Sorgfältig geplant – aber in einer anderen Zeit
Die Architektur von Bümpliz war einst visionär, heute wirkt sie trist und monoton. Wie es dazu kam, erklärt Dieter Schnell, Architekturhistoriker der Berner Fachhochschule.
Herr Schnell, Sie gelten als Experte, was die Architektur von Bümpliz angeht. Wir sitzen hier im Café Tscharni, das mitten im Tscharnergut steht. Was bedeutet dieser Ort für Sie?
Dieter Schnell: Dieses Quartierzentrum und so auch das Café zeigen exemplarisch, wie sorgfältig und genau die Überbauung im Tscharni von Beginn an geplant wurde.
Wie meinen Sie das?
Das Café, die Bibliothek und die Kita wurden bereits in den 1950er-Jahren eingeplant und sollten den sozialen Austausch fördern. Hier trifft man sich, darum stehen all diese Angebote im Erdgeschoss. Die Wohnungen aber, also der private Austausch, wurden aufeinander gestapelt in den Hochhäusern.
Dieter Schnell ist Dozent für Architekturgeschichte an der Berner Fachhochschule. Zudem lehrt er als Privatdozent an der Universität Bern am Institut für Kunstgeschichte. Er beschäftigt sich unter anderem mit der Berner Architektur seit dem 18. Jahrhundert. 2006 verfasste er einen Stadtführer zum Stadtteil VI und dessen Wohn- und Siedlungsbau.
Wie wurde denn das Tscharni konkret geplant?
Die Hochhäuser mit 20 Stöcken stehen bewusst im Norden des Quartiers, damit der Schatten nicht auf dahinter liegende Häuser fällt. Je mehr Richtung Süden, desto tiefer die Stockwerkanzahl der Häuser. Zuerst acht, dann vier. Zudem sollte das Quartier möglichst autofrei und grün sein, darum läuft die Strasse um das Quartier herum und nicht mitten hindurch.
Das Ziel der Siedlung war aber, möglichst viele günstige Wohnungen zu bieten.
Genau, das Geld für den Bau war also knapp. Das sieht man zum Beispiel an den Liften in den Hochhäusern: Sie halten jeweils in den Zwischenstockwerken, um gleich zwei Stöcke bedienen zu können.
Warum gibt es denn im Tscharni ein Quartierzentrum mit Bibliothek, Café und Kita und sogar einen Tierpark, wenn es günstig sein musste?
Für die 1950er-Jahre war es ein Novum, mehrere Tausend Menschen auf so einer Fläche unterzubringen. Weil es das bisher nicht gab, war dieses Vorhaben mit viel Angst in der Gesellschaft verbunden. Auch deswegen wurden mit dem Bezug des Tscharnis gleich zwei Sozialarbeiter*innen nur für dieses Quartier angestellt.
Woher kam denn diese Angst?
Die gesellschaftliche Kritik am Plattenbau hat eine lange Geschichte. Sie fing an mit dem Manifest «Die Unwirtlichkeit unserer Städte» des Psychoanalytikers Alexander Mitscherlich, der in der Nachkriegszeit schrieb, Hochhäuser würden Menschen asozial und krank machen.
Und wie ging es weiter?
So richtig Fahrt hat die Kritik in den 1970er-Jahren aufgenommen. Exemplarisch war das Schicksal von Christiane F. von «Wir Kinder vom Bahnhof Zoo». Sie wuchs in einer Plattenbausiedlung auf und landete in der Prostitution und in den Drogen. So setzte sich das Narrativ fest: Wer so aufwächst, stürzt ab.
Nach dem Tscharni wurden weitere Hochhaussiedlungen in Bümpliz-Bethlehem nach dem Plattenbau-Vorbild gebaut. Etwa der Gäbelbach, der Bethlehemacker II oder das Kleefeld. Wurde denn nicht auf diese Kritik gehört?
Doch, durchaus. Das sieht man zum Beispiel im Kleefeld, einer der letzten Bümplizer Siedlungen. Die Hochhäuser dort wurden auf unterschiedliche Stockwerkanzahl gebaut, sodass Stufen entstehen – und die Häuser weniger monoton wirken.
Und doch scheint es, als wären in den Hochhaussiedlungen an den Bedürfnissen vorbei geplant worden. Die Wohnungen sind klein, die meisten haben zwei oder drei Zimmer. Das kommt für Familien doch nicht in Frage, oder?
Heute nicht mehr, nein. Damals, als sie geplant wurden, aber schon. Ich kenne eine Frau, die sechs Kinder in so einer Wohnung grossgezogen hat.
Die Siedlung Tscharni wurde für 5’000 Menschen konzipiert. Ist das Tscharni ein Vorbild für verdichtetes Bauen, was heute gefordert wird?
Alles andere als das! Das Tscharni ist überhaupt nicht so dicht, wie wir es heute anstreben. Verdichtung wird anhand der Parzellenfläche und der darauf stehenden Nutzfläche in den Gebäuden gerechnet. Beim Tscharni ist das Verhältnis etwa 1,1. Das heisst, die gesamte Nutzfläche in den Häusern ist nur wenig mehr als die Grundfläche der Parzelle. Heute strebt man bei verdichtetem Bauen das Doppelte an.
Sie sagten, in Bümpliz-Bethlehem wurde sehr sorgfältig geplant. Alles in allem wirkt die Architektur des Stadtteils VI aber zerstückelt. Neben Hochhäusern gibt es lieblose Grünflächen und immer wieder mal ein altes Bauernhaus. Fehlte eine Vision?
Diese Einschätzung ist falsch. Bümpliz-Bethlehem ist, was die Architektur angeht, der meist durchgeplante Ort im gesamten Kanton Bern. Das «Chrüsimüsi» entstand vielmehr, weil sich die Planungsdoktrinen immer wieder änderten. Und zu den Bauernhäusern: In den Plänen war vorgesehen, die Besitzer*innen dieser Häuser zu enteignen – was sich erst nach dem Bau der Quartiere als unmöglich herausstellte.
Wie kam es denn überhaupt dazu, dass sich Bümpliz-Bethlehem als ehemaliges Bauerndorf zum urbanen Stadtteil mauserte?
Seit der Eingemeindung von Bümpliz 1919 wurde hier nach dem Prinzip der Gartenstadt geplant. Das heisst: Zwischen Strasse, Trottoir und Haus liegt immer noch Grünfläche. Man baute also um die Natur herum, und wollte diese erhalten.
Der Blick auf Bern West ist oft verstellt von dessen schlechtem Image. Doch, täuscht der Eindruck? Die «Hauptstadt» schaut hin – und verlegt von 20. bis 25. Februar 2023 ihre Redaktion ins Quartierzentrum Tscharnergut und publiziert eine Reihe von Artikeln aus dem und über den Berner Stadtteil Bümpliz-Oberbottigen.