Gemeinschaftsgarten zwischen Hochhaustürmen
Im Berner Westen gibt es zwischen Hochhäusern viele ungenutzte Rasenflächen. Nun hat ein Quartierbewohner ein Projekt für einen Gemeinschaftsgarten initiiert. Das hat Potential.
Morgens um 9 Uhr an einem Hitzetag im Tscharnergut. Die Sommersonne brennt unerbittlich zwischen den Häuserblocks hindurch. Trotzdem wagen sich rund ein Dutzend Quartierbewohner*innen nach draussen. Nicht etwa zum Baden oder Entspannen, sondern zum gemeinsamen Gärtnern.
Schon von weitem erkennt man einen gut zweieinhalb Meter hohen Folientunnel. Er steht mitten im flachen Gelände zwischen den Häuserblocks. Er fungiert als Gewächshaus und schützt die Pflanzen, damit sie besser und schneller gedeihen können. Drumherum blühen weitere Gartenpflanzen. Auf der 140 Quadratmeter grossen Fläche wachsen Karotten, Kefe, Tomaten, Peperoni, Zucchetti, Salat und mehr.
Das Aufstellen des Tunnels diesen Frühling sei das erste Highlight gewesen, erzählt Simon Oberholzer. Er wohnt im Quartier und hat das Tscharni-Garten-Projekt initiiert. Seitdem trifft sich die Gruppe jeden Samstag zum Gärtnern und verbringt somit viel Zeit zusammen. Das Besondere daran: Noch vor wenigen Monaten kannten sie sich nicht. Die Teilnehmer*innen sind durchmischt – von Kind bis Pensionär*in, ruhig bis extrovertiert und Novize bis Gartenprofi. Es gibt die Stammgärtner*innen, die jede Woche mit dabei sind, andere können es sich nur ab und zu einrichten.
Was diese unterschiedlichen Anwohner*innen hier zusammengebracht hat, ist die Faszination für das Garten-Projekt. Dessen Philosophie unterscheidet sich vom Schrebergarten-Konzept, bei dem jede*r Einzelne eine Parzelle anmietet und sich um die eigene Fläche kümmert. Hier gibt es keine individuellen Flächen. Man kümmert sich gemeinsam um den gesamten Garten und teilt die Ernte untereinander auf.
Idee von einem Anwohner
Den Garten ins Leben gerufen hat Simon Oberholzer. Der 32-Jährige wohnt seit mehreren Jahren im Quartier und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geographischen Institut der Universität Bern. Sein Doktorat hat er im Bereich Landsysteme und nachhaltige Ressourcennutzung gemacht und nebenbei im Gartenbau gearbeitet. Wenn er über das Gärtnern spricht, ist er in seinem Element. Er wollte ohnehin Gemüse für sich und seine Familie anpflanzen.
Und warum nicht «einfach» einen Familiengarten? Das Tscharnergarten-Projekt biete gleich mehrere Vorteile, erzählt er: «Wer selbst einen Garten hat, weiss, dass man sich konstant um Pflanzen kümmern muss.» Beim gemeinsamen Gärtnern könne man sich die Arbeit untereinander aufteilen, Erfahrungen austauschen und lerne dabei neue Leute aus dem Quartier kennen. Und: «Je kürzer die Wege, desto besser».
Deswegen habe sich Oberholzer im vergangenen Herbst umgehört, ob es in der Umgebung bereits Gemeinschaftsgärten gebe. Es existiere zwar etwas ähnliches im Gäbelbach. «Aber das zusätzliche Potential in dieser Umgebung ist riesig», sagt Oberholzer. Deshalb ergriff er die Initiative.
Viel ungenutzte Rasenfläche
Das grosse Potential bestätigt Hans Vollmer, der beim Basler Landschaftsarchitekturbüro Bryum arbeitet. Vollmer ist nicht in das Tscharni-Gartenprojekt involviert, aber er beschäftigt sich mit nachhaltiger Stadtplanung. Besonders in den Quartieren Bümpliz, Bethlehem und Stöckacker gibt es viele Überbauungen aus den 1960er-Jahren. Sie sind geprägt von hohen Häusern und viel ungenutzter Rasenfläche dazwischen, dem sogenannten Abstandsgrün.
2022 versuchte Vollmers Büro das schlummernde Potential der Rasenflächen in Bern-West in Zahlen zu fassen. Laut der Studie belegt das Abstandsgrün eine Fläche von 42’000 Quadratmetern. Diese Rasenflächen seien im Unterhalt sehr kostenintensiv, weil sie regelmässig gemäht werden müssen, sagt Vollmer zur «Hauptstadt». Zudem heizten sie sich im Sommer schnell auf.
Bis zu 4,3 Millionen Franken pro Jahr könnten eingespart werden, wenn der Boden anders verwendet würde, zum Beispiel mit Bäumen bepflanzt, als (Biodiversitäts-)Garten, als Fläche für die Vertragslandwirtschaft – oder eben als Gemeinschaftsgarten. Eine vielfältigere Nutzung würde das Quartierklima verbessern und die Biodiversität fördern, sagt Vollmer.
Im Fall eines Gemeinschaftsgartens ein zusätzlicher Vorteil: Es kommt zu sozialer Interaktion, die sich positiv auf die Teilnehmenden auswirkt. Die aktive Betätigung im Garten unterstützt zudem ihre Gesundheit.
Auch in anderen europäischen Städten sieht Vollmer grosses Potential. Denn auch dort gibt es viele Siedlungen aus den 1960er-Jahren. Allerdings existierten noch nicht viele weitere Projekte zur Umnutzung von Rasenflächen. «Bern ist eher Pionier als Nachahmer», sagt er.
Was kann lässt sich aus dem Tscharni-Garten-Projekt lernen? Darüber hat die «Hauptstadt» mit den Gärtner*innen gesprochen.
Initiative einer engagierten Person
Auch wenn das Projekt von allen getragen wird, ist Simon Oberholzer derzeit noch die Hauptperson. Aufgrund seiner Gartenerfahrung koordiniert er zum Beispiel die Samstagstreffen. «Hoi Simon, was kann ich machen?» ist an dem Tag die meist gestellte Frage. Es war auch Oberholzer, der einen Anbauplan erstellt hat. Dieser regelt auf die Woche genau, wann welche Jungpflanzen gesetzt und wann welche Gemüse geerntet werden können. Das sei wichtig, denn: «Was den Hobbygärtner vom Profi unterscheidet, ist, dass der Profi einen Plan hat», erzählt er.
Laut Plan werden nun über den Sommer viele Pflanzen geerntet: Fenchel, Tomaten, Gurken, Zucchetti, Salat und viele mehr. Auch im Winter ist etwas los: Man möchte Nüsslersalat, Spinat sowie diverse asiatische Gemüsesorten anpflanzen. Mit der Zeit wächst somit auch das Gartenwissen innerhalb der Gruppe. «Die Idee ist, dass ich so je länger, je mehr diese Führungsrolle verliere», sagt er.
Toleranz und Konfliktfähigkeit
Am Anfang des Projekts hatte Simon Oberholzer die folgende Vorstellung: «Der Tscharni-Garten soll ein Ort sein, an den man gerne hingeht, wo etwas läuft, wo man auch noch etwas mitnehmen kann. Es soll möglichst unkompliziert und offen zu und her gehen, wo jeder und jede respektiert wird. Aber es wird sicher auch Konflikte geben. Es wäre ja komisch, wenn nicht.» Dies habe sich durchaus so bestätigt.
Im letzten November hat sich die Nachbarschaftsgruppe zum ersten Mal versammelt. Davor kannten die meisten Teilnehmer*innen einander nicht. Bei der Gartenarbeit haben sie direkt eine gemeinsame Gesprächsgrundlage. Marianne, eine Teilnehmerin, stellt fest: «Trotzdem sind wir uns noch ziemlich fremd.» Sie hofft, dass die Gruppe bald gemeinsam etwas nach dem Gärtnern unternimmt, zum Beispiel danach noch zusammensitzen und Kaffee trinken oder mit dem geernteten Gemüse kochen. Das würde die Nachbar*innen noch einmal stärker vernetzen.
Denn im Projekt treffen unterschiedlichste Personen aufeinander. «Wir sind eine zusammengewürfelte Gruppe», erzählt Fabienne, die seit dem Winter dabei ist. Deswegen müsse man erst verstehen, wie das Gegenüber tickt. Momentan gebe es aber auch kleine Reibereien. Je besser man sich kennenlerne, desto einfacher werde es. «In einem Jahr wird der Zusammenhalt sicher noch grösser sein», sagt sie.
Der Tscharni-Garten bietet also die Möglichkeit, sich in der Nachbarschaft ein Netzwerk aufzubauen. Das merkt vor allem Walter, der erst im Januar ins Quartier gezogen ist. Für ihn sei das Projekt ideal gewesen, um im Quartier anzukommen. «Zudem wollte ich sowieso schon lange wieder in der Erde herumwühlen – und das lieber mit anderen zusammen als allein», erzählt er.
Eine Frage der Verteilung
Weil der Gemeinschaftsgarten auf dem Grundgedanken basiert, dass alle mithelfen und dafür einen Teil der Ernte erhalten, braucht es ein Verteilungsprinzip. Im Tscharni-Garten gibt es keine starre Regelung, wer was bekommt. Vielmehr richtet sich die Verteilung nach dem Bedarf aus. Wer Gäste zu Besuch hat, kann auch einmal mehr mitnehmen. Dafür braucht es das Miteinander innerhalb der Gruppe.
Es wird zudem einfacher, je mehr Früchte und Gemüse es zu verteilen gibt. In der Hochsaison reiche die Ernte für den Eigengebrauch aus, erzählt Marianne. Walter ergänzt: «Momentan haben wir aber auch verhältnismässig viel Fläche für wenige Leute».
Gelegentlich kämen Passant*innen vorbei, die nicht am Projekt beteiligt sind, aber trotzdem etwas von der Ernte haben möchten. «Wir ermutigen sie dann jeweils, selber aktiv mitzuhelfen», erzählt Simon Oberholzer. Wenn das nicht der Fall sei, habe man deswegen auch schon Nein sagen müssen zur Gemüsemitnahme.
Eine Befürchtung sei aber nicht eingetreten: Weil der Garten auf einer frei zugänglichen Rasenfläche steht, ist er auch nicht besonders gut vor Diebstahl und Vandalismus geschützt. «Wenn sich Leute bereichern und klauen, birgt das Konfliktpotential», sagt Simon Oberholzer. Aus seiner Sicht laufe es aber besser als erwartet, grössere Zwischenfälle habe es bisher keine gegeben.
Breite Unterstützung
Ohne Mithilfe von diversen Akteur*innen hätte der Tscharni-Garten nicht realisiert werden können. Insbesondere in der Anfangsphase habe Tom Lang, Leiter des Quartierzentrums Tscharnergut, die notwendigen Gesuche geschrieben und für das Projekt geworben, erzählt Simon Oberholzer.
Das Projekt ist auf mehrere Jahre ausgelegt und habe insbesondere für Folientunnel und Gartengeräte eine Anfangsinvestition von rund 17’000 Franken benötigt. Zur Finanzierung trugen unter anderem Spenden der für den Unterhalt der Grossüberbauung zuständigen Tscharnergut Immobilien (TIAG), der Stadt Bern, der Vereinigung Berner Gemeinwesenarbeit (VBG) oder der Burgergemeinde bei.
Nachdem die Grundeigentümer grünes Licht gegeben hatten, klärte ein Baustatiker ab, ob der Garten oberhalb von einer Tiefgarage realisiert werden darf. Auch konnte die Gruppe organisieren, dass sie Mist vom anliegenden Streichelzoo als Dünger verwenden kann und Regentonnen zum Giessen der Pflanzen aufstellen darf.
Die Reaktionen der unbeteiligten Nachbarschaft auf das Projekt seien positiv und interessiert, erzählt Simon Oberholzer: Endlich werde der vormals kargen Wiese Leben eingehaucht.
Im direkt benachbarten Gebäude findet jeweils am Mittwochnachmittag ein Kindertreff statt. Für sie habe man extra ein Beet zum Anpflanzen von Erdbeeren freigehalten. Simon Oberholzer sagt: «Es ist Win-Win. Die Kinder lernen etwas über Erdbeeren und lassen dafür den Rest in Ruhe.»
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