«Man darf der Natur vertrauen»
Eine Abkehr von der Waldwirtschaft, wie wir sie bislang kennen – diese Radikalforderung stellt der neue Verein IG Bernerwald auf. Co-Präsidentin Susanne Clauss erklärt, wie sie sich das vorstellt.
Spätsommer am Ostermundiger Berg, einem Waldstück oberhalb der Berner Vorortgemeinde. Susanne Clauss geht mit ihrem Hund auf dem Waldweg und zeigt auf farbige Markierungen im Gehölz. Hier werde der Berner Staatsforstbetrieb bald mit grossem Gerät vorfahren und ausholzen. «Auf den Rückegassen, die dadurch entstehen, wird lange Zeit nichts mehr wachsen – höchstens ein paar Brombeersträucher», so Clauss. Es sind solche Eingriffe in den Wald, die Clauss zu ihrem Engagement geführt haben. Ein Erweckungserlebnis war für die Bielerin der Kampf gegen den Holzschlag im Längholzwald unweit von ihrer Haustür – mit Erfolg: Der Berner Regierungsrat stoppte den Holzschlag letztes Jahr vorläufig.
Susanne Clauss ist Gründerin und Geschäftsführerin des Geburtshauses Luna in Ostermundigen, das seit 2021 einen Ableger in Biel führt. Nationale Bekanntheit erlangte Clauss 2021, als sie Co-Präsidentin des Referendumskomitees war, das Unterschriften gegen die Widerspruchslösung bei der Organspende sammelte. Vor der nationalen Volksabstimmung trat sie als eine der wenigen kritischen Stimmen an unzähligen Podien auf.
Nun hat Clauss, die auch für die SP im Bieler Stadtparlament sitzt, Ende August mit der früheren Könizer Gemeinderätin Katrin Sedlmayer den Verein IG Bernerwald gegründet.
Durch Pro Natura und WWF oder auf staatlicher Ebene durch Vorgaben des BAFU wird doch schon einiges für den Waldschutz in der Schweiz getan. Warum braucht es noch Ihre Interessensgemeinschaft?
Die etablierten Organisationen trauen sich zu wenig, griffige Forderungen zu stellen. Denn sie sind zu stark ins politische System eingebunden. Und dann steht bei den Naturschutzorganisationen immer die Drohung im Raum, ihnen das Verbandsbeschwerderecht zu entziehen. So kommen nur minimale Kompromisse heraus. Mit der IG Bernerwald wollen wir andere demokratische Mittel ausschöpfen.
Eine Ihrer Forderungen ist, dass 30% der Waldflächen im Kanton Bern und im gesamten Mittelland vollständig unter Schutz gestellt werden. Ist diese Forderung überhaupt mit den Interessen der Holzwirtschaft in Einklang zu bringen?
Es ist zunächst zu sagen, dass wir uns mit dieser Forderung am Kunming-Montreal-Abkommen orientieren, das die Schweiz ebenfalls unterzeichnet hat. Wir sind uns bewusst, dass 30 Prozent eine Maximalforderung darstellt, die allerdings nicht nur den Wald, sondern den Naturschutz aller Flächen umfasst. Wir brauchen einen sorgfältigeren Umgang mit dem Rohstoff Holz. Das fängt damit an, dass wir uns von der Grossfernwärme auf Holzbasis verabschieden müssen. Es sollte keine neuen Projekte dieser Art geben.
In diesem Herbst geht in der rot-grün regierten Stadt Bern ein grosses Holzschnitzel-Heizwerk in Betrieb. Aus Ihrer Sicht der falsche Weg?
Wir haben genügend Alternativen bei der Energiegewinnung: Sonne, Wind, Wasser und Geothermie zum Beispiel. In Biel zapfen wir ausserdem den See als Energiequelle an.
Im Kanton Bern bestehen 73 gesicherte Reservatsflächen mit insgesamt 7‘250 Hektaren Wald. Auf 4‘850 Hektaren wird der Wald bereits jetzt vollständig sich selbst überlassen. Ist das nicht ausreichend?
Nein, das ist schlicht zu wenig. Wir haben immer noch einen Blick auf den Wald, bei dem die Finanzen an erster Stelle stehen. Viele indirekte Leistungen des Waldes, zum Beispiel seinen positiven Einfluss auf unsere Gesundheit, gehen vergessen.
Wie könnte man das ändern?
Was die Waldbewirtschaftung in den genutzten Flächen angeht, wollen wir hin zu einem Dauerwald-Prinzip, bei dem verschiedene Altersstufen der Bäume nebeneinander existieren. Der Kanton Aargau macht das heute schon auf 50 Prozent der Waldflächen – in Bern sind wir weit davon entfernt.
Laut dem Branchenspiegel der Berner Holzwirtschaft hat die absolute Waldfläche im Kanton Bern zugenommen. Ist das nicht ein Grund zur Beruhigung?
Nein, es geht nicht um die blosse Anzahl an Bäumen, sondern um den Holzvorrat auf diesen Flächen. Dieser ist im Mittelland und im Jura rückläufig. Einzig in den Bergen, insbesondere in den Schutzwäldern, nimmt der Holzvorrat noch zu. Das kann man auch im Landesforstinventar nachlesen.
Wo konkret?
Vor allem im Mittelland, wo wir sie am dringendsten benötigen, sind diese Systeme unter Druck. In den Städten brauchen wir die Wälder zur Kühlung und natürlich auch zur Erholung. Aber gegenwärtig fahren für den Holzschlag sogenannte Vollernter, die Alleskönner der Forstwirtschaft, in grossen Gassen in den Wald hinein. Das ist zwar wirtschaftlich effizient, aber der Boden braucht lange, um sich zu erholen. Wichtige Bodenkleinstlebewesen und Pilznetzwerke werden zum Beispiel zerstört und der Wasserhaushalt gestört – Diana Soldo, Biologin von der Stiftung Franz Weber, hat diese Zusammenhänge an unserer Gründungsveranstaltung genau erklärt – und auch aufgezeigt, dass 40 Prozent unseres Trinkwassers aus dem Wald kommt.
Im Kanton Bern sind der Kanton und die Burgergemeinde die beiden grössten Waldbesitzer*innen. Ist es wirklich so, dass diese beiden Institutionen Faktoren wie Kühlung, Wasserspeicherung, Verbundenheit der Bäume, Biodiversität, Gesundheitsleistungen für die Menschen «völlig ausser Acht lassen», wie Sie in ihrem Programm schreiben?
Ja, wir stehen hinter dieser Formulierung. Das menschliche Wissen über den Wald ist immer noch sehr begrenzt – und das wird häufig ignoriert. Die Kommunikation zwischen einzelnen Bäumen beispielsweise ist ein sehr junges Forschungsfeld. Insgesamt stört mich der sehr anthropozentrische Blick auf den Wald. Wir sprechen davon, den Wald «klimafit» machen zu wollen, also gezielt Baumarten anzupflanzen, Lichtungen zu schlagen. Das ist häufig zu simpel gedacht. Wir müssen der Natur mehr vertrauen und ihr Zeit geben.
Wo gibt es in Ihren Augen konkret Verbesserungsbedarf?
Wir müssen Holzgewinnung aus dem Wald reduzieren und mit dem genutzten Holz nachhaltiger umgehen. Was die Holzwirtschaft angeht, so sollte ein Umdenken stattfinden. Vor allem, was den Forst in Staatsbesitz betrifft. Er muss aktuell schwarze Zahlen schreiben und wenn der Holzpreis niedrig ist, muss eben die geschlagene Menge erhöht werden. Davon müssen wir wegkommen. Wir vergessen die externalisierten Kosten. Wenn wir den Wald nicht mehr haben, dann geht es uns als Gesellschaft schlechter – das kann man schlicht nicht beziffern.
Wie wollen Sie als IG sicherstellen, dass Ihre Anliegen in der Berner Waldwirtschaft Eingang finden?
Wir sind bei der IG immer noch in der Gründungsphase – wir bekommen laufend neue Mitglieder. Mit diesen Leuten, die sich engagieren wollen, möchten wir alle demokratischen Mittel ausschöpfen: Petitionen starten, parlamentarische Vorstösse lancieren und eine aktive Medienarbeit betreiben. Dabei können wir uns vorstellen, auch mit anderen Organisationen zusammenarbeiten – wie zum Beispiel der Fondation Franz Weber. Schon vor der IG-Gründung haben wir ausserdem unsere Forderungen im Bieler Stadtparlament und im Grossen Rat eingebracht – diesen Weg für eine nachhaltigere Waldwirtschaft wollen wir auch weiterhin verfolgen.