«Hier will man sich an legendäre Partys erinnern»
Die explosiv-geladene Geschichte des Stufenbaus in Ittigen.
Er ist beeindruckend. Auf dem Industrie- und Bundesgebäude Areal an der Pulverstrasse in Ittigen steht der Stufenbau und ragt hoch hinauf. Das oberste Geschoss ist auf derselben Höhe wie die Autobahnbrücke der A1. Die sechs Geschosse sind am Hang – wie der Name sagt – auf Stufen angeordnet. Steht man unmittelbar davor, ist das gar nicht so gut ersichtlich.
Ein Blickfang ist der 100 Jahre alte Schräglift zwischen zwei steilen Treppen, der auf den 47 Metern acht Personen oder 800 Kilo innerhalb von eineinhalb Minuten hoch und runter transportieren kann – nicht immer in seiner Geschichte hat er funktioniert.
Heute ist kaum vorstellbar, was dieser Ort erlebt hat: Bis in die 2000er Jahre fanden grosse Techno- und House-Raves statt. In den 1990er Jahren haben hier bis zu 2000 Menschen Konzerte von JB Horns, Prodigy oder Ice-T gesehen – in dieser Zeit stieg der Schräglift auch regelmässig aus. Und vor bald 100 Jahren wurde im Gebäude Nitrozellulose, umgangssprachlich als Schiessbaumwolle bekannt, hergestellt.
Der Stufenbau, der für die Herstellung des hochentzündlichen Stoffs gebaut wurde, behielt bis in die 1990er und 2000er Jahre seine Sprengkraft. Nicht nur wegen wilder Konzerte und Partys. Das Verhältnis der ehemaligen Stufenbau-Betreiber*innen mit der Gemeinde, den Anwohnenden und dem Vermieter war angespannt. Nachtruhestörungen, Parkplatzprobleme, Sicherheitsrisiken und hohe Eintrittspreise führten wiederholt zu Debatten.
Und die Finanzen der Organisator*innen im Stufenbau folgten einem ähnlichen Rhythmus wie der Schräglift: Es ging wiederholt bergauf und bergab.
Aber von vorne. Die «Hauptstadt» hat die Geschichte des Stufenbaus aufgerollt, mit den Organisator*innen, die die legendären Konzerte in den 90er Jahren veranstaltet haben, gesprochen und den Ort besucht.
Vom Pulver zum Beat
Oliver Hofer, Betriebsleiter der Stufenbau Event AG, die heute in den obersten zwei Geschossen des Gebäudes eingemietet ist, wartet im sechsten Stock. Links ist eine lange Tafel aufgestellt, rechts sind Stehtische. Zuhinterst im Raum steht eine Bar, auf einer weiteren Ebene, oberhalb des Eingangs, ist eine Lounge eingerichtet. Alte Konzertplakate aus den 90er Jahren hängen an den Wänden und erinnern an alte Zeiten.
Auch Hofer hat seine allererste Party im Stufenbau erlebt, erzählt er. Das war 1995, ein Rave mit dem Techno-DJ Noise. Er erinnert sich noch genau: «Ich war eigentlich zu jung, um reinzukommen, und habe extra angerufen», erzählt er.
Er solle einfach nichts sagen, sagte man Hofer am Telefon. Diese erste Party hat den damals Minderjährigen geprägt: «Von da an ging ich immer in den Stufenbau an die Techno-Partys.»
Der Stufenbau beherbergt auf sechs Geschossen mehr als das Kultur-, Konzert- und Club-Lokal, das in den obersten zwei Etagen in den 90er und 2000er Jahren unter den Namen Club Gate One oder Kulturzentrum Stufenbau bekannt war. Im Gebäude gibt es auch Wohnungen, und diverse Firmen haben hier ihr Büro. Anfang der 2000er Jahre war zum Beispiel im ersten Geschoss das Nachtlokal «The Dawn» eingemietet. Heute sind im Gebäude unter anderem das Fotostudio Terence du Fresne, der Telekommunikationsausrüster Axians und die Unternehmensberatung Smart Advice.
Seit 2024 ist Oliver Hofer Betriebsleiter der Stufenbau Event AG und organisiert Firmenevents, private Feste und Hochzeiten. Damit schliesst sich für ihn ein weiterer Kreis. Bereits sein Vater war hier tätig. In den 80er Jahren arbeitete er für die damalige Gurit Worbla, die das Gebäude für die Herstellung von Verpackungsmaterial nutzte.
Der Stufenbau wurde zwischen 1924 und 1926 gebaut, um Nitrozellulose herzustellen – ein hochentzündlicher Stoff. Dies war auch der Grund für die Errichtung des sechsstufigen Gebäudes: Die Produktionsschritte fanden auf den verschiedenen Geschossen statt und starteten zuoberst. Die Konstruktion folgte einer Sicherheitsidee: Im Fall einer Explosion wäre nur ein Geschoss in Mitleidenschaft gezogen worden und nicht die ganze Fabrik. Ein wichtiger Faktor für die explosionsträchtige Geschichte von Ittigen.
Die Nitrozellulose wurde für verschiedene Dinge verwendet. Zum Beispiel für Kaffeerahmbecher, aber auch zur Munitionsherstellung. Laut Wirtschaftshistoriker Hans-Peter Bärtschi lieferte der Stufenbau im Zweiten Weltkrieg Pulverhütchen für die Artillerie.
Olmo-Macher*innen bringen Grossstadt-Groove
1988 übernimmt das Berner Architekturbüro Atelier 5 – unter anderem bekannt mit der Schlossparksiedlung in Boll-Utzigen – den Stufenbau und saniert ihn für 10 Millionen Franken. Seit 1990 steht das Gebäude unter Denkmalschutz. 1991 will die Stiftung «Zentrum Stufenbau» eine breite Nutzung des 5. und 6. Stockwerks für kulturelle Anlässe ermöglichen.
In diesem Rahmen findet dort eine Modeschau mit anschliessender Party statt. Die Veranstalter*innen sind beim Berner Kultladen Olmo involviert. Es ist ein Team um Olmo-Mitgründer Guy Froidevaux sowie Monic Krug, die den Coiffeurladen «Ops Divina» im Olmo gründete.
Telefon zu den Veranstalter*innen Guy Froidevaux, Monic Krug und Booker Glen Robinson.
«Die Besitzer*innen des Stufenbaus haben uns nach der Modeschau die beiden obersten Geschosse zur Miete angeboten. Wir einigten uns auf einen Fünfjahresvertrag – mit einer gigantischen Miete», sagt Guy Froidevaux rückblickend. Über 15’000 Franken haben die Räumlichkeiten im Stufenbau monatlich gekostet.
«Wir waren in Bern die ersten, die eine Casinobewilligung erhalten haben und bis um halb vier Uhr morgens offen haben konnten», erinnert sich Glen Robinson, der die internationalen Acts gebucht hat.
Robinson war auch Breakdancer. «Er wusste, was gerade cool ist», erzählt der damalige Geschäftsführer Guy Froidevaux. Gemeinsam wollten sie den Grossstadtgroove nach Bern bringen, den Menschen zeigen, was in ist. «Für Bern war damals die modernste Musik Patent Ochsner, und das Programm im Bierhübeli war vermodert», findet Froidevaux. Das Bierhübeli war der grösste Konkurrent für den Stufenbau.
Auf das internationale Booking in Genres wie Hip Hop, Jazz oder Punk habe eine ganze Generation gewartet. Jedes Wochenende sind viele junge Menschen aus Bern und der Schweiz in den Stufenbau geströmt. «Die Veranstaltungen waren von Anfang an ein Riesenerfolg», sagt Froidevaux.
Eigentlich wäre auch Grace Jones 1995 im Stufenbau aufgetreten. Doch die jamaikanische Sängerin, die man als Bondgirl aus dem Film «Im Angesicht des Todes» kennt, war bis um 22.30 Uhr immer noch in Zürich am Abendessen. Im Stufenbau warteten um die 1000 Menschen auf sie. Froidevaux sagte das Konzert kurzerhand ab, als klar wurde, dass sie nicht vor Mitternacht in Bern auftreten würde.
Froidevaux und Robinson arbeiteten Vollzeit für den Stufenbau und organisierten ab 1993 pro Jahr 50 grosse Veranstaltungen für rund 1000 Personen und 50 kleine für etwa 300 Personen. Manchmal habe man auch 2000 Menschen reingelassen, obwohl das die Vorgaben überschritt, erzählt Froidevaux und lacht.
Auch für Monic Krug war es eine einzigartige Zeit. Sie betrieb schon damals ein Coiffeurgeschäft mit 30 Angestellten, zudem zeitweise die Bar Lirum Larum in der Kramgasse. Im Stufenbau arbeitete sie nebenberuflich, und sie bewohnte eine Zeitlang eine der Wohnungen im Gebäude.
Sie erinnert sich an «die Funker, die ihre Hemden in der Garderobe selbst gebügelt haben». An Nina Hagen, die mit einem «halben Sattelschlepper anreiste und für das gesamte Team kochte». An einen Rapper, der in Zürich verhaftet wurde, weil er ein Messer dabei hatte. Danach musste geregelt werden, dass er doch in Bern auftreten konnte.
Rote Zahlen
Neben den Konzerten gab es auch Rave-Partys, «um die Kassen zu füllen», sagt der ehemalige Geschäftsführer und heute als Architekt tätige Guy Froidevaux. Ab und zu setzte man auf Filmklassiker und Lesungen. Im Vergleich zu den Konzerten und Partys hätten diese jedoch nur beschränkten Publikumserfolg gehabt.
Obwohl das Publikum aus der ganzen Schweiz anreist, MTV oder Radio DRS Konzerte live übertragen und der Stufenbau sich auch international einen Namen macht, ist die Konzert- und Party-Location zum Scheitern verurteilt.
Nicht nur finanziell habe man immer drauf gelegt, auch die Gemeinde Ittigen habe viele Auflagen gemacht, erzählen Guy Froidevaux, Glen Robinson und Monic Krug. Sie hätten den «hohen Ansprüchen des Sicherheitskonzepts und der Parkplatzsituation» genügen müssen und erhielten trotzdem keine Unterstützung von der Gemeinde.
Im Sommer 1995 droht der Konkurs für die AG für Kultur im Stufenbau. Die Gemeinde Ittigen hilft finanziell aus. Dafür wird ein Förderverein gegründet, dem auch die Gemeinde beitritt und damit Teil des Verwaltungsrates und der Leitung des Kulturzentrums wird.
Das gibt der AG für Kultur im Stufenbau einen Aufschub, aber gerettet ist sie nicht. Wenige Monate später sind sich die Gemeinde Ittigen und die neugegründete Auffanggesellschaft mit dem künstlerischen Leiter Guy Froidevaux nicht mehr einig. Darauf droht erneut der Konkurs.
Techno, Techno, Techno
Die Krise bringt 1996 einen neuen Player nach Ittigen: Die Masters of Art (Moa) GmbH Roggwil, bekannt als Veranstalterin der grossen Techno-Partys auf dem Guggelmann-Areal im Oberaargau. Sie übernimmt die Aktien des Kulturzentrums und wendet damit den Konkurs ab. Dadurch kann der Stufenbau die bestehenden Bewilligungen behalten. Ausserdem handelt die Moa eine tiefere Monatsmiete aus.
Mit dem Besitzerwechsel ändert sich auch das Programm. Neu gibt es House-Partys, ohne internationale Acts, dafür mit mehr Berner DJs. Ausserdem will der neue Besitzer Mirosch Gerber die Räumlichkeiten mit einem Catering-Service attraktiver für Firmenevents machen.
1998 geht auch die Moa Konkurs. Mirosch Gerber gründet eine neue Firma, mit der er die Räumlichkeiten in den obersten Geschossen des Stufenbaus an Veranstalter*innen, Firmen oder Agenturen vermieten will. Ab und zu finden wieder Partys von externen Organisator*innen statt.
Die Idee einer mietbaren Eventlocation im Stufenbau-Gebäude wird damit erprobt.
Doch zuerst entflammt der Stufenbau nochmal zum Club: Anfang 2001 übernehmen die Berner Trance-DJs André Forrer und Fabio di Nardo, die unter den Namen DJ Mind-X und Dynamic, bekannt sind, die beiden obersten Geschosse des Stufenbaus. Sie nennen den Trance-Club «Gate One», angelehnt an die Autobahn A1 direkt daneben und richten die Räumlichkeiten ähnlich einem Flughafen-Gate ein.
Auch dieser Club läuft nur eine Weile gut. Erster Hinweis auf finanzielle Schwierigkeiten zeigen sich 2003, als die Besitzer und DJs bekanntgeben, dass sie die Räume auch für Firmenanlässe vermieten wollen. Ein Jahr später geht «Gate One» Pleite. Und damit ist – mit wenigen Ausnahmen – Schluss mit Partyveranstaltungen im Stufenbau.
Der Club Gate One taucht 2009 in der Innenstadt Bern wieder auf: Er eröffnet auf der Parkterrasse, wo heute der Jugendclub Stellwerk ist.
Kunst, Firmenevents – und Partys?
Zurück in die Gegenwart des Stufenbaus. 2006 ersteigern Theo und Isabelle Torriani aus Ittigen die beiden obersten Etagen für 600’000 Franken. Die Artfactory Stufenbau führt eine Kunstgalerie und beherbergt eine Ateliergemeinschaft sowie einen Fotografen im Gebäude. Die weiteren Räume stehen für Veranstaltungen zur Vermietung.
2013 wird die Artfactory von der Stufenbau Event AG übernommen. Ab dem Zeitpunkt werden die Räume im grösseren Stil für Veranstaltungen vermietet. Inhaber der Stufenbau Event AG ist der Gastrounternehmer Simon Ragaz, der auch die Ragaz Catering AG führt.
2016 wurde in Ittigen sogar das Theaterstück «In Teufels Küche» über die Geschichte des Stufenbaus aufgeführt. Autorin des Stücks ist die Berner Theaterautorin und -produzentin Bettina Wegenast.
Betriebsleiter Oliver Hofer beendet den Rundgang durch die Räumlichkeiten im weitläufigen Aussenbereich des Stufenbaus. An der Wand, die an die Autobahn A1 grenzt, sind immer noch Graffitis aus 1995 zu sehen. Seit 2024 organisiert Hofer hier Daydances – ein elektronisches Musikformat, das ab dem Nachmittag stattfindet und vor Mitternacht schliesst.
Der Stufenbau veranstaltet damit wieder eigene Events. Es gibt auch Comedy Soirées und weitere Formate stünden in der Pipeline, welche will Hofer nicht verraten. Das Zielpublikum für die Events sei älter als anderswo und die Veranstaltungen extrem friedlich und ausgelassen, sagt Hofer.
Die Gäst*innen solcher Partys haben zum Teil den Stufenbau in ihrer Jugend besucht, erzählt Hofer. Viele seien begeistert, wieder einmal in den Räumen zu stehen und machen Selfies. Einmal habe sogar jemand Kieselsteine mitgenommen. Als Erinnerung. «Andere wollen ein Stück Rasen vom YB-Meisterspiel, hier will man sich an legendäre Partys erinnern.»
Der Stufenbau ist mehr als eine denkmalgeschützte und umgenutzte Fabrik. Er ist ein Stück Berner Erinnerungskultur an unvergessliche Nächte. Und vielleicht wird hier auch künftig wieder Geschichte geschrieben.
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