten Allianz von Organisationen; dazu gehört auch der Arbeitgeberverband. Der Bundesrat hingegen lehnt einen Bundesbeitrag «grundsätzlich ab». Auch die Berner Kantonsregierung hatte sich mit dem Argument, Kinderbetreuung sei Kantonssache, dagegen ausgesprochen – als einer von drei Kantonen. Die anderen 23 waren dafür.
Die ständerätliche Bildungskommission sähe es lieber, wenn nicht Bund und Kantone, sondern die Arbeitgeber für die Vergünstigung der Betreuung zahlen würden. Ihr Modell, das demnächst in die Vernehmlassung geschickt wird, trifft auf Widerstand von Kibesuisse, Alliance F, und Alliance Enfance. Auch der Arbeitgeberverband hat sich dagegen ausgesprochen.
5. Das gesellschaftliche Credo: Kinder sind Privatsache!
Dass in der Schweiz anscheinend niemand zusätzliches Geld in die familienergänzende Kinderbetreuung stecken will, liegt nicht nur an knappen Budgets.
Kleine Kinder gelten in weiten Teilen der Schweizer Bevölkerung immer noch als Privatsache. (Zumindest die ersten vier Jahre, bis sie mit der obligatorischen Schulzeit plötzlich doch Staatsaufgabe werden.) «Grosse Teile der Gesellschaft gehen davon aus, dass Kinderbetreuung etwas ist, das Personen mit zwei X-Chromosomen einfach gratis machen», formuliert es eine Branchenvertreterin. Kurz: Warum sollte die Gesellschaft nun plötzlich für etwas aufkommen, das Frauen jahrzehntelang unbezahlt erledigt haben?
Forderungen, wonach Kitas ins Bildungssystem gehören, werden aber immer lauter. «Der Staat müsste die frühkindliche Betreuung so finanzieren, wie er es mit der Schule macht», forderte Kibesuisse schon 2019 im «Tages-Anzeiger».
Unterstützung für diese Forderung kommt jüngst auch aus der Wissenschaft: Die Ökonomin Monika Bütler sagte erst kürzlich in einem Interview, sie fände es «sinnvoll, wenn die Kita-Strukturen zum Schulsystem gehörten». Sie würde Kitas zwar «nie für obligatorisch erklären.» «Aber manchmal muss die Politik Strukturen vorgeben, um gewisse Ziele zu erreichen, zum Beispiel die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.»
Aus der Kita wird ein AirBnB
Kitas ins Bildungssystem: Das wäre eine Revolution. In der Schweiz brauchen Revolutionen Zeit. Darauf konnten die Eltern jener Kinder, welche die Kita Ahoi besuchten, nicht warten. Sie brauchten vergangenen Herbst innert kürzester Zeit eine neue Betreuungsmöglichkeit. Gleichzeitig musste die Kindergruppe im Haus für die letzten zwei Monate noch einmal umziehen.
Denn die erst kürzlich bezogenen Kita-Räume sollten ab Ende Oktober in ein weiteres AirBnB umfunktioniert werden. Aktuell sind auf der Buchungsplattform zwei Unterkünfte am Bollwerk 21 verfügbar. Wer beispielsweise Ende Januar eine Nacht in der schönen «Stadtwohnung im Herzen von Bern inkl. Pool» verbringen will, zahlt – exklusive Reinigung – 407 Franken pro Nacht.