Inklusion

Schluss mit Schwellen

Morgen Freitag findet die erste Schweizer Behindertensession überhaupt statt. Im Nationalratssaal diskutieren 44 Menschen mit Behinderungen einen Nachmittag lang über Möglichkeiten der politischen Teilhabe und ihre politischen Rechte.

Patricia Goetti Zollinger fotografiert am 21.03.2023 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Hochkonzentriertes Schreiben: Journalistin Patricia Götti. (Bild: Simon Boschi)

Vor dem Optiker eine Stufe, zu hoch für einen Rollstuhl. Übergangslos kann man in die Apotheke eintreten – praktisch für geheingeschränkte Personen, jedoch nicht zu ertasten für eine Person mit Sehbehinderung mit ihrem Blindenstock. Oder die Bedienungsanleitung ist zu komplex verfasst für jemanden mit kognitiver Einschränkung.

Überall stellen sich Hindernisse in den Weg von Menschen mit einer Behinderung. Aber nur selten ist pure Achtlosigkeit der Nichtbehinderten dafür der Grund. Oft sind die Hindernisse für diese schlicht nicht zu erkennen. Die Betroffenen selbst müssen ihnen aufzeigen, wo die Probleme liegen. Bestenfalls werden diese dann in der Politik angegangen.

Patricia Goetti Zollinger fotografiert am 21.03.2023 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Schreiben per Spracherkennung. (Bild: Simon Boschi)
So arbeitet Patricia Götti

Patricia Götti Zollinger lebt mit der fortschreitenden Krankheit Multiple Sklerose, die Diagnose erhielt sie vor 17 Jahren. Damit sie ihren Beruf als Journalistin und Lektorin weiter ausüben kann, setzt sie Technik ein. Der «Hauptstadt» erläutert sie, was sie braucht, um zu schreiben.

Vor sich auf der Ablage des Rollstuhls hat sie das iPad aufgeklappt, weiter vorne vor ihr hängt an einer einem Wäscheständer ähnlichen Vorrichtung ein zweiter kleiner PC-Bildschirm. Dieser ist ihr Hauptschreibgerät.

Patricia Götti bedient ihn per Augensteuerung. Diese sendet nicht sichtbare Lichtwellen aus, die von den Augen reflektiert werden. So erkennt die Software, wohin Patricia Götti schaut. Mit einem Blick öffnet die Journalistin die Arbeitsprogramme, zum Beispiel die E-Mail-Box oder das Schreibprogramm Word.

An ihrem linken Ohr steckt ein Mikrofon, über das sie die Spracherkennungs-Software «Dragon» füttert. Mit Sprachbefehlen dirigiert Götti den Cursor, sie redigiert, löscht oder verschiebt Wörter. Und so schreibt sie auch: Die Software setzt in geschriebene Sprache um, was sie sagt. Diese Art zu schreiben erfordere hohe Konzentration, sei anstrengend und nervenaufreibend, sagt Götti.

Es kommt auch vor, dass das Spracherkennungsprogramm bockt oder Fehler produziert. Dann nutzt Patricia Götti das iPad, um mit ihrer linken Hand, die sie noch bewegen kann, Wörter einzutippen. Das sei bei ihr als Rechtshänderin sehr fehleranfällig, sagt sie. Deshalb greift sie nur im Ausnahmefall darauf zurück. (Text: Jürg Steiner)

Patricia Goetti Zollinger fotografiert am 21.03.2023 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Steuerung mit den Augen statt mit der Maus. (Bild: Simon Boschi)

Folgerichtig lautet das Motto der ersten Behindertensession der Schweiz denn auch politische Teilhabe. Dazu treffen sich am Freitag, dem 24. März einen Nachmittag lang Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen im Nationalratswahl des Bundeshauses in Bern. Die Session dauert von 14.30 bis 17 Uhr und wird in einem Livestream übertragen.

An der Session nehmen genau 44 in einer Wahl bestimmten Vertreterinnen und Vertreter teil. Sie repräsentieren 22 Prozent der 200 Parlamentssitze im Nationalrat, was gemäss Statistik dem Anteil von Menschen mit Behinderung an der Schweizer Bevölkerung entspricht. 

Patricia Goetti Zollinger fotografiert am 21.03.2023 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Die Arbeitssituation von Patricia Götti. (Bild: Simon Boschi)

Das Heft in die Hand nehmen

Während der Session soll eine Resolution ausgearbeitet werden mit dem Inhalt, bestehende Hindernisse für die politische Teilhabe von Menschen mit Behinderungen abzubauen.

Initiiert wurde die Behindertensession von Nationalratspräsident Martin Candinas, langjähriges Mitglied der Pro Infirmis des Kantons Graubünden. Er habe seine Funktion als oberster Schweizer nutzen wollen, um die Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen zu stärken, sagt er. Wichtig sei, dass die Betroffenen selbst das Heft in die Hand nehmen. «Diese wissen am besten, wo Not am Mann ist.»

Themenschwerpunkt Inklusion

Was brauchen Menschen mit Behinderungen, damit sie gleichberechtigt am Arbeits- und Sozialleben teilhaben können? Was können wir alle zu einer inklusiveren Gesellschaft beitragen und was sind die Herausforderungen dabei? Diesen Fragen widmet sich die «Hauptstadt» in einem Schwerpunkt zu Inklusion

Wir schreiben unter anderem über selbstbestimmtes Wohnen mit Assistenz und die entsprechende Gesetzeslage im Kanton Bern und sprechen mit einer Person im Autismus-Spektrum über Begrüssungsrituale und die Deutung von Gesichtsausdrücken. Nach dem Grundsatz «Nichts über uns ohne uns» arbeiten Journalist*innen mit und ohne Behinderungen an diesem Schwerpunkt mit. Längerfristig planen wir auch zu anderen Themen Texte aus der Perspektive von Journalist*innen mit Behinderungen zu publizieren. 

Das Interesse an der Session habe sie überwältigt, sagt Anna-Lea Imbach von Pro Infirmis gegenüber «Reporter: innen ohne Barrieren». Wer teilnimmt, wurde in einer Wahl ermittelt. Zur Wahl konnten sich alle Menschen mit Behinderungen stellen. 

Schwellenfrei für Füsse und Kopf

Pro Infirmis habe darauf geachtet, dass am Ende jede Form von Behinderung vertreten sei, ausgehend von den Kategorien der UNO-Behindertenrechtskonvention. Das heisst, dass es an der Session mindestens eine Person mit einer Sinnesbeeinträchtigung gibt – also einer Hör- oder Sehbehinderung – sowie mindestens je eine Person mit körperlicher, kognitiver und psychischer Behinderung. Laut Imbach sind aber Menschen mit kognitiver Behinderung unter-, Menschen mit körperlicher Behinderung dagegen übervertreten. Indes: «Im Zentrum der Behindertensession steht der Einsatz für den Abbau von Hindernissen, was alle einschliesst.»

Pro Infirmis hat bauliche Anpassungen vorgenommen, damit es im Nationalratssaal mehr Plätze für Menschen im Rollstuhl hat. Es gibt Dolmetscherinnen und Dolmetscher für Gebärden sowie Schrift in drei der Landessprachen und Übersetzungen in LPC, was bedeutet, gesprochenes Französisch mittels Gesten zu visualisieren. Angeboten wird auch, Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Bahnhof abzuholen und wieder zurückzubringen. Wer auf eine Assistenz angewiesen ist, kann seine Begleitperson ins Parlamentsgebäude mitnehmen. Alle Texte werden zudem in Leichter Sprache veröffentlicht. 

Künftig weitere Themen

Ein Kämpfer der ersten Stunde für die Durchführung einer Behindertensession ist Christian Lohr von der siebenköpfigen Behindertenkommission im Nationalrat. Ein erster Fokus liege auf der politischen Teilhabe. «Aber ich kann mir in Zukunft Sessionen vorstellen zu Themen wie Arbeit oder Gesundheit.»

Patricia Goetti Zollinger fotografiert am 21.03.2023 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Bedeutet ihre Behinderung, dass sie eine besondere Verantwortung in der Gesellschaft hat? Das fragt sich Patricia Götti. (Bild: Simon Boschi)
Schwellen im Alltag

Die Journalistin Patricia Götti ist mit dem Rollstuhl unterwegs. Hier beschreibt sie fünf Situationen aus ihrem Alltag.

Situation 1: Der Elternabend für die Oberstufe findet im grossen Raum im Dachstock des Schulhauses statt. Es ist ein altes Gebäude aus dem vorigen Jahrhundert. Zum Glück wurde es vor ein paar Jahren saniert und weist seither wenigstens einen Lift auf. Nur ist dieser ohne Hilfe unmöglich zu erreichen: Zuerst ein steiles Strässchen zum Untergeschoss am Seiteneingang des Hauses. Dort schwere Flügeltüren, abends verschlossen. Dann ein enger Gang zu einer – selbstverständlich verschlossenen – Tür am Ende. Dann um die Kurve zum Aufzug. Möchte man mit diesem zum Dachstock hinauf, braucht man nur noch jemanden mit einem Schlüssel, um die Blockierung der Knöpfe zu lösen.

Situation 2: Dieses Entkalkungsmittel benötige ich wirklich dringend. In meine Kaffeemaschine kommt nur entkalktes Wasser. Das Problem jetzt: Das Mittel befindet sich leider bei den Putzmitteln auf dem obersten Regal in der Migros. Zu hoch für mich. Sind meine Ansprüche auch zu hoch?

Situation 3: Schön war der Konzertabend im Stadttheater Bern. Irgendwie inspirierend. Weniger inspirierend ist dann das lange Warten vor dem Lift nachher. Dabei müssten doch nur einige Stufen überwunden werden. Ein kleiner Schritt für die meisten der Konzert-Besucher*innen. Ein zu grosser für jemanden im Rollstuhl wie mich. 

Situation 4: Schön blöd stehen wir jetzt da, mein guter Freund und ich. Schon wieder ist eine S-Bahn davongefahren, ohne dass wir hätten einsteigen können. Wie konnte ich bloss vergessen, den Handicap-Service der SBB über meine geplante Reise zu informieren. Die wären jetzt bereit gestanden mit einem Hebelift. Und wie konnte ich bloss vergessen, dass der Bahnhof Bern in einer Kurve gebaut ist und dass deswegen immer ein Hebelift oder zumindest eine Rampe gebraucht wird für Leute wie mich im Rollstuhl.

Situation 5: Beim Auftritt mit dem Frauenchor der Reitschule im Theater Tojo schlagen Lichttechnikerin und Regisseur unisono eine Aufstellung im Dreieck für ein bestimmtes Lied vor. Mit mir an der Spitze, voll ausgeleuchtet. Dieses Exponiertsein im Rampenlicht ist mir eigentlich unangenehm. Dann merke ich: Nur eine solche Aufstellung macht in einem Dreieck Sinn: Wo sonst sollte man ein solch monströses Objekt ästhetisch halbwegs überzeugend positionieren? Und ausserdem: Ich kann mich nicht ständig beklagen über zu wenig Aufmerksamkeit für Menschen mit Behinderung und deren Bedürfnisse. Und gleichzeitig mich verstecken wollen. Wenn ich es mir überlege: Ich habe sogar die Pflicht dazu, mich nicht zu verstecken. Gewissermassen die Spitze des Dreiecks zu bilden. Wer sonst sollte das tun? Vielleicht bedeutet meine Behinderung auch eine besondere Verantwortung in der Gesellschaft.

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