Berndeutsch-Pop mit wuchtigem Inhalt
Die Musikerin Milena Krstić und die Autorin Sarah Elena Müller haben als «Cruise Ship Misery» ein Buch-Album geschaffen. Am Samstag feiern sie in Bern Plattentaufe.
Zwei Künstlerinnen, zwei Genres, ein Projekt: Unter dem Namen «Cruise Ship Misery» haben Milena Krstić und Sarah Elena Müller gerade ihr zweites Album veröffentlicht. Obwohl Album etwas zu kurz greift: Es ist ein Buch, das die Song-Texte sowie dazugehörige Kurzgeschichten und Illustrationen enthält. Die sieben Songs gibts kostenlos zum Streamen oder als Download dazu.
Krstić ist vor allem für ihren Mundart-Soft-Pop als Milena Patagônia bekannt, Müller macht multimediale Kunst und war mit «Bild ohne Mädchen» für den Schweizer Buchpreis nominiert. Ein Buch über Kindsmissbrauch. Was sie hier mit «Brutto Inland Netto Super Clean» – so heisst das Werk – abliefern, ist gleichzeitig poppig und tiefgründig – dabei aber nicht ganz leicht zu verstehen.
«Manchmal frage ich mich schon: What the fuck, Sarah? Was singe ich hier eigentlich?»
Milena Krstić
Wir treffen die beiden an einem lauen Nachmittag beim Bierhübeli. Das Ziel: raus aus der Stadt spazieren, in Richtung Rossfeld. Das passt. Auch bei «Brutto Inland Netto Super Clean» geht es um Randfiguren, um Zwischenräume, um Geschichten, die hinter dem Sichtbaren anfangen. Im Song «Porca Miseria» geht es zum Beispiel um Ernst, einen leidenden Herrn, der in der Psychiatrie sitzt. Er erhält im Song den Übernamen «Rentierhengst». Kryptisch. «Manchmal frage ich mich schon: What the fuck, Sarah? Was singe ich hier eigentlich?», meint Krstić.
Übersetzen, umdeuten, Spass haben
Dass sie sich das fragt, hat mit der Arbeitsweise der beiden zu tun: Müller schreibt Textfetzen, Fragmente und schickt diese an Krstić. Diese übersetzt die Texte auf Berndeutsch und singt sie schliesslich auf Kompositionen von Müller ein: «Es sind Sarahs Gedanken, und ich bin das Medium, das das transportiert. Ich bin so etwas wie der Prozessor», führt Krstić aus.
Es sei dieses Transformative, dass die beiden mit «Cruise Ship Misery» erkunden möchten. Das Ping-Pong, das gegenseitige Überrumpeln mache Ihnen zudem sehr viel Spass.
Ironischer Klang, ernster Inhalt
Dass die beiden beim Machen Spass hatten, drückt beim Hören durch. Die Songs sind mal ruhig, nachdenklich, mal klingen sie nach Club oder wechseln mitten im Song das Genre. Der wilde Sound hat seinen Ursprung in einem Alleinunterhalterinnen-Keyboard, mit dem Müller experimentierte. Das Keyboard ist mittlerweile kaputt, das Wilde hat überlebt.
Die Songs sind kurzweilig, haben zum Teil Ohrwurm-Potenzial und regen zum Mitdenken an. Klavier-Sounds, die nach Plastik klingen, künstliches Schlagzeug oder Synthesizer-Sounds, die 2006 modern waren. Es ist eine ironische Ästhetik, die mit den ernsten Texten bricht. Thematisch könnten diese unterschiedlicher nicht sein: Es geht mal um Unsicherheit: «entschuldigung, wo find ich hie Bestätigung?», oder Selbstgefälligkeit: «dini Meinig, die isch dir heilig» oder um Essstörungen, Gruppentherapien und so weiter. Diese Bandbreite ist beeindruckend, die Figuren spannend. Die durchgehend gleich scheppernde Produktion und Krstićs glasklare Stimme halten das Ganze dann auch zusammen.
Die Songs kränkeln einzig an ihrer Verständlichkeit. Manchmal erschliesst sich die Bedeutung erst beim zweiten oder dritten Hören. Manchmal nie vollständig. Beim Verständnis helfen die begleitenden Kurzgeschichten. Diese hat Müller nach den Songs verfasst. Sie stehen im Buch jeweils nach dem Songtext. Zwischen Song und Prosa kann man dann auf Bedeutungs-Suche gehen, sich die Geschichten zusammenpuzzeln. Am stärksten ist das im Text «Eigenheim».
Eigenheim
Angekommen. Auf einer Bank, zwischen Autobahn und Acker, in der Ferne lässt sich ein Fussballplatz erahnen. Hier könnte das Eigenheim stehen, bei dem es im sechsten Stück geht. Dort spielen die beiden mit dem bürgerlichen Traum der eigenen vier Wände:
«u mir giesse us dä Scharte
vom gliebte Eigeheim
Gift
Päch und Fakälie»
Das Eigenheim wird hier zur Festung. Ihr Zweck: die Welt draussen, alles andere drinnen zu behalten. Und was drinnen geschieht, ist alles andere als angenehm. Im Song wird das Übel nur angetönt, in der dazugehörigen Kurzgeschichte ausbuchstabiert. In Versen geschrieben, fängt der Familientraum dort friedlich an: «Legen wir in der Grundstein», dann beginnt es zu kriseln: «Reden wir doch Klartext», bis es eskaliert «Tränen in der Küche», «Mutter nimmt die Kinder». Mit einem unglaublichen Sog zieht der Text einen in den Eigenheim-Albtraum hinein. Hier ist «Brutto Netto Super Clean» am stärksten. Wenn die Songs einen anstecken, die Texte vertiefen und einen beide mit auf eine Reise nehmen.
Hinweis: Plattentaufe und Konzert am Samstag, 24.2. um 20.30 Uhr, in der Buchhandlung Stauffacher.
Brutto Inland Netto Super Clean, Gesunder Menschenversand, 60 Seiten.