«Es ist spannend, wie man an sich arbeiten kann»
Annatina Schultz ist neu die oberste Staatsanwältin des Kantons Bern. Davor war sie Expertin für Menschenhandel. Und noch früher Klettererin auf Weltspitzen-Niveau.
Dienstagmorgen, der 1. April, am Berner Obergericht. Ein Mann ist beschuldigt wegen einfacher Körperverletzung mit einem gefährlichen Gegenstand. Nach viel Whisky und Provokationen habe er seinem Bekannten mit dem abgerundeten Teil eines Klauenhammers ins Gesicht geschlagen.
Die Zuschauerreihen im Gerichtssaal sind fast leer. Anwesend sind drei Oberrichter*innen, eine Gerichtsschreiberin, der Beschuldigte, sein amtlicher Verteidiger, eine Übersetzerin sowie Annatina Schultz. Es ist ihr erster Tag im Amt der Generalstaatsanwältin – und somit ihr erster Auftritt in dieser Position.
Darauf muss Schultz den vorsitzenden Richter selbst aufmerksam machen. Dieser stellt sie versehentlich als «stellvertretende Generalstaatsanwältin» vor – ihre bisherige Position. «Das ‘stellvertretend’ können Sie weglassen», bemerkt die 47-Jährige freundlich.
In der Verhandlung bestreitet der beschuldigte Mann, den Hammer jemals behändigt zu haben. Er fordert einen Freispruch. Schultz jedoch beantragt für ihn statt einer bedingten Geldstrafe, wie sie das Regionalgericht verhängt hat, eine deutlich höhere bedingte Freiheitsstrafe. Nur diese härtere Sanktion sei bei dem Mann wirksam, der in der Vergangenheit immer wieder Delikte begangen hat, sagt Schultz in ihrem Vortrag.
Kurz vor Mittag ist die Verhandlung zu Ende. Das Urteil soll einen Tag später telefonisch verkündet werden.
Erste Generalstaatsanwältin
Zwei Stunden später empfängt Annatina Schultz in ihrem Büro am Nordring. Ein bunt gestreiftes Sofa schmückt den Raum. Schultz trägt, wie am Morgen vor Gericht, einen anthrazitfarbenen Anzug. Sie spricht klar und präzise, umgangssprachliche Ausdrücke korrigiert sie oft hinterher. Trotzdem wirkt sie authentisch, denkt interessiert über Fragen nach.
Schultz ist offensichtlich fasziniert von ihrer Arbeit. Sie sagt oft: «Extrem spannend», oder: «Das interessiert mich sehr». Und sie wird später selbst bestätigen, was ihr Werdegang vermuten lässt: Wenn sie etwas interessiert, kann sie darin sehr weit gehen.
Annatina Schultz (SP) ist die erste Frau im Amt der Generalstaatsanwältin. Ihr Vorgänger Michel-André Fels (FDP) wurde pensioniert. Mit Simone Steffen (FDP) übernimmt als stellvertretende Generalstaatsanwältin ebenfalls eine Frau.
«Eigentlich schade, ist das Geschlecht überhaupt ein Thema», sagt Schultz. «Aber wenn ich ein Vorbild sein kann für andere, bedeutet mir das viel.» Von den Staatsanwält*innen des Kantons Bern sind zwar ungefähr die Hälfte Frauen, doch in den Führungspositionen überwiegen die Männer nach wie vor. «Da haben wir die gewünschte Ausgewogenheit noch nicht erreicht. Deshalb freue ich mich sehr, ist es gelungen, erstmals eine Frau an der Spitze zu haben», sagt Schultz.
Die Generalstaatsanwältin trägt die oberste Verantwortung für die Strafverfolgung im Kanton Bern. Damit muss sie ein funktionierendes, faires und rechtsstaatliches Strafsystem garantieren: eine zentrale staatspolitische Aufgabe.
Sie steht den vier regionalen Staatsanwaltschaften, den drei kantonalen sowie der Generalstaatsanwaltschaft vor und leitet damit rund 400 Mitarbeitende. Sie vertritt die Staatsanwaltschaft auch in der Justizverwaltungsleitung und gegenüber dem Grossen Rat, der als Aufsichtsorgan zuständig ist. Insgesamt eröffneten die Berner Staatsanwaltschaften letztes Jahr fast 10'000 Untersuchungen.
Nach wie vor wird Annatina Schultz auch eigene Straffälle führen. Die Generalstaatsanwaltschaft ist für Fälle zuständig, die von den erstinstanzlichen Regionalgerichten ans Obergericht weitergezogen werden, und von da ans Bundesgericht. «Ich werde weiterhin vor Gericht gehen, aber deutlich weniger als in der vorherigen Funktion», sagt Annatina Schultz. Es sei ihr sehr wichtig, immer noch praktisch zu arbeiten, auch wenn dafür nun weniger Zeit übrig bleibe. «Ich mache das sehr gerne, es ist unser Kerngeschäft», sagt Schultz.
Die Verhandlung dieses Morgens zeigt: Es sind nicht etwa nur spektakuläre Fälle, um die sich die Generalstaatsanwältin kümmert. Sondern auch eher alltägliche, wie der eskalierte Streit nach einem Trinkgelage. «Wir verteilen die Fälle meistens zufällig nach einer Quote», erklärt Schultz. «Ich suche sie mir nicht aus.»
Ermitteln, Anklage erheben, einstellen
Annatina Schultz hat eine beeindruckende Karriere hingelegt. Seit 2021 war die patentierte Rechtsanwältin stellvertretende Generalstaatsanwältin. Davor arbeitete sie während elf Jahren als Staatsanwältin bei der kantonalen Staatsanwaltschaft für besondere Aufgaben, wo sie sich auf Fälle von Menschenhandel spezialisierte.
2020 wurde im bisher grössten Schweizer Menschenhandel-Prozess eine Thailänderin in 78 Fällen schuldig gesprochen und zu einer Freiheitsstrafe von zehneinhalb Jahren verurteilt. Es war ein Fall von Annatina Schultz.
Nebenberuflich verfasste Schultz zwischen 2017 und 2020 an der Uni Zürich eine Dissertation, in der sie sich mit dem Tatbestand für Menschenhandel im Strafgesetzbuch auseinandersetzt. Sie präsentiert darin einen Reformvorschlag für den Gesetzesartikel, der in ihren Augen zu unklar formuliert ist und deshalb Opfer zu wenig schützt. Im Bundesparlament sind aktuell mehrere Motionen hängig, die diese Reform umsetzen sollen. Der Bundesrat hat die Vorstösse im Februar gutgeheissen, der Nationalrat hat sie im März angenommen.
«Nach der Diss merkte ich, dass ich gerne in eine Führungsposition möchte», erzählt Schultz. Also absolvierte die zweifache Mutter einen zusätzlichen Master im Bereich Führung an der Uni Luzern. «Mich interessiert es, zwischen Praxis und Theorie hin und her zu wechseln, Wissen anzureichern und es dann umzusetzen», sagt Schultz.
Staatsanwältin wurde sie, weil sie das Strafrecht schon während des Jurastudiums «sehr interessiert» habe. Auch später als Gerichtsschreiberin am damaligen Kreisgericht Bern-Laupen waren es die Straffälle, die sie faszinierten.
«Irgendwann hatte ich ein starkes Bedürfnis, in diese Fälle einzutauchen, indem ich die Verfahren selbst leite», sagt sie. «Weil ich die juristischen Fragen sehr interessant fand, aber auch die Sachverhalte und Lebensgeschichten, die man miterlebt.» Schultz wurde 2008 Untersuchungsrichterin, drei Jahre später Staatsanwältin.
Als Staatsanwältin sei man im Vergleich zum Gericht näher an den Fällen dran. Man ermittelt gemeinsam mit der Polizei, leitet Voruntersuchungen und Verfahren, erhebt Anklage oder stellt Verfahren ein, wenn sich ein Verdacht nicht erhärtet. Eine Anklage müsse man vor Gericht gut begründen und dabei sprachlich präzise arbeiten, sagt Schultz. «Man muss von Anfang an einen Plan haben, wie man vorgeht.»
Welche Probleme in unserer Gesellschaft kann das Strafrecht ihrer Ansicht nach lösen?
«Es ist das letzte Mittel, um die Rechtsordnung zu wahren», sagt Schultz. «Uns gibt es zum Schutz von denen, die sich an die Regeln halten. Es braucht uns wegen weniger Leute, die Rechtsgüter von anderen oder der Allgemeinheit verletzen.» Für Streitereien zwischen Einzelpersonen, etwa Nachbarn, sei das Strafrecht oft nicht die geeignete Lösung. «Da könnten Konflikte auf bessere Art gelöst werden, als zur Anzeige zu greifen.»
Karriere im Spitzensport
Annatina Schultz sagt: «Ich hatte schon immer gerne mehrere Standbeine.» Bis sie mit Mitte zwanzig ihr Studium abschloss, betrieb sie Spitzensport.
Die Bernerin wurde in den 1990er- und 2000er-Jahren sechsmal Schweizer Meisterin im Sportklettern und Bouldern. Als Mitglied der Nationalmannschaft nahm sie an internationalen Kletter-Wettkämpfen teil. Zweimal stand sie auf Weltcup-Podesten, einmal wurde sie Vierte im Gesamtweltcup. 1999 holte sie den fünften Platz an den Weltmeisterschaften im Lead-Klettern.
Zum Klettern kam sie als Schülerin über eine Landschulwoche. Als dann in ihrem ersten Gymnasium-Jahr mit dem «Magnet» die erste Kletterhalle in der Region Bern eröffnete, «hat es mich ziemlich gepackt», erzählt Schultz. Während dem Gymnasium («Ein Sportgymnasium gab es damals noch nicht») und dem Studium an der Uni Bern trainierte sie 20 bis 25 Stunden pro Woche. «Der Klettersport ist unglaublich komplex und facettenreich, weil er einen hohen technischen und mentalen Anteil hat», sagt sie.
Wenn sie etwas gerne mache, sagt Schultz, dann könne sie das «mit voller Energie» tun. «Ich habe dann so viel Interesse und Motivation, dass ich sehr weit gehen kann.»
Heute klettert sie nur noch selten. Dafür läuft sie leidenschaftlich gerne, manchmal auch an Wettkämpfen. Schultz bezeichnet den Sport als Lebensschule. «Ich trainiere gerne viel», sagt sie. «Ich finde es spannend, wie man an sich arbeiten kann. Man nimmt sich etwas vor. Manchmal läuft es nicht, dann muss man sich gut zureden. Diese Themen kommen auch sonst im Leben auf.»
Zu viel Arbeit für zu wenig Personal
Zum Beispiel als Generalstaatsanwältin. In dieser Funktion muss sich Annatina Schultz etwa mit der notorischen Überlastung der Strafbehörden auseinandersetzen.
In ihren Tätigkeitsberichten weist die Staatsanwaltschaft des Kantons Bern seit mehreren Jahren eine zu hohe Belastung ihrer Mitarbeitenden aus. So auch im am Freitag erschienenen Bericht für das Jahr 2024. Im Schnitt bearbeiten Berner Staatsanwält*innen in den regionalen Staatsanwaltschaften 76 Fälle gleichzeitig. Bis in den letzten zwei Jahren Teams eingesetzt wurden, die gezielt lange hängige Fälle abbauen, waren es manchmal bis zu 100. Das Ziel wären 60 bis 65 Fälle. Und weiterhin muss die Staatsanwaltschaft mehr Untersuchungen eröffnen, als sie abschliessen kann.
Das bringt nicht nur eine zu hohe Arbeitslast bei den Staatsanwält*innen mit sich, sondern es führt auch dazu, dass Strafverfahren unter Umständen sehr lange dauern, bis sie abgeschlossen werden. Das ist für Beschuldigte wie für Betroffene belastend.
«Die Situation ist schon länger unzumutbar», sagt Annatina Schultz. «Wir haben zu viel zu tun für zu wenig Mitarbeitende. Auf Dauer kann es nicht so weitergehen.»
Letztes Jahr hat die Generalstaatsanwaltschaft eine Personalerhöhung in drei Etappen beim Kantonsparlament beantragt. Letzten Dezember hat der Grosse Rat erste zusätzliche Stellen bewilligt. «Dafür sind wir sehr dankbar», sagt Schultz. «Wir zählen darauf, dass wir auch die weiteren Stellen erhalten.»
Sie wolle in ihrer Funktion sicherstellen, «dass unsere Leute gute Arbeit in einer guten Stimmung machen können.»
Wann hat eine Staatsanwältin eigentlich einen guten Job gemacht?
«Wenn bei einer Anklage das Gericht den Schuldspruch beschliesst, den man beantragt und gut begründet hat», sagt Schultz. Aber auch die Einstellung eines Verfahrens könne ein Erfolg sein: «Wenn sich ein Verdacht nicht erhärtet und das Verfahren in einer Einstellung endet, ist das auch ein gutes Resultat. Unsere Aufgabe ist es, die Wahrheit herauszufinden.»
Am nächsten Tag fällt das Berner Obergericht sein Urteil im Fall mit dem Whisky und dem Klauenhammer. Das Gericht spricht den Mann schuldig wegen einfacher Körperverletzung mit einem gefährlichen Gegenstand. Er wird zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 300 Tagen verurteilt. So, wie es Annatina Schultz beantragt hat.