Wie aus einer Wunde Blut
Unsere Literatur-Kolumnistin spürt in Bern an der Aare dem Frühling nach. Und beobachtet, wie das Licht der Sonne den Fluss verändert.
Die Magnolien haben ihre Blüten, die in den Knospen warteten, nach aussen gewendet und an die Äste gehängt. Mit den Blättern fangen sie das Licht der Sonne auf, das sich auf ihnen ausbreitet, die Blattränder zum Glühen bringt. Ich gehe zwischen den Magnolienbäumen hin und her, um in meinen Körper zu übersetzen, dass es sie nur zwei Tage gekostet hat, sich vollständig zu verändern.
Die Sonne zieht sich hinter eine Wolke zurück, die auseinanderbricht, sich über den Himmel verteilt in kleine Speicher weissen Lichts. Es stellt aus worauf es fällt; die Baumstämme am Hang. Eine Blatthälfte, die sich abhebt von ihrem Stiel. Den Fluss, der zittert unter seiner Reflektion.
Die Sonne verabschiedet sich niemals auf dieselbe Weise vom Tag. Einmal schleicht sie aus dem Himmel unbemerkt. Einmal lässt sie die sie umgebenden Wolken aufleuchten und erblassen, bis sie sich von ihnen nicht mehr unterscheidet. Einmal tritt sie aus dem Abend hervor wie aus einer Wunde Blut.
Jetzt brennt der Himmel an den Rändern. Rotes Licht verbreitet sich, bindet die Wolken zum Horizont. Dort machen sie Halt, geben einen zweiten Himmel frei. Er steht hinter dem ersten, verlässlich und blau. Ich fahre mit der Bahn zur anderen Seite des Ufers, um zu sehen, wie das Licht den Fluss verlässt.
An der Bahnstation fällt es durch den Schacht auf die Geleise. Es macht die Gesichter der Menschen weich, entblösst ihre Müdigkeit, eine Aneinanderreihung langer Tage und die Anforderung wichtig zu sein. Ich möchte ein Foto machen von jedem weichen Winkel in jedem wichtigen Gesicht. Von den auf dem Wellblech auslaufenden Rändern orangeglühender Sonne.
Als ich nicht mehr damit rechne, tritt sie hinter dem Turm hervor. Sie überflutet den Platz, trifft auf mein Gesicht. Dann sammelt sie ihr Licht so schnell wieder ein wie sie es gespendet hat.
Ich durchquere den Wald, dort lehnt die Sonne sich gegen die Baumstämme, taucht sie in ein kühles Rot. Dann dimmt sie ihr Licht, zieht den Baumstämmen ihre Farben aus.
Am Flussbett entkleidet sie jeden Ast und jedes Blatt. Nimmt Stein für Stein, legt einen nackt neben den nächsten. Auf dem Fluss bleiben ihre Lichtreste liegen, zeichnen die Konturen seiner Unruhe, sein unaufhörliches Tun.
Die Sonne entzieht sich der Luft, hinterlässt sie kalt und leer. Die entleerte Luft wäscht meinen Atem. Mein Geist legt seine Gedanken nieder, wird nackt wie die Steine und der Fluss. Die Kühle des Wassers strahlt ab auf meine Beine, meine Arme, mein Gesicht.
Bei Harjo* lese ich: When sun leaves at dusk, it makes a doorway. Eine Wolke öffnet sich, dahinter steht der Mond. Der Fluss trägt ihn vor sich her oder schiebt sich unter ihm hindurch. Dann blitzt er auf, wirft ihn zurück. Ich sitze in der Umarmung von Himmel und Wasser in blauweissem Licht.
*Joy Harjo, Crazy Brave, 2012
Selma Imhof (27) lebt und schreibt in Bern. Aktuell arbeitet sie an ihrem literarischen Debut «Wasser, Taube», das von Stadt und Kanton Bern gefördert wird. Für die «Hauptstadt» schreibt sie einmal im Monat eine literarische Kolumne zur Aare.