«Gömmer Bahnhof» – Askforce-Selection #61
Es gibt ferrophile Menschen, die allem Eisenbahnerischen huldigen. Und es gibt die Askforce. Das zeigt sich am Beispiel der Slang-Redewendung «Gömmer Bahnhof».
Heute liefern wir Lektüre für den Wartsaal, also Bahnhistorisches. Hans F. aus Köniz hat da nämlich Lücken und wendet sich mit folgender Anfrage an die Askforce: «Zur Redewendung ‹Gömmer Bahnhof› wurde schon vieles gesagt. Gleichwohl: Wo kommt der Ausdruck wirklich her? Welcher Bahnhof ist gemeint?»
Was der Askforce auffällt: Hans F. schreibt «Gömmer», nicht «gömmer». Er deutet den Begriff also als Substantiv und nicht – wie die allermeisten – als Verb. Er darf deshalb zu jenen gezählt werden, die bereits über ein gewisses Vorwissen verfügen.
Der Begriff geht nämlich zurück auf den Bahnhof Gömmer. Die kleine Ortschaft Gömmer, auch Gömmersburg, lag einst im Königreich Ungarn (ungarisch: Sajógömör, weil am Flüsschen Sajó gelegen) und ist heute als Gemer Teil der Slowakei und sehr vielen überhaupt kein Begriff, wie das Beispiel von Hans F. beweist.
In der Geschichte von Gömmer gab es übrigens zwei Schlüsselereignisse: 1241 Einfall der Mongolen und in der Folge Bau einer Befestigungsanlage (darum Gömmersburg); 1874 Eröffnung der Bahnstrecke Bánréve–Dobšiná und in der Folge Eröffnung des Bahnhofs Gömmer (Fahrplaneintrag: Gömmer, Bahnhof; Koordinaten 48°27'16.67"Nord, 20°20'41.79"Ost).
Der Bahnhof Gömmer wurde zum Stolz aller Gömmerinnen und Gömmerer. Ihr Bahnhof stellte das Bedeutende im Unbedeutenden dar. Der Bahnhof wurde zum Symbol für den Anschluss an die Welt und stand freudvoll für die bescheidene Perspektive vor Ort: Auch wenn sich in Gömmer nichts erreichen liess, so liess sich nun immerhin Gömmer selbst erreichen.
Die Askforce nennt sich selber «Berns bewährte Fachinstanz für alles, die Antworten auf Fragen liefert, die viele nicht zu stellen wagen». Mit anderen Worten: Keine Frage ist zu abwegig. Das ist eine Aufforderung an alle Hauptstädter*innen: Deckt die Askforce mit euren lebenswichtigen Fragen ein – an diese Adresse: [email protected].
Über 20 Jahre lang erschien die Askforce wöchentlich im Bund und erarbeitete sich den Ruf, die schrägste Kolumne der Schweiz zu sein. Als Bund und BZ im Herbst 2021 fusionierten, verschwand die Askforce aus dem Traditionsblatt, verewigte sich in einem Buch und tauchte als Startup Anfang 2022 wieder auf.
Heute ist Gömmer per Bahn nicht mehr erreichbar. Es halten dort keine Nahverkehrszüge mehr; Teile der übrigens nie elektrifizierten Strecke sind komplett stillgelegt. Der nächste noch bediente Bahnhof liegt in Tornal’a. Beim Bahnhof Gömmer herrscht also heute tote Hose, und zwischen Bahnhof und Gleise wurde ein Zaun erstellt, an dem sich Wäsche trocknen lässt. So weit das Geschichtliche. Und dieses Geschichtliche färbte weit über die Region hinaus ab.
Im schweizerischen Sprachgebrauch etwa ist die sinnbildliche Redewendung «gömmer Bahnhof» sehr stark mit dem bahnhistorischen Kontext verbunden geblieben: Sie bedeutet, an einen Bahnhof gehen zu wollen, ohne gleichzeitig die Erwartung zu hegen, dort einen Zug zu besteigen. Bähnler*innen nennen das «abhängen».
Moderne Gömmer-Bahnhöfe werden zwecks Steigerung der Aufenthaltsqualität übrigens neu mit klassischer Musik beschallt – jener in Bern etwa mit Werken von Claude Debussy und Frédéric Chopin. Da zeigt sich, wie ernst die Berner die Pflege der Gömmer-Kultur nehmen: 1874, dem Eröffnungsjahr der Bahnlinie bei Gömmer, wurde Debussy an einem Wettbewerb für seine Darbietung von Chopins 2. Klavierkonzert ausgezeichnet.
Eine wichtige Weichenstellung auf Debussys Weg. Nichts warf ihn ab da mehr aus dem Gleis in Richtung Erfolg.
Askforce-Selection #61, 27. September 2024