Das volle Leben – «Hauptstadt»-Brief #19

Donnerstag, 21. April 2022 – die Themen: Gedanken aus Palermo, Tschernobyl im Leben und im Theater, Slam Poetry, Bärn-Magazin, Kunsthalle. Und: «Down at the Doctors».

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(Bild: Marc Brunner, Buro Destruct)

Heute möchte ich den Tag mit ein paar Gedanken zu einer Person aus Italien beginnen (wo gefühlt gerade ziemlich viele Berner*innen und Hauptstädter*innen in den Ferien sind oder waren). Letzte Woche starb im sizilianischen Palermo die grosse Fotografin Letizia Battaglia. Sie wurde berühmt, weil sie als Fotoreporterin mit ihren Schwarzweiss-Bildern von Mafia-Verbrechen zu einer furchtlosen Kämpferin gegen die Gewaltherrschaft der «Cosa Nostra» wurde. Sie harrte in den 1990er-Jahren in Palermo aus, als dort praktisch Bürgerkriegszustände herrschten. 

Die Künstlerin exponierte sich in der Lokalpolitik, um ihren Beitrag zur Befriedung Palermos zu leisten. Vor einigen Jahren besuchte ich das stilvolle Fotomuseum, das sie in einem abgetakelten Quartier der auferstandenen Stadt leitete. Ich war beeindruckt, und deshalb schaute ich jetzt, als sie gestorben war, den (englisch untertitelten) Dokumentarfilm über sie und las das letzte Interview, das sie, stets mit violett gefärbten Haaren, kurz vor ihrem Tod gegeben hatte.

Sie sagte Dinge, die mir geblieben sind.

Auf die Frage, ob sie mit ihren grossartigen Bildern des Grauens nicht das Böse verkläre, antwortete sie: «Ich feiere das Böse nicht, ich mache es sichtbar durch die Schönheit des Bilds. Ich fotografiere, was ich sehe. Mit meinem Herz und meinem Verstand, das sind meine Instrumente.» Ich verstehe Letizia Battaglia und ihre Arbeit als Plädoyer für die Kraft, die Menschlichkeit dem Grauen entgegenzusetzen, auch wenn dieses unbesiegbar scheint. Im Kleinen wie im Grossen.

Von mutigen Menschen kann man sehr viel lernen. Immer und überall. Das volle Leben ist das, was zählt.

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46.942829, 7.444484 (An der Aare). (Bild: Sarah Wipfli)

Tschernobyl: Natürlich dachte ich auch an Letizia Battaglia und ihren Mut, an das volle Leben zu glauben, als ich den eindringlichen Text las, den meine Kollegin Marina Bolzli über die gebürtige Russin Annushka Leykum geschrieben hat. Leykum war 8-jährig und zu Besuch bei ihrer Grossmutter, als am 26. April 1986 im nicht weit entfernten Tschernobyl der Atomreaktor explodierte. Hohe schwarze Wolken türmten sich am Himmel auf, und die ahnungslose Annushka blieb draussen, als die ersten Tropfen fielen. Sie hinterliessen Staubflecken auf ihrem Kleid, erschrocken rannte sie nach Hause. Seit 20 Jahren lebt Annushka Leykum, die auch ukrainische Wurzeln hat, in Bern. Jetzt übersetzt sie für geflüchtete Ukrainer*innen, und wird dabei auch immer wieder an ihre eigene Geschichte erinnert. Davon hat sie auch den Macher*innen des Theaterstücks «tschernobyl/my love» erzählt, das heute im Tojo Theater Premiere hat.

Slam Poetry: «Texte können rotzig, frech und arrogant sein, klingen aber durch das Berndeutsch immer noch nett.» Das sagte Kay Neuenschwander, umtriebiger Kopf der Berner Slam-Poetry-Szene, meiner Kollegin Flavia von Gunten. Ab heute Donnerstag steigen in Bern die Slam-Schweizermeisterschaften, und von Gunten hat die Stimmung in der «Slamily» für ihren lesenswerten Text recherchiert.

Neues altes Medium: Das «Bärn-Magazin» ist eine viermal jährlich erscheinende Livestyle-Publikation, an der unter anderem die Stadt Bern und Bern Welcome beteiligt sind. Bisher hat sie der Thuner Werd-Verlag herausgegeben. Seit gestern ist die erste Ausgabe unter der Verantwortung der Könizer IMS Marketing AG, bei der auch die Gratiszeitung Bärnerbär erscheint, auf dem Markt. Überthema der aktuellen Nummer ist Nachhaltigkeit, mit Rapper Manillio und seinem Laden für kuratierte Second-Hand-Kleider als Headliner. Interessant für politisch Interessierte ist ein gemeinsames Gespräch mit SP-Nationalrätin Flavia Wasserfallen und ihrem Ehemann Omar el Mohib, Co-Leiter des Stadtberner Wirtschaftsamts. Sie äussern sich unter anderem zu «blinden Flecken» in der rot-grünen Oase Bern.

Was soll Kunst? Valérie Knoll ist seit 2015 Direktorin der Berner Kunsthalle, jetzt tritt sie ab. Die Kunsthalle, am Ende (oder Anfang) der Kirchenfeldbrücke, ist ein spezieller Kunstort, in der Unabhängigkeit, auch im Denken, wichtig ist, wie Knoll im Gespräch mit der WochenZeitung (WoZ) betont. Für sie sei es wichtig, dass Kunst nichts müsse: «In einer Zeit, in der alles funktionalisiert und optimiert wird, in der einem alles transparent gemacht und serviert werden soll, braucht es ganz dringend Orte, wo das nicht so ist. Kunst ist keine Dienstleistung. Sie muss nicht beheben, was die Politik nicht zustande bringt», sagt Knoll.

PS: Und hier ein Ausgehtipp für meine Altersgruppe (Ü50+) für morgen Freitag abend (ab 21 Uhr). DJ-Urgestein Jüre Hofer lässt es im Kulturhof Köniz mit seinem legendären Rock-Tanz-Party-Format «Down at the doctors» krachen. Kurz gesagt: Der Oldie legt Oldies für Oldies auf (wie man diesem Insta-Video unschwer ansieht) – und spart sicher nicht an Lautstärke: Hörgeräte überflüssig. Gerockt wird das volle Leben, und zwar richtig. Jüngeren Nachtschwärmer*innen empfehle ich, ab heute Nachmittag die «Hauptstadt»-Nachtleben-Tipps auf unserem Instagram-Kanal zu konsultieren. Let’s dance!

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