Gesichter aus dem Tscharni
Ist das Leben in der Siedlung wirklich anonym? Die «Hauptstadt» besuchte Tscharni-Bewohner*innen in ihren vier Wänden und fragt, warum sie gerne hier leben.
Brigitta Boss
Das Tscharnergut wirkt für Aussenstehende wie eine grosse anonyme Betonsiedlung. Unten beim Eingang zu einem der fünf Hochhäuser, stehen Nummern und Buchstaben neben dem Namensschildern: D8, C4, A1. Der Grossbuchstabe gibt Auskunft über die Grösse der Wohnung. Wer bis maximal in den 12 Stock fahren will, nimmt den roten Lift. Der grüne Lift bedient im Normalfall nur die Stockwerke ab dem 13. Stock.
Im 8. Stock wohnt Brigitta Boss (77). Dafür wählt man den roten Lift. Sie wohnt seit etwa 36 Jahren im Tscharnergut. Sie ist gelernte Hochbauzeichnerin und war begeistert von der «Architekturikone», wie das Quartier auch schon genannt wurde, was mit Grund war, weshalb sie hergezogen ist. Offene Küche, wenig Flur und eine grosse helle Fensterfront. Üblich war das damals nicht. Man kannte vorallem Wohnungen mit langen Fluren und Türen, die zu abschliessbaren Räumen führten, sagt sie.
Als sie 1987 einzog, war es unüblich, als alleinstehende Person eine 3.5-Zimmerwohnung zu erhalten. «In solchen Wohnungen waren ursprünglich Familien mit bis zu drei Kindern», erläutert Boss. Wenig Platz für viele Menschen. «Ich verstehe, dass es von aussen sehr anonym wirkt, das ist es zum Teil auch», sagt Brigitte Boss. In ihrem Haus wohnen rund 90 Parteien, es sei klar, dass man nicht mit allen im Austausch sein kann. Sie sei jedoch gut vernetzt im Quartier und mit Bewohner*innen, die bereits vor ihr im Tscharni wohnten.
Bis heute lebt Brigitta Boss sehr gerne in ihren vier Wänden und möchte so lange es geht auch weiterhin dort bleiben. Boss ist sich aber bewusst, dass die Wohnungen im Hochhaus, in dem sie wohnt, keineswegs altersfreundlich sind. Der Lift steigt lediglich in die Halbetage, die Treppe ist also unumgänglich.
Chandrika Roux
Chandrika Roux (27) hatte bereits als Kleinkind Berührungspunkte mit dem Tscharnergut. In der Siedlung gewohnt hat sie jedoch nie.
Heute arbeitet Roux als ausgebildete Kinderbetreuerin. Obwohl ihr damals im 10. Schuljahr, das sie in der Innenstadt absolvierte, gesagt wurde: «Mit deiner Postleitzahl wird es schwierig, eine Lehrstelle zu finden.» Von aussen habe man einen schlechten Eindruck von Bern West. «Das liegt auch an der Medienberichterstattung», sagt Chandrika Roux. Natürlich möchte sie die negative Vorfälle im Quartier nicht schönreden, der Alltag sei jedoch genau gleich wie anderswo auch. «Von aussen wird der Westen oft als grau, kalt und anonym beschrieben. Ich finde ihn aber sehr bunt, fröhlich und offen», sagt Roux. Deshalb würde sie sich für ihre Kinder das selbe wünschen - aufwachsen in Bethlehem.
Roux ist ganz in der Nähe vom Tscharni aufgewachsen, im Bethlehemacker in einem Hochhaus. Bereits als Kleinkind gehörte das Tscharni zu ihrem Alltag. Mit ihrer Mutter besuchte sie dort einst ein Kerzenziehen. Kurz darauf wurde ihre Mutter angefragt, bei der Durchführung des Events mitzuhelfen. Roux, damals erst knapp 2 Jahre alt, begleitete die Mutter daraufhin regelmässig ins Tscharni. Ab der 6. Klasse trug sie dann Zeitungen im Quartier aus und genoss dadurch früh das Vertrauen der Mitarbeitenden im Quartierzentrum und somit auch der Bewohner*innen im Tscharni.
«Der Dorfplatz im Tscharni ist auch der Dorfplatz von Bethlehem.»
«Ich habe als Kind einen grossen Teil meiner Freizeit dort verbracht», sagt Chandrika Roux. «Der Dorfplatz im Tscharni ist auch der Dorfplatz von Bethlehem.» Nirgendwo sonst gäbe es etwas Vergleichbares.
«Seit ein paar Jahren bin ich im Vorstand des Quartiervereins», sagt sie. Das wurde in ihrem Umfeld jedoch oft belächelt. Mit ihren 27 Jahren ist sie die jüngste im Verein. «Unser Ziel ist es, junge Leute reinzuholen.» Denn Tatsache sei, dass an die jährliche Mitgliederversammlung meist nur ältere Leute kämen. «Und bisher haben wir niemanden im Vorstand mit Migrationshintergrund», erläutert Roux. Das sei ihr aber wichtig, um das Quartier besser zu repräsentieren.
Dass in Bethlehem viele Menschen unterschiedlicher Herkunft wohnen, sei ihr als Kind nicht wirklich aufgefallen. «Ich dachte, alle wachsen so auf», sagt Chandrika Roux. Diese Offenheit gegenüber anderen Kulturen, mit der sie aufgewachsen sei, schätze sie sehr. Dadurch lerne sie Wörter in einer neuen Sprachen, Rituale und Mahlzeiten. «Man lernt hier schnell, selbständig zu sein und sich durchzusetzen», erklärt Roux. Der Umgang sei manchmal etwas rauer, aber dafür halte man auch zusammen.
Brigitte Marti
Brigitte Marti (39) wohnt mit ihrem Partner und den gemeinsamen Kindern seit Sommer 2019 im Tscharnergut. Sie hat Sozialanthropologie studiert, später arbeitete sie im Bereich politischer Kommunikation und Kampagnen. Heute ist sie als Fotografin tätig und macht eine Ausbildung zur Ritualfachfrau.
Zuvor wohnte die kleine Familie in Bümpliz. Mit dem zweite Kind wurde die Wohnung zunehmend zu klein. Beim Reihenhaus im Tscharnergut wussten sie sofort: «Hier wollen wir wohnen.» Brigitte Marti ist es wichtig, ökologisch zu wohnen. Die Zimmer der 4,5-Zimmer-Wohnung sind für heutige Verhältnisse nicht besonders gross. Ein Auto braucht die Familie nicht, mit dem Cargo Bike und den öffentlichen Verkehrsmitteln ist sie genauso schnell in der Stadt. Und wenn ein Auto mal nötig ist, leiht Brigitte Marti es von Nachbar*innen aus.
Die Nachbar*innen sind für die Familie ohnehin sehr wichtig. Bei einem Notfall sei es hilfreich zu wissen, dass Menschen in der Nähe wohnen, die einspringen können. Und sei es nur, um eine Stunde die Kinder zu hüten.
Anders als andere Bewohner*innen des Tscharnis bezeichnet Brigitte Marti das Quartier nicht unbedingt als Dorf. Sie selbst ist auf dem Land aufgewachsen und das Tscharnergut habe gewisse Charakterzüge eines Dorfes, der entscheidende Unterschied sei aber, dass Kultur und Abwechslung mit dem Velo erreichbar sind. Auch die Vielfalt ist im Berner Westen bedeutend grösser und die dörfliche Enge spürt Brigitte Marti im Tscharni-Dorf nicht.
Insbesondere als Familie mit kleinen Kindern ist das Tscharni der perfekte Ort zum Leben. «Es gibt keine Autos im Quartier, Springbrunnen zum Plantschen, einen Hügel zum Schlitteln und einen kleinen Zoo.» Für Kindergeburtstage könne man zudem günstig die Turnhalle im Quartierzentrum mieten. Brigitte Marti und ihr Partner lebten lange Zeit in Südamerika. Sie schätzen deshalb die sprachliche und kulturelle Vielfalt im Tscharnergut. Sie beobachtet, dass es unter Kindern mal etwas rauer zu und her geht: «Das bereitet unsere Kinder auf das Leben vor.»
«Für die viele Berner*innen endet Bern beim Europaplatz», bedauert Marti. «Es lohnt sich, das Tscharni zu besuchen und anzuschauen. Der Westen ist nicht weit weg von der Stadt und man spürt die Stimmung schnell. So kann man sich ein eigenes Urteil bilden – und wer weiss, gefällt es einem plötzlich!»
Bruno Bucheli
Bruno Bucheli (67) zog vor knapp sieben Jahren ins Tscharnergut. Bereits vorher erhielt er Einblick in das Leben in der Siedlung.
Der heute pensionierte Lehrer arbeitete im Schulhaus Brünnen-Stapfenacker und kam dadurch in die Redaktion des «Wulchechratzer», der Quartierzeitung im Tscharnergut. Durch den «Wulchechratzer» habe er auch seine Partnerin kennengelernt, die seit rund 30 Jahren im Tscharni wohnt. «Als ich zum ersten Mal bei ihr im Scheibenhaus war, dachte ich: Wow. Man tritt aus der Wohnung und ist direkt draussen an der frischen Luft», schwärmt Bucheli. Er selbst wohnt im achten Stock eines Scheibenhauses.
Die Wohnungen in den insgesamt acht Scheibenhäusern erreicht man nur über eine lange Laube. So führen die Wohnungstüren direkt nach draussen und nicht in ein Treppenhaus, was bedeutet, dass auch jede Person, die vorbeigeht, direkt in die Küche anderer Wohnungen sehen kann. Die einen haben deswegen Vorhänge aufgehängt, Bruno Bucheli jedoch stört das nicht. «Dann sagt man Hallo oder weiss zumindest, was draussen läuft.»
Der hohe Ausländer*innenanteil im Tscharni sei für ihn keineswegs negativ, sagt Bucheli: «Ich finde es sehr spannend, dass es so international ist und so viele unterschiedliche Sprachen gesprochen werden», sagt er. Durch die Sprachenvielfalt sei es aber schwierig zu gewährleisten, dass alle Wohnparteien alle wichtigen Informationen erhalten und verstehen.
«Man kann von einem Ende ans andere spazieren und begegnet keinem Auto.»
Das Tscharni empfinde er wie einen Park, sagt Bruno Bucheli. «Man kann von einem Ende ans andere spazieren und begegnet keinem Auto.» Kein Wunder, gibt es so viele Kinder in der Siedlung. Es sei immer etwas los, insbesondere im Sommer. «Wenn man nicht gerne Lärm hat, ist man hier falsch», lacht er. Bucheli selbst schätzt es, dass er so unbesorgt mit den Enkelkindern spazieren kann. Und wenn man trotzdem weiter weg wolle, seien ja Tram und Zug gleich nebenan.
Auf die Frage, welche Schattenseiten es gibt, muss er länger nachdenken. Klar, die gebe es. Momente, die stören. Situationen, die unangenehm seien. «Aber, die gibt es vermutlich in jedem Quartier», sagt Bucheli.
Letztendlich seien die Menschen der Hauptgrund, weshalb es Bruno Bucheli im Tscharni so gut gefällt. Bekanntschaften macht er bei der Arbeit beim «Wulchechratzer», in der Waschküche oder im Lift. Wer oft zur gleichen Zeit das Haus verlasse oder nach Hause komme, lerne sich automatisch besser kennen. Und im Sommer treffe man sich beim Grillieren neben dem kleinen Tierpark, auf dem Dorfplatz, im Café. «Wie das in einem kleinen Dorf eben so ist», sagt er.
Thomas Uehlinger
Thomas Uehlinger (66) ist dreimal umgezogen und trotzdem hat er immer innerhalb von 50 Metern gelebt.
«Zuerst haben wir als Familie in einem der Reihenhäuser gewohnt. Dann lebten mein Bruder und ich mit unserem Grossvater in einem Scheibenhaus in einer WG», erzählt Uehlinger. Später zog er mit seiner Partnerin Nadia in ein anderes Scheibenhaus und jetzt sind sie seit etwa 30 Jahren zurück im Reihenhaus.
Wenn der ehemalige Zeichenlehrer und Grafiker über das Leben im Tscharni spricht, merkt man, dass sein Herz dafür schlägt. Er hat einst eine Pfadiabteilung im Tscharnergut geleitet und ist auf dem kleinen Hügel in der Mitte des Quartiers als Kind Ski gefahren. Die Pfadiabteilung wurde vor einer Weile mit einer anderen zusammengelegt und der Hügel wird heute vor allem zum Schlitteln genutzt, sofern denn genug Schnee liegt.
Aber für Thomas Uehlinger wird dadurch klar: Hier hat man alles. «Es ist wie ein Dorf. Man kennt die Leute. Dort vorne ist der Bahnhof, auf dieser Seite die Migros dort hinten die Tramstation und im Zentrum die Post», fasst er zusammen. Und dann die Schule, der Kindergarten, das Café, die Freizeitwerkstatt und die Bibliothek. Das Leben im Tscharni war von Anfang an darauf ausgerichtet, dass es dort alles gibt, was man zum Leben braucht. Ein Gesamtkonzept, das Uehlinger bis heute schätzt.
Kinder gibt es heute weniger. Uehlinger erinnert sich, dass in den 9 Wohnungen des Reihenhauses, wo er jetzt wohnt, früher 21 Kinder gelebt hätten. Heute sind es fünf. «Seit zehn Jahren gibt es aber wieder mehr Kinder», sagt Uehlinger. Denn die Wohnungen seien preiswert. Er würde auch nicht wegziehen. Zu viele Erinnerungen verbindet er mit dem Tscharni. Freund*innen und Bekannte wohnen hier.
Viele Stunden hat er in Projekte im Tscharni investiert. Zum Beispiel in die Organisation des Quartierfests, das jährlich stattfindet. Das Quartierfest ist für Uehlinger essenziell, damit das Leben im Quartier nicht anonym wird. Aber wer wolle, könne natürlich anonym bleiben. Für beide Seiten habe es Platz.
Der Blick auf Bern West ist oft verstellt von dessen schlechtem Image. Doch, täuscht der Eindruck? Die «Hauptstadt» schaut hin – und verlegt von 20. bis 25. Februar 2023 ihre Redaktion ins Quartierzentrum Tscharnergut und publiziert eine Reihe von Artikeln aus dem und über den Berner Stadtteil Bümpliz-Oberbottigen.