Unsichtbare Arbeit

«Hausfrau» und stolz darauf

Elisabeth Hügli betreut Familienangehörige, grösstenteils unbezahlt. Eine Frage beschäftigt sie schon lange: Woran messen wir, was ein Mensch wert ist?

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Elisabeth Hügli betreut ihren Enkel in Münchenbuchsee. Und das ist längst nicht alles, was sie tut. (Bild: Danielle Liniger)

Anfang Juni hängte Elisabeth Hügli in Münchenbuchsee und im Berner Lorrainequartier Gratisinserate auf, im Coop und in der Migros. Sie hatte darauf geschrieben: «Ich, Grosi, 63, aus Meiringen, hüte mein Enkelkind und suche ein Zimmer.»

Sie erhielt von zwölf Menschen ein Zimmer angeboten. Ihre Wahl fiel auf dasjenige mit der günstigsten Lage. Es war ein Raum im Elternhaus meines Freundes. So habe ich kürzlich von ihr erfahren.

Nun treffe ich Elisabeth Hügli auf der Gartenterrasse des «Bären» in Münchenbuchsee. Sie hat sich schon ein alkoholfreies Bier bestellt, als ich ankomme. Das sei das Beste bei Hitze. Sie spricht leise und bestimmt. Es ist ein heisser Donnerstagabend im August.

Am Nachmittag ist Hügli von Meiringen angereist. Später wird sie in ihrem neuen Zimmer übernachten, um am nächsten Tag in der Wohnung ihrer Tochter ihren Enkel zu hüten. Diesmal, erzählt sie, erst um elf Uhr. Normalerweise trifft sie freitagmorgens um sechs bei ihrer Tochter ein, die Frühdienst hat. Auch deren Partner verlässt das Haus früh.

Die Grossmutter betreut den bald einjährigen Enkel während acht bis zwölf Stunden, seit Anfang Juli meistens an einem Tag pro Woche. Oft übernachtet sie dann noch einmal in Münchenbuchsee und verbringt etwas Freizeit mit ihrer Tochter und der jungen Familie, bis sie wieder nach Meiringen zurückkehrt. Dort lebt sie mit ihrem Mann seit 37 Jahren.

«Es ist eine Win-Win-Situation», sagt Elisabeth Hügli. Sie sieht ihre Tochter jetzt häufiger als früher. Sie in ihrer Rolle als Mutter zu erleben, sei bereichernd. «Es ist mir auch wichtig, eine Beziehung zu meinem Enkel aufzubauen», sagt Hügli.

Für die Hilfe bei der Kinderbetreuung hat sie sogar ihre Wohnsituation angepasst. Doch das sei auch ein Dienst an sich selbst. Vorher hatte sie abwechslungsweise bei der Tochter in Münchenbuchsee und bei ihrem ältesten Sohn in Bern übernachtet. Jetzt schätzt sie den Rückzug nach den «Hüetitagen». «Ich verbinde die Zeit hier mit Aktivitäten, mache auch mal etwas für mich», sagt die dreifache Mutter. Vergangene Woche war sie in Biel baden. 

Ein Kind einen zusätzlichen Tag in die Kita zu geben, sei zudem für eine junge Familie eine finanzielle Mehrbelastung. «Ich leiste gerne einen Beitrag, damit das nicht nötig ist», sagt Elisabeth Hügli.

Die Ressource Grosseltern

In der Schweiz wird fast jedes dritte Kind unter 13 Jahren regelmässig von den Grosseltern betreut, durchschnittlich für mehr als neun Stunden pro Woche. Das Bundesamt für Statistik schätzte 2020 die unbezahlte Kinderbetreuung, die Schweizer Grosseltern leisteten, auf 160 Millionen Stunden jährlich und einen fiktiven Geldwert von acht Milliarden Franken. Es schrieb dazu: «Grosseltern gehören genauso zu den Pfeilern der Kinderbetreuung wie Kindertagesstätten und schulergänzende Angebote.»

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«Ich leiste gerne einen Beitrag», sagt Elisabeth Hügli. (Bild: Danielle Liniger)

Das Berner Generationenhaus hat 2022 gemeinsam mit dem Forschungsinstitut Sotomo eine Umfrage in der Schweizer Bevölkerung durchgeführt zur Beziehung zwischen den Generationen. Rund zwei Drittel der Befragten waren der Meinung, die Betreuung von Enkelkindern sollte entlöhnt werden.

Grossmütter betreuen häufiger Enkelkinder als Grossväter. Dass diese Arbeit weiterhin gratis erbracht werden soll, dafür sprachen sich in der Umfrage vor allem ältere Männer aus. In allen Altersklassen fand die Idee der Entlöhnung von Grosseltern bei Männern weniger Anklang als bei Frauen. Frauen leisten in der Schweiz 50 Prozent mehr unbezahlte Haus- und Familienarbeit als Männer.

Schwester, (Schwieger)tochter, Pflegefachfrau

Elisabeth Hügli betreut nicht nur ihren Enkel. Sie sagt: «Ich tanze auf vielen Hochzeiten.» Ihr körperlich behinderter Bruder lebt im Zürcher Oberland, wo sie aufgewachsen sind. Seit dem Tod des Vaters vor einem Jahr ist Elisabeth Hügli seine einzige nahe Verwandte.

Sie erledigt für den Bruder die Buchhaltung, hält seine Termine im Blick, hat sich um die Erbschaft gekümmert. «Die Nachlassregelung habe ich vollumfänglich abgewickelt, mit der Unterstützung meines Mannes. Das war ein sehr intensives und zeitaufwendiges Jahr», sagt sie. 

Bereits zu Lebzeiten der Eltern hatte sie administrative Aufgaben für ihren Bruder übernommen. Für gewisse Arbeiten kann sie rund 25 Franken pro Stunde in Rechnung stellen, in Absprache mit der Ausgleichskasse und der Ergänzungsleistung. Das müsse sie mit den zuständigen Amtsstellen immer wieder abgleichen, sagt Hügli.

Ihr Bruder lebt in einer Institution für Menschen mit Behinderung. Elisabeth Hügli besucht ihn einmal im Monat. Von Meiringen fährt sie dafür rund drei Stunden Zug. Bei den Besuchen steht die gemeinsame Zeit im Vordergrund. «Wir gehen einen Coup essen oder schauen uns einen Film an», sagt sie. Manchmal steht beim Bruder aber auch ein Banktermin an, es müssen die Fingernägel geschnitten werden, oder sie organisieren sein Geburtstagsfest.

Vor deren Tod hat sich Elisabeth Hügli auch regelmässig um ihre Eltern gekümmert. Das war nicht einfach. Einerseits wegen der räumlichen Distanz, und andererseits, weil die Eltern kaum Unterstützung von Drittpersonen akzeptierten. Auch nachdem die Mutter starb, war Elisabeth Hüglis Anwesenheit – oder zumindest «ein täglicher kurzer Schwatz am Telefon» – sehr gefragt. «Mein Vater war ein geselliger und fröhlicher Mensch, aber auch bei ihm zeigte sich manchmal die Einsamkeit», erzählt sie. 

Elisabeth Hüglis Schwiegermutter lebt in Meiringen. Heute ist sie in einem Altersheim untergebracht. «Damit ist die Situation viel einfacher geworden», sagt Hügli. Als die Schwiegermutter noch im eigenen Haushalt lebte, hatte Elisabeth Hügli auch dort viel zu tun. «Mein Engagement war sehr hoch. Zeitweise war ich überfordert», sagt sie. Sich abzugrenzen sei in einem Dorf nicht immer einfach. «Letztendlich möchte man ja auch dann helfen, wenn es einem schon längst zu viel ist.»

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Als ausgebildete Pflegefachfrau kennt Elisabeth Hügli auch die schwierigen Rahmenbedingungen in der bezahlten Care-Arbeit. (Bild: Danielle Liniger)

Elisabeth Hügli half gerne. Doch sie arbeitete zu dieser Zeit zusätzlich als Pflegefachfrau in der Psychiatrie. Alles zu kombinieren, wurde zu viel.

Sie war 2018 nach über zwanzig Jahren wieder in die Pflege zurückgekehrt – in den Beruf, den sie ursprünglich gelernt hatte. Dazwischen war sie im Qualitätsmanagement tätig sowie als Prozessberaterin und Coach.

Zurück in der Pflege, spürte sie die veränderten Rahmenbedingungen in diesem Beruf stark: den Fachkräftemangel, den erhöhten Zeitdruck.

Sie entschied sich 2020 in Absprache mit ihrem Mann, mit der Erwerbsarbeit aufzuhören. Den Betrieb verliess sie mit unzähligen Überstunden – und nicht ohne schlechtes Gewissen. «Ich war auch traurig, denn es ist ein schöner Beruf. Aber ich hatte gemerkt: Ich kann dieses Gesundheitssystem auch nicht retten, indem ich über meine Kräfte hinausgehe», sagt Hügli.

Die Schweiz arbeitet mehr unbezahlt als bezahlt

Es war für Elisabeth Hügli immer ein Bedürfnis, ihre Familie zu unterstützen. Sie empfindet es als Privileg, das nun «Vollzeit» tun zu können. «Viele können sich das nicht leisten», sagt sie. Immer wieder begegne sie (vor allem) Frauen, die sich verausgaben müssen.

«Oft scheint auch ein gewisser Druck von aussen zu bestehen», sagt sie. «In ländlichen Gebieten noch etwas stärker als in der Stadt.» Nicht selten beobachte sie hohe Anforderungen von Angehörigen an ihre Kinder, speziell an die Töchter. 

Auch Freiwilligenarbeit werde manchmal erwartet, besonders von Frauen, die keiner Erwerbsarbeit nachgehen. Elisabeth Hügli hat sich selbst auf verschiedenste Weise freiwillig engagiert: Etwa in einem Drittweltladen, bei Senior*innenanlässen, in einem Kino. Wieder betont sie: «Es ist eine schöne Arbeit, wenn sie für alle Beteiligten stimmt. Man bekommt auch viel zurück, wenn man hilft.»

Hauptstadt Fahne beim Xenia fotografiert am Donnerstag, 22. August 2024 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Die «Hauptstadt» bei Xenia

Vom 19. bis 23. August hat die «Hauptstadt» ihre Redaktion ins Mattequartier verlegt: Sie war zu Gast bei der Fachstelle für Sexarbeit Xenia, die heuer vierzig Jahre alt wird.

Aus diesem Anlass beschäftigen wir uns mit Formen von unsichtbarer Arbeit: Arbeit, deren gesellschaftlicher Wert grösser ist als ihre Anerkennung in Form von Lohn, Sichtbarkeit oder Ansehen.

In einem Interview mit der «Hauptstadt» zeigte die Berner Soziologin Sarah Schilliger bereits auf, wie sich «unsichtbare» Arbeit wissenschaftlich fassen lässt. Nun erzählt Elisabeth Hügli aus ihrem Alltag.

Hier geht es zum thematischen Schwerpunkt.

Das Bundesamt für Statistik erhebt seit den 1990er-Jahren regelmässig die unbezahlte Arbeit, die in der Schweiz verrichtet wird – Hausarbeiten, Betreuung, Freiwilligenarbeit. Im Jahr 2020 arbeitete die Wohnbevölkerung ab 15 Jahren in der Schweiz 9,8 Milliarden Stunden unbezahlt. Das ist mehr, als gegen Geld gearbeitet wurde: Die bezahlte Arbeit betrug 7,6 Milliarden Stunden.

Ins Bruttoinlandprodukt (BIP) wird unbezahlte Arbeit nicht eingerechnet. Das Bundesamt für Statistik errechnet aber die wirtschaftliche Bedeutung der unbezahlten Arbeit. Für das Jahr 2020 schätzte es dafür einen Wert von 434 Milliarden Franken. Frauen trugen zu rund 60 Prozent dazu bei. Zum Vergleich: Das BIP betrug 2020 knapp 700 Milliarden Franken.

Und was machst du beruflich?

Elisabeth Hüglis unbezahlte Arbeit unterscheidet sich nicht allzu gross von ihrer Erwerbsarbeit als Pflegefachfrau oder als Coach. «Eigentlich mache ich etwa dasselbe», sagt sie. Und doch erlebe sie einen grossen Unterschied: Wie sie gesellschaftlich wahrgenommen wird.

An sozialen Anlässen komme schnell die Frage auf: «Was machst du beruflich?». Früher kostete es Elisabeth Hügli Überwindung, zu antworten: «Ich bin Hausfrau».

«Dann gibt es immer eine Stille», erzählt Hügli. «Ich nehme bei den Leuten häufig eine Irritation wahr, obwohl wir uns vielleicht gerade angeregt unterhalten haben.» Oft folge die Anschlussfrage: «Was hast du denn früher gemacht?»

«Dann wird es bei mir politisch», sagt Hügli. Sie meint damit: Sie lässt sich mittlerweile auch auf unbequeme Diskussionen ein. 

Über eine Hausfrau habe wohl selten jemand gesagt: «Ich habe eine Frau kennengelernt, die macht richtig interessante Dinge». 

«Dabei würde ohne uns das System in sich zusammenfallen», sagt Hügli. Wenn ihr heute jemand diese Fragen stellt, dann bezeichnet sie sich immer noch als «Hausfrau». Aber nicht mehr gehemmt wie früher. Sondern mit Stolz.

Arbeit, sagt Elisabeth Hügli, werde viel weniger gesehen, wenn man sie unbezahlt verrichte. Wenn eine gut ausgebildete Frau sich entscheide, eine Zeit lang «nur» für ihre Familie da zu sein, nage das schnell an ihrem Selbstwert.

Sich lustvoll kümmern

Elisabeth Hügli hat es sich zur Aufgabe gemacht, Familienarbeit immer wieder als das zu bezeichnen, was sie ist: wertvoll. Auch deshalb, sagt sie, habe sie sich entschieden, für diesen Artikel von sich zu erzählen.

Sie nimmt aus einer Stofftasche ein Buch hervor und legt es vor uns auf den Tisch: «Was bin ich wert?» des deutschen Journalisten Jörn Klare. Der Autor hat kritisch dazu recherchiert, wie Menschen ökonomisch bewertet werden.

«Diese Frage beschäftigt mich schon lange», sagt Hügli. «Wir stufen Menschen nach ihrem ökonomischen Wert ein. Das besorgt mich.» Was man innerhalb seiner Berufsphase erwirtschafte, zähle zu viel, findet Hügli. Das bedingungslose Grundeinkommen findet sie eine interessante Idee.

Sie selbst lebt ihr politisches Engagement im Kleinen. Indem sie nach aussen trägt: «Ich mache wichtige Arbeit, und ich mache sie lustvoll.» 

Und sie grenzt sich ab. «Ich helfe und teile gern», sagt sie. Aber sie achtet genau darauf, immer wieder auszuhandeln, wie viel sie geben kann und will. «Ich bin sehr privilegiert, dass ich mir ein Leben mit wenig Stress einrichten kann», sagt sie. Im Oktober verreist Elisabeth Hügli für einen Monat ins Ausland. Ihre Einsätze als Grosi setzt sie dafür aus. «Siehst du», sagt sie. «Ich habe einen Schoggijob

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