Tinus Welt
Martin Weber (77) ist Berner Arzt, Nothelfer, Ideengenerator. Er sah das Drogenelend im Kocherpark, leistete 70 Einsätze in Katastrophengebieten der Welt, engagiert sich bis heute in Nepal. Im dreiteiligen Podcast erzählt er aus seinem Leben.
Man steigt hoch in den vierten Stock des hellen, älteren Mehrfamilienhauses an der Brunnmattstrasse im Fischermätteli, ein fester Handschlag, und schon ist man drin in der Welt von Martin Weber: «Hallo, i bi dr Tinu». Kaum vorstellbar, dass jemand über die knarrende Türschwelle tritt und aus Martin Weber nicht Tinu wird.
Und kaum vorstellbar, dass jemand nicht fasziniert ist von der Lebensgeschichte des 77-jährigen, grossgewachsenen Arztes.
Die Zürcher Journalistin und Autorin Rebekka Haefeli, die den dreiteiligen Podcast für die «Hauptstadt» produziert hat, lernte den Berner Arzt Martin Weber kennen, als sie vor einigen Jahren für ihr Buch über die Hebamme Augusta Theler recherchierte. Augusta Theler arbeitete damals am Spital Thun, ist heute selbständige Hebamme und leistet regelmässig humanitäre Einsätze – zum Beispiel in Nepal. Und: Augusta Theler ist die heutige Frau von Martin Weber.
Im Gespräch mit Rebekka Haefeli berichtet Tinu Weber aus seinem Leben. Aus dem Bern der 90er-Jahre, als die offene Drogenszene omnipräsent war. Aus Sudan, Haiti oder Nepal, wo Weber nach Katastrophen in tiefe Abgründe blickte. Besonders berührend ist, wie Mediziner Weber über den Tod seiner ersten Frau spricht. Sie starb 1996 an Brustkrebs, in einer Zeit, als Diagnose- und Therapieverfahren noch weit vom heutigen Standard entfernt waren.
Die drei Folgen kannst du direkt hier auf dieser Website hören oder über die gängigen Podcast-Apps. Erstmals publiziert die «Hauptstadt» auf ihrem Audio-Kanal «Im Hinterzimmer Spezial» ein vertiefendes Gespräch mit einer Berner Persönlichkeit. Uns interessiert dein Feedback. Gefällt dir dieses Gesprächsformat und nutzt du es? Schreibe an [email protected].
Eben ist Weber zurück von einer Velotour mit Kollegen in den südfranzösischen Alpen. Sein imposanter, fotogener Schnauz – einst rötlich, heute weiss – ist ein stadtbekanntes Markenzeichen. «Ich war der Posterboy des Schweizerischen Roten Kreuzes», sagt Weber, nicht ohne Selbstironie.
Weltgewandter «Döktu»
Im Erdgeschoss des Hauses, in dem er heute noch wohnt, eröffnete er als promovierter Mediziner mit einem Kollegen eine Hausarztpraxis. Doch bleiben war nie sein Ding. Schon als sehr junger Mann brach er zu wilden Abenteuerreisen auf und fuhr in klapprigen Autos durch die Wüste. Ein beschauliches Leben als «Döktu» in Bern hätte er wohl kaum ausgehalten, sagt Weber.
Von Beginn weg zog es Tinu Weber in Weltgegenden mit schwierigeren Lebensumständen. Er schloss sich der Katastrophenhilfe-Einheit des SRK an und leistete über 70 temporäre Einsätze – etwa in Haiti, im Sudan, in Eritrea, in Nepal. Bevor es ausgebaute Kommunikationsabteilungen gab, war der begnadete Erzähler Weber fähig, die Missionen gegenüber Medienschaffenden anschaulich darzustellen.
Laufsport und Viagra
Richtig zum Vorschein kommt Webers unkonventionelle Persönlichkeit jedoch in weniger schillernden und schwierigeren Momenten. Es ist seine Fähigkeit, stets Chancen und Verbindungen zu sehen – für sich und für andere Menschen. Episoden, die das unterstreichen, sprudeln an seinem Wohnzimmertisch nur so aus Weber heraus.
Als Katastrophenhelfer war er mehrfach in Eritrea unterwegs und kam – selber ein passionierter Sportler – in Kontakt mit lokalen Spitzenläufern. Noch bevor es den lukrativen Markt mit afrikanischen Strassenläufern gab, die an europäischen Volksläufen als Headliner ihr Geld verdienen, erkannte Weber Möglichkeiten. Tinu marschierte in Bern ins damalige Laufschuh-Geschäft des Schweizer Leichtathleten Markus Ryffel an der Münstergasse, sprach diesen an, ohne ihn vorher gekannt zu haben, und vermittelte ihm die ersten eritreischen Läufer für den Grand Prix von Bern.
Mit einem gewagten Projekt verband der unermüdliche Weber die Behandlung von Prostatakrebs mit der Unterstützung unkonventioneller Ideen. Er erzählt davon, als wäre es gestern gewesen. Weber holte Silvio Ballinari, einen bei vielen bis heute bekannten Apotheker an der Gesellschaftsstrasse in der Länggasse, ins Boot. Dieser unterstützte ihn, eine günstige Version des Potenzmittels Viagra herzustellen.
Weber verschrieb zusammen mit Berner Urologen sein Präparat Patienten, denen nach einer Krebsdiagnose die Prostata entfernt werden musste – um zu verhindern, dass sie das überteuerte Originalmedikament kaufen mussten. Der Berner Arzt schlug aber mit Wissen der Patienten eine Marge auf sein Medikament. Mit diesen Zusatzeinnahmen unterstützte er junge Menschen bei «verrückten Projekten», wie er sagt – zum Beispiel eine Gruppe von Velokurieren in Budapest, die Essen an Obdachlose verteilten.
Buddhistische Kreise
Auf die Probe gestellt wird Webers Optimismus dann, wenn es ihm selbst schlecht geht. Vor wenigen Jahren überstand Weber nur knapp eine schwere Covid-Infektion. Er lag zwei Monate im Spital, musste beatmet werden und verlor 17 Kilogramm Körpergewicht.
Psychisch an seine äussersten Grenzen geriet Weber, als seine erste Frau 1991 mit einer Brustkrebsdiagnose konfrontiert wurde. Fünf Jahre kämpfte sie um ihr Leben, neben ihr Martin Weber, der sie als Partner nach Kräften unterstützte, als Arzt im Innersten aber stets ahnte, wie schlecht die Chancen stehen.
Nach ihrem Tod blieb er alleine zurück mit zwei Kindern, er klinkte sich ein Jahr aus dem Berufsleben aus und gab sich Zeit zu trauern. Später traf Weber seine heutige Frau Augusta Theler. Er sei ihr unglaublich dankbar, sagte er, wie sie sich in sein Leben und das seiner Familie eingab, ohne ihren eigenständigen Weg als Berufsfrau aus den Augen zu verlieren.
Weber, der sich schon zuvor in die buddhistische Philosophie vertieft hatte, malte in der Trauerzeit Blätter mit Tausenden von Kreisen voll und warf sie dann weg. «Es war diese spirituelle Praxis», sagt Weber, «die mir half, den ewigen Kreislauf des Lebens zu verinnerlichen.»