30 Minuten mehr Schlaf

Das Schulhaus Spitalacker in Bern darf die Frühstunden definitiv abschaffen. Und ebnet so den Weg für andere Schulen, es ebenfalls zu tun.

Marcel Sahli (Schulleiter), Jan Holler (ehemaliger Elternratspräsident) und Markus Heinzer (Schulkommission) zum Thema Fruehstunden an Schulen fotografiert am Donnerstag, 20. Maerz 2025 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Es brauchte alle: Schulleiter Marcel Sahli, Elternrat Jan Holler, Schulkreiskommissionspräsident Markus Heinzer (von links). (Bild: Simon Boschi)

Im Spitalacker im Berner Quartier Breitenrain läutet die Glocke zum Schulanfang jeden Morgen um 8 Uhr. Der Unterricht dauert bis 12.15 Uhr. Fünf Morgenlektionen für jedes Kind im Volksschulalter. Egal, ob es gerade erst mit dem Kindergarten gestartet hat oder nach den Sommerferien eine Lehre beginnt. Dieses Schulmodell liess der Kanton bisher nur testweise zu.

Nun ist klar: Der Spitalacker darf weitermachen. Und künftig können auch alle anderen Schulen im Kanton auf dieses System wechseln. Bisher startet die Schule in der Stadt Bern um 7.30 Uhr oder 8.20 Uhr. Je älter die Kinder sind, desto häufiger haben sie früh ein.

Eigentlich, so denkt man sich, ist es kein grosses Ding, ob der Schulunterricht am Morgen um 7.30 Uhr oder um 8 Uhr startet. Eine halbe Stunde mehr oder weniger Schlaf für die Kinder und Jugendlichen. So what?

Doch erstens ist diese zusätzliche halbe Stunde gerade für Jugendliche wichtig. So weisen die Schlafforschung und auch der erste Jugendgesundheitsbericht der Stadt Bern 2016 darauf hin, dass insbesondere Jugendliche einen verschobenen biologischen Rhythmus haben und frühmorgens nicht gleich leistungsfähig sind wie später am Tag.

Und zweitens ging dieser halben Stunde ein zähes Ringen voraus. Angestossen von ganz unten, von den Freiwilligen im Elternrat. Doch ohne das Zusammenspiel mit der Schulleitung, dem politischen Gremium der Schulkommission, den Behörden in Stadt und Kanton wäre es nicht so weit gekommen. Es brauchte alle.

«Wir haben zehn Jahre dafür gekämpft. Ohne Motörchen des Elternrats wäre das Anliegen untergegangen», sagt der frühere Elternratspräsident Jan Holler.

«Es ist ein gemeinsames Miteinander und es braucht Zeit», sagt Marcel Sahli. Er ist Schulleiter im Schulhaus Spitalacker.

«Ohne dieses Schulmodell hätte ich meine Ausbildung nicht machen können», sagt die dreifache Mutter Eva Hefti.

«Dank dem Spitalacker wird der Weg für dieses Modell frei. Das war mir immer wichtig. Eine solche Lösung muss für alle offen stehen», sagt Schulkreiskommissionspräsident Markus Heinzer.

Engagierter Elternrat

Doch der Reihe nach.

Bereits im Jahr 2014 gibt es in der Volksschulkommission (VSK) der Stadt Bern einen Antrag des Elternrats des Schulhauses Marzili zur Abschaffung der Frühstunden für die Oberstufe. Er wird diskussionslos abgelehnt, weil das nicht den Blockzeiten entspreche. Der Elternrat hat mit dem verschobenen biologischen Rhythmus der Jugendlichen argumentiert, dem Frühstunden zuwiderlaufen.

Ganz neu als Elternratsvertreter in der VSK ist damals Jan Holler. Der Vater von zwei Kindern, die das Spitalackerschulhaus besuchen, erinnert sich gut, wie sich die Elternräte abgekanzelt vorgekommen sind. Wie er und die beiden anderen Vertreter dachten: Jetzt erst recht.

Fortan bringen die Elternräte das Thema immer wieder an den Sitzungen ein. Sie verweisen auf die Wissenschaft, die in zahlreichen Studien aufgezeigt hat, dass die schulischen Leistungen von Jugendlichen bei einem schon nur 20 Minuten späteren Unterrichtsbeginn signifikant höher seien. «Es ging uns um den Schlaf», sagt Holler, «20 Minuten später aufstehen heisst 20 Minuten länger schlafen».

Obwohl 2016 ein entsprechender Antrag angenommen wird, passiert lange nichts.

Innovative Schule

Es geschieht dann etwas auf der unteren Ebene. Zuerst im Oberstufenschulhaus Munzinger, auch bekannt als Mosaikschule, wo der Schulbeginn ab 2014 auf 8.30 Uhr gelegt wird – die Jugendlichen aber entsprechend sehr lange Nachmittage haben.

Und anschliessend im Schulhaus Spitalacker. Marcel Sahli ist dort seit 20 Jahren Schulleiter. «Wir waren immer wieder eine Schule, die Innovationen gemacht hat. Das weiss der Kanton», sagt Sahli. Ihm ist es wichtig, gut mit allen zusammenzuarbeiten, von den Eltern über Lehrpersonen zu den Behörden.

Fruehstunden an Schulen fotografiert am Donnerstag, 20. Maerz 2025 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Im Spitalacker-Schulhaus gab es schon früh immer wieder Reformen. (Bild: Simon Boschi)

Der Spitalacker reagiert ebenfalls früh auf die Empfehlungen des Gesundheitsdienstes, keine Frühlektionen für Jugendliche mehr zu planen. Der Stundenplan beginnt für alle um 8.20 Uhr. Doch um auf die volle Lektionenzahl zu kommen, muss vor allem die Oberstufe am Nachmittag länger in der Schule bleiben. Vereine beklagen sich bei Schulleiter Sahli, verlangen Beurlaubungen. «Und es ging da nicht um ausgewiesene talentierte Kinder, sondern normale Musikschülerinnen und Sportler.» Freizeit und Schule seien nicht mehr gut vereinbar gewesen.

Im Sommer 2020 startet der vom Kanton bewilligte und von der Pädagogischen Hochschule begleitete Schulversuch im Spitalacker mit den fünf Morgenlektionen. «Mit diesem Wurf konnten wir verschiedenste Herausforderungen lösen», sagt Marcel Sahli. Jugendliche könnten mehr schlafen. Von der Elternseite her helfe es, Familie und Beruf zu vereinbaren. Die Vereine hätten wieder mehr Flexibilität. Und das System entspreche auch eher den politisch geforderten Ganztagesstrukturen, in denen Unterricht und Betreuung zusammen gedacht werden.

Zuvor hat die Schulleitung den Elternrat unter dem Präsidium von Jan Holler gefragt, ob er diesen Plan unterstütze. «Es entstand ein spontaner Applaus», erinnert sich Marcel Sahli. «Nun wusste die Schule, wir machen es nicht gegen die Eltern», sagt Jan Holler.

Doch bevor das Modell regelkonform eingeführt werden kann, müssen zwei bürokratische Hürden überwunden werden.

Die bürokratischen Hürden

Mit dem Start des Schulversuchs im Sommer 2020 ist die neue Schulzeit nicht konform mit der städtischen Blockzeitenregelung. Sie gibt einen starren Stundenplanraster für die ganze Stadt vor. Am Mittag hört der Unterricht um 11.50 Uhr auf. Als die Regelung 2022 von der Volksschulkommission geändert wird, ist dieses Hindernis überwunden.

Doch es gibt ein weiteres, schwieriger überwindbares. Im Schulmodell Spitalacker haben die Kindergartenkinder jeden Nachmittag frei, denn ihre 22 bis 25 Stunden absolvieren sie am Morgen. Laut den allgemeinen Hinweisen und Bestimmungen (AHB) zum Lehrplan 21 müssen sie aber an mindestens einem Nachmittag Schule haben.

Ausserdem sind vereinzelt Befürchtungen da, dass es für die Kleinsten zu streng ist, fünf Lektionen am Stück anwesend zu sein. Darauf reagiert die Schule mit einer längeren morgendlichen Einlaufzeit für die Kindergärteler*innen. Das reicht dem Kanton noch nicht. Er erteilt der Schule Spitalacker nach Ablauf des Tests im Sommer 2023 eine zweijährige Verlängerung, in der sie eine Lösung für das Nachmittagsproblem finden soll.

Fruehstunden an Schulen fotografiert am Donnerstag, 20. Maerz 2025 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Kein verzettelter Anfang: Im Spitalacker startet die Schule für alle um 8 Uhr. (Bild: Simon Boschi)

«Wir haben alles Mögliche durchgedacht», sagt Schulkreiskommissionspräsident Markus Heinzer. Doch nichts habe überzeugt. «Dann kamen wir zum Schluss: Wir möchten das Modell so beibehalten.» Mit einem Nachmittag Unterricht für den Kindergarten hätte man «so viel an diesem tollen System kaputt gemacht».

So zum Beispiel, dass es am Morgen keinen verzettelten Anfang mehr gebe. «Es ist ein kompakter Start, das brauchte Ruhe rein.» Die Lehrkräfte könnten besser planen, da es nur eine grosse Pause gebe. Das sei für die Schule besser – aber letztlich auch für die Familien. «Die Kinder kommen ausgeruhter in die Schule», sagt er. Vorbei die Zeiten, als die Kinder während der Woche mal um halb sieben, mal um viertel nach sieben aufstehen mussten. Vorbei auch die Zeiten, als Eltern von mehreren Kindern eine Stunde lang Zmorgebüffet machen mussten.

Entlastete Eltern

Eine dieser Mütter ist Eva Hefti. Sie hat drei Kinder. Das älteste ist in der 8. Klasse, ihre Zwillinge sind in der 4. Klasse. Bevor sie in den Breitenrain zog, lebte Hefti mit ihrer Familie in Neuseeland, wo das ältere Kind eingeschult wurde. «Als wir zurückkamen, war das eine harte Landung», sagt sie. In Neuseeland ging ihr damals 6-Jähriger jeden Tag von 9 bis 15 Uhr zur Schule. «Hier in der Schweiz beruhen die Schulzeiten noch darauf, dass sowieso jemand zuhause ist – also auf dem Hausfrauenmodell.» Sie ist froh, dass der Spitalacker ein neues Schulmodell eingeführt hat.

Hefti lässt sich momentan an der Pädagogischen Hochschule zur Lehrerin ausbilden. «Ohne dieses Schulmodell wäre das nicht oder nur mit viel mehr Kosten und Aufwand möglich gewesen», sagt sie. Die Vorlesungen dauern von 8.15 Uhr bis 11.45 Uhr. Hefti verlässt das Haus mit den Kindern und kommt kurz vor ihnen zurück.

«Die Schweiz ist ein Sonderfall mit diesen kurzen Schulzeiten», sagt Hefti. «Ich denke, die Schule muss sich weiterentwickeln in Richtung Ganztagesschule.»

Fruehstunden an Schulen fotografiert am Donnerstag, 20. Maerz 2025 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Das neue Modell kann auch den Weg für die Tagesschule ebnen. (Bild: Simon Boschi)

Auch Schulleiter Marcel Sahli denkt in diese Richtung. «Unser Modell kommt einer Ganztagesschule näher», sagt er. Zwar sei es möglich, dass Eltern wegen freier Nachmittage jetzt mehr Fremdbetreuung brauchten. Allerdings mache ausserschulische Betreuung auch qualitativ mehr Sinn, wenn sie einen ganzen Nachmittag dauere und nicht nur eine Stunde nach der Nachmittagsschule. «Das ist dann eher ein kurzer Hütedienst.»

Ein langer Prozess

Die Kinder und Jugendlichen im Breitsch haben nie mehr früh ein und am Mittag doch schon fünf Lektionen hinter sich. Die Eltern können während der Schulzeit am Vormittag ein 50 Prozent-Pensum absolvieren. Und die Lehrkräfte müssen während des Unterrichts weniger zerstückelt arbeiten.

All das wird in Zukunft auch in anderen Berner Schulen möglich sein. Das bestätigt der Kanton auf Anfrage der «Hauptstadt»: «Die intensiven Vorarbeiten der Schule Spitalacker haben zur erfolgreichen Umsetzung des Schulversuchs geführt, der um zwei Jahre verlängert werden konnte. Die Anpassungen der rechtlichen Grundlagen sind in Arbeit.»

Es sind zwei trockene Sätze, auf die Elternrat Jan Holler lange gewartet hat. Zwei Sätze, auf die Schulleiter Marcel Sahli lange hingearbeitet hat: «Die Einführung dieses Systems ist so komplex, es braucht einen Vorlauf von mindestens 1,5 Jahren», sagt er. Und betont noch einmal, dass man alle Player im Boot haben müsse: Eltern, Lehrkräfte, Schulkommission, Schulleitung. «Sonst funktioniert es nicht.»

Der Zeithorizont für alle anderen Jugendlichen im Kanton: Sommer 2027. Frühestens ab da wird das Modell Spitalacker auch in anderen Schulen umgesetzt.

tracking pixel

Das könnte dich auch interessieren

Diskussion

Unsere Etikette
L. Notter
17. April 2025 um 06:02

Spannend, bin gespannt ob und wie es an anderen Schulen umgesetzt wird. Danke für den ausführlichen Bericht!

Maja Balmer
29. März 2025 um 13:48

Wie sie ja bereits wissen, unterrichte ich im Schulkreis Spitalacker Breitenrain. Ich freue mich auch sehr, dass unser Unterrichtsmodell weitergeführt wird! Es entspricht definitiv mehr der heutigen Zeit - und auch mir persönlich.

Nur: es gibt im Schulkreis KEINE Kindergarten-Kinder, es gibt aber ganz viele Basisstufen-Kinder 😊

Und: ausgeschlafener als vor diesem Modell, kommen die Kinder nicht in den Unterricht 😉 - jedenfalls nicht die meiner Klasse.