«Die Bäume brauchen uns Menschen nicht»
Bern schützt seine Bäume wie keine andere Stadt in der Schweiz. Auch vor den Folgen der Klimaveränderung. Ein Gespräch mit Peter Kuhn, dem obersten Baumschützer.
In den Gewächshäusern von Stadtgrün in der Elfenau ist aktuell die Ausstellung «Bäume in der Stadt» zu sehen. Die «Hauptstadt» hat Peter Kuhn, den Leiter des städtischen Baumkompetenzzentrums, in der Elfenau zum Gespräch getroffen. Es findet auf einer Parkbank vor einer Rosskastanie mit Blick auf die Aare statt.
Wie geht es den 23’000 Bäumen in Bern?
Je nachdem, wo sie stehen, besser oder schlechter. Bäume am Strassenrand erleben Stress durch den Verkehr und durch Baustellen. Parkbäume sind weniger Stressoren ausgesetzt, ihnen geht es besser.
Ist das eine Momentaufnahme oder lassen sich diese Befindlichkeiten zu jeder Zeit feststellen?
Das ist generell so. Seit Infrastruktur wie Abwasser- und Telefonleitungen in den Boden gebaut wird, nimmt der Wurzelraum der Bäume ab. Aktuell hat ein Strassenbaum in der Stadt ein Wurzelvolumen von knapp neun Kubikmeter zur Verfügung. Im Rahmen der Ausstellung tourt ein Topf mit genau diesen neun Kubikmeter Fassungsvermögen durch die Stadt, aktuell steht er beim Haupteingang des Marzilibades. Er enthält einen toten Baum. Damit wollen wir zeigen, dass dieses Volumen nicht reicht. Damit ein Baum gut gedeihen kann, braucht er einen grösseren Wurzelraum. 36 Kubikmeter pro Baum sind unser Ziel.
Wie reagieren die anderen Beteiligten bei Bauprojekten auf diese Forderung?
Ich beobachte, dass das Bewusstsein für die Wichtigkeit von Bäumen bei den Behörden und privaten Grundstückseigentümer*innen steigt. Der Hitzesommer 2003 war ein Schnitt: Von da an wussten viele, dass es nichts schönzureden gibt. Dass das Klima sich geändert hat und sich weiter ändern wird. Seit 2016 beobachte ich, dass der Stellenwert von Bäumen noch stärker steigt.
Wie zeigt sich das?
Kürzlich wurde die Muristrasse saniert. Da kamen die Fachleute vom Tiefbau auf uns zu und fragten, ob sie dort einen zusätzlichen Baum pflanzen könnten. Noch vor wenigen Jahren wäre es kaum denkbar gewesen, dass andere Ämter von selbst auf die Idee kommen, Bäume zu pflanzen.
Nach welchen Kriterien legen Sie fest, wo Sie welche Baumart pflanzen?
Wenn der Platz fest steht, überlegen wir, welche Art ins Stadtbild passt. Weiter müssen wir beachten, dass die Frischluftzufuhr nicht gebremst wird, die Stadt muss belüftet werden. Dann machen wir uns Gedanken darüber, ob dem Baum am entsprechenden Standort genügend Wasser zur Verfügung steht. Wichtig ist auch, welche Art von Schatten der Baum spendet: lichten oder dunklen Schatten.
Worin liegt der Unterschied?
In lichtem Schatten zirkuliert die Luft besser. In dunklem Schatten ist die Kühlung zwar stärker, dafür ist die Lufzirkulation schwächer. Wo viele Abgase in der Luft sind, ist es sinnvoller, lichten Schatten zu erzeugen. Von aussen mögen diese Überlegungen einfach klingen. Aber es ist sehr komplex zu entscheiden, wo wir welche Baumart pflanzen. Es braucht sehr viel Erfahrung, weil die lokalen Faktoren eine wichtige Rolle spielen. Was in Basel funktioniert, muss nicht zwingend in Bern funktionieren. Denn dort regnet es zum Beispiel weniger als bei uns.
Durch die Klimaveränderung werden die Sommer heisser und trockener. Eine Installation in der Ausstellung zeigt, dass hitzeresistente Baumarten in der Tendenz die Biodiversität nur minimal fördern. Wie gehen Sie mit diesem Dilemma um?
Wir wissen, dass einheimische Baumarten für die Biodiversität am wertvollsten sind. Gleichzeitig wissen wir, dass viele von ihnen mit den neuen Bedingungen nicht mehr klar kommen. Einst haben Menschen definiert, was als einheimisch gilt. Inzwischen hat sich das Klima so verändert, dass es eigentlich auch nicht mehr einheimisch ist. Darum gedeihen jetzt Bäume aus anderen geografischen Lagen hier. Da ist es logisch, dass wir auf ihnen nicht die gleiche Biodiversität finden wie bei den Einheimischen. Wir versuchen, ein Gleichgewicht zu schaffen.
Was bedeutet das konkret?
Erste Priorität haben einheimische Arten. Am richtigen Standort wachsen sie trotz des veränderten Klimas immer noch, das geht manchmal leider vergessen. Zum Beispiel in Pärken, wo es feucht ist. Und auch bei fremdländischen Bäumen kann man einen für die Biodiversität wertvollen Lebensraum schaffen. Bei allen Bäumen versuchen wir, eine Begrünung zu haben rund um den Stamm. Es ist erwiesen, dass damit die Biodiversität steigt.
Stadtgrün untersucht, wie Bäume in Bern trotz verändertem Klima gedeihen können. Auf dem Rosalia-Wenger-Platz im Wankdorf wurde dazu ein Miniwald gepflanzt. Was lässt sich daraus lernen?
Der Boden dort ist mager, er enthält kaum Humus und besteht fast nur aus Kies. Der Wasserrückhalt ist darum sehr gering. Trotzdem kriegten wir dort schnell eine Begrünung mit grosser Artenvielfalt hin. Wir mussten einfach sehr viel bewässern. Schön finde ich zu sehen, dass die mobilen Stühle auf dem Platz im Baumschatten positioniert sind. Die Menschen schätzen offenbar die Kühlwirkung der Bäume.
Auf der Schützenmatte sucht Stadtgrün seit 2020 nach Baumarten, die mit längeren Trockenphasen und heissen Sommern besser zurechtkommen als bisher verwendete Arten. Welche Erkenntnisse haben Sie aus diesem Projekt gewonnen?
Wir haben Sensoren in den Boden gelegt, in Tiefen zwischen 20 und 90 Zentimetern unter der Erde. Die Temperatur messen wir im Stundentakt. An heissen Tagen beträgt sie um sieben Uhr abends 20 Zentimeter unter dem Boden 35 Grad. Das hat uns und die Fachwelt überrascht. Die Wurzel kann so kein Wasser aufnehmen und der Baum seine gewünschte Kühlleistung nicht erbringen. Für uns heisst das: Der Baum braucht noch mehr Raum, um tiefer unten Wasser zu holen. Auch eine Begrünung rund um den Stamm ist – wie auch für die Biodiversität – hilfreich, weil sie kühlt.
In einem Audio-Beitrag in der Ausstellung erzählen Sie, dass die Bäume für Berner*innen den gleichen Stellenwert hätten wie das Münster oder die Aare. Worauf stützen Sie diesen ambitionierten Vergleich?
Auf Reaktionen, die ich aus der Bevölkerung erhalte. Als ich 2008 die Leitung des damals neu gegründeten Baumkompetenzzentrums übernommen habe, erhielt ich viele Briefe. Menschen beschwerten sich, wenn ein Baum gefällt worden ist oder einer zu viel Schatten wirft. Andere bedankten sich für die Pflege oder wenn sie irgendwo einen neuen Baum entdecken. Heute erhalte ich E-Mails, aber die Inhalte der Nachrichten sind ähnlich geblieben.
Im Schweizer Durchschnitt hat die Baumfläche im Siedlungsraum in den letzten 24 Jahren um fast 10 Prozent abgenommen, in Bern hat sie um mehr als 17 Prozent zugenommen. Woran liegt das?
In Bern gibt es einfach eine Leidenschaft für Bäume. Das ergibt sich aus der Geschichte: Stadt und Kanton Bern pflanzten um 1740 die ersten Alleen in der Schweiz. Auch die Artenvielfalt in den Alleen ist grösser als in anderen Städten. Das ist unseren Vorfahr*innen zu verdanken, die sich an der französischen Gartenkultur orientiert haben. Und auch als die Armee 1756 forderte, vor allem Eschen, Ulmen und Rosskastanien – Kriegshölzer genannt – zu pflanzen, setzten sich Menschen dafür ein, zusätzlich auch schöne Bäume zu pflanzen.
Und welche Faktoren spielen in der Gegenwart eine Rolle?
Die Verwaltung schaut bei Projekten, dass zusätzliche Bäume gepflanzt werden, jüngst etwa beim Holligenpark. Auch das Baumschutzreglement hilft. Andere Städte schauen deswegen neidisch nach Bern. Nur Basel und Genf haben ähnlich strenge Reglemente. In Bern dürfen Private nicht einfach Bäume fällen, wie es ihnen beliebt. Sie brauchen eine Bewilligung dazu.
Wann wird ihnen diese verweigert?
Meistens geht es darum, dass die Bäume angeblich zu viel Schatten werfen. Wir verschaffen uns dann ein Bild vor Ort. Oft stellt sich heraus, dass die Besitzer*innen den Baum gar nicht weghaben wollen, sondern einfach nicht wissen, wie sie mit ihm umgehen müssen. Immer wieder erübrigt sich durch unsere Beratung das Gesuch.
Ihr Berufsleben lang arbeiten Sie mit Bäumen. Was fasziniert Sie daran?
Die Bäume brauchen uns Menschen nicht, aber wir brauchen sie. Ohne Bäume wäre es zu heiss, um hier zu sitzen. Sie spenden Sauerstoff und binden Staub. Sie fördern unser Wohlbefinden und sind wichtig in der Raumgestaltung. Allein die Farbe Grün tut gut. Und jeder Baum erzählt eine Geschichte, ohne dass er sprechen muss.
Welche Geschichte erzählt die Rosskastanie hinter uns?
Rosskastanien sind kulturell sehr spannend. Ihre Rückkehr nach Westeuropa ist über die Königshäuser verlaufen. In Bayern nutzten Bierbrauer*innen sie, um ihre Bierkeller zu schattieren. Daraus sind dann die Biergärten entstanden. Bei diesem Exemplar hier ist oben ein Ast abgebrochen, dort ist jetzt eine Fäulnis drin. Am Stamm sehe ich einen leichten Riss, auch dort ist mal was passiert. Sie trägt nicht mehr viele Blätter, befindet sich also im Grossvaterstadium. Alles ist vergänglich.
Die Ausstellung «Bäume in der Stadt» läuft noch bis am 1. Dezember 2024. Sie ist täglich offen zwischen 9 und 19 Uhr, der Eintritt ist kostenlos. Zusätzlich bietet Stadtgrün verschiedene Veranstaltungen an, zum Beispiel Baumspaziergänge.