«Wir messen Dinge, die noch nie zuvor gemessen wurden»
Peter Wurz hat die Raumfahrt in Bern geprägt wie kaum ein anderer. Der Astrophysiker über die nächste Grenzverschiebung, Katastrophen und den Berner Weg.
Am Berner Münster wurde über Jahrhunderte gebaut – ein Baumeister übergab die Arbeit an den nächsten, ohne dass er den fertigen Bau jemals zu Gesicht bekam.
In einer ähnlichen Traditionslinie sieht sich Peter Wurz. Der Direktor des Physikalischen Instituts sitzt in seinem Büro an der Sidlerstrasse, gleich neben dem Hauptgebäude der Uni Bern auf der grossen Schanze. Der gesamte Bau der «exakten Wissenschaften», in der Wurz untergebracht ist, strahlt den Charme einer kommunistischen Parteizentrale aus. Wenig «Rocket Science», viel Biederkeit.
In Wurz‘ Studierzimmer stehen Globen von verschiedenen Planeten, riesige Baupläne und eingerahmte Auszeichnungen auf den Regalen. Diese hat er in den vergangenen Jahrzehnten erhalten. Denn der 62-jährige Wurz ist schon einige Zeit im Geschäft. Seit 1992 lehrt und forscht er an der Uni Bern.
Gerade lang genug, um ein Mammut-Projekt wie jenes der Merkur-Mission der europäischen Raumfahrtbehörde ESA begleiten zu können. Von der Ursprungsidee der Mission bis zu den ersten Aufnahmen vom Planeten, der am nächsten zur Sonne steht, wird es ein ganzes Forscherleben dauern.
Wurz, ordentlich gescheiteltes Haar, adretter Pullover, feine Gesichtszüge, blickt zurück: Anfang der 1990er Jahre sei die Idee, zum Merkur zu fliegen, erstmals diskutiert worden. Der Österreicher sass damals schon mit am Tisch der ESA. Im Jahr 2000 erfolgte dann der Start der Ausschreibung. Das heisst, wissenschaftliche Einrichtungen konnten sich darum bewerben, ihre Instrumente zum weit entfernten Planeten zu schicken. Wenn alles gut geht, wird im Dezember 2025 eine ESA-Sonde den Merkur erreichen.
Angestaubte Technik muss es richten
Über 30 Jahre sind also inzwischen vergangen. Forscher wie Wurz brauchen eine Engelsgeduld, möchte man meinen. Doch dieser relativiert: «Ich arbeite immer parallel an verschiedenen Missionen, weshalb selten wirkliche Wartezeiten entstehen.» Und nicht immer läuft alles nach Plan. Dann muss er wieder bei Null beginnen. Das ist in der Karriere Wurz’ nicht nur einmal vorgekommen. Er erinnert sich zum Beispiel an die Cluster-Mission der ESA: Er musste mit ansehen, wie die Trägerrakete nach dem Start explodierte. Instrumente aus Berner Forschung, in denen fünf Jahre Arbeit steckten, waren zerstört. «Man lernt mit dem Risiko umzugehen», sagt Wurz trocken.
Und wenn es die Technik dann erstmal ins All geschafft hat, ist sie nach heutigem Verständnis häufig veraltet. Wurz dazu: «Die Geräte, mit denen wir ab 2025 messen werden, sind auf dem technologischen Stand von 2012.» An diese Diskrepanz haben sich Forschende weltweit schon gewöhnt: Die Voyager-Sonden, welche die NASA Ende der 1970er Jahre ins All geschossen hat, liefern immer noch mehr oder weniger zuverlässig Daten. Die gesamte Rechenleistung des damals verbauten Bordcomputers entspricht aber nur dem eines modernen Taschenrechners. Vergänglicher Fortschritt, vergängliches Leben: «Die meisten Menschen, die Voyager erdacht haben, sind mittlerweile tot», sagt Wurz.
Damals wie heute ist der Aufwand solcher Missionen riesig: Sie verschlingen Milliarden von Franken. Auch weil die Forschenden technologisches Neuland betreten und für die Reise zum Merkur eigens eine Raumsonde entworfen werden muss. Material und Instrumente, die auf dem Planeten ihre Arbeit verrichten sollen, müssen besonders hitzebeständig sein und mit hoher Strahlung zurechtkommen, weil sich der Planet so nah an der Sonne befindet.
Und was versprechen sich die Berner Astrophysiker*innen von der Merkur-Mission? «Wir wollen mit den besten Instrumenten die bestmöglichen Ergebnisse erzielen», sagt Wurz.
Begründet hat die Uni Bern ihr Renommee in Sachen Raumfahrt mit dem Sonnenwind-Segel: das einzige nichtamerikanische Experiment der Apollo-11-Mission, in der Menschen 1969 zum ersten Mal einen Fuss auf den Mond setzten. Eine Replik des Segels steht heute noch im Institut.
Das ist alles lange her. Unterdessen hat die Universität ihre Nische gefunden – vor allem in zwei grossen Bereichen. «Dort haben wir die kritische Masse, um international konkurrenzfähig zu sein», sagt Wurz.
Berner Kamera fotografiert den Mars
Der erste grosse Teilbereich der Berner Forschung sind Massenspektrometer. Diese Geräte liefern zum Beispiel Daten über die chemische Zusammensetzung im Sonnensystem. Und davon erhofft sich das Berner Team Antworten auf ganz elementare Fragen:
Wie hat sich das Sonnensystem entwickelt? Und nach welchen Kategorien suchen wir nach Leben im Universum? Wurz erklärt das mit einem Bild: «Kann jemand Pilze im Wald finden, der oder die noch nie zuvor Pilze gesehen hat?»
Ein zweites Berner Steckenpferd: Teleskope und Kameras. Es sind die Augen, mit denen Astrophysiker*innen weltweit auf entfernte Planeten blicken. In den Berner Labors haben Mitarbeitende zum Beispiel an der Cassis-Mars-Kamera getüftelt. Diese umkreist seit 2018 den 76 Millionen Kilometer weit entfernten roten Planeten. Und das aus einer Höhe von 400 Kilometer über dem Boden. Das ist nah genug, um gestochen scharfe Fotos zu liefern.
Wenn Wurz in seinem Büro über die Mars-Aufnahmen spricht, tönt es so, als beschreibe er die jüngsten Wanderferien: Gebirgsformationen und schroffe Täler habe er darauf gesehen. Noch nie zuvor sei der Mars in einem solchen Detailgrad fotografiert worden. Für die Forschenden ist das Gold wert. Denn die Aufnahmen kommen einem Blick in die Geschichte des Mars gleich. Ein Puzzleteil kommt dabei zum anderen. Wurz erzählt von den Spuren eines Erdrutsches, die auf den Bildern zu sehen seien. Auftauender Permafrost habe diesen ausgelöst, was wiederum die Existenz von Wasser auf dem Mars belege. Ein Bauteil für das Leben? Das ist momentan Gegenstand der Forschung.
Swissminiatur
Wurz sind die Leidenschaft und Faszination anzumerken, wenn er über diese Dinge referiert. Auch nach 40 Jahren im Beruf. «Wir verschieben die Grenzen des Möglichen», sagt der Astrophysiker. Ein Satz, der auch an der Vorstellung des neuesten Apple-Produkts fallen könnte. Phrasendrescherei? Wurz erklärt, wie er und seine Mitarbeiter*innen beim Bau der Massenspektrometer auf immer weniger Platz immer leistungsfähigere Technik unterbringen müssen. Beim Transport ins All zählt jedes Gramm. Denn Treibstoff ist teuer und dementsprechend gering die Ladekapazität. Häufig gibt es genaue Gewichtsvorgaben: Ein gesamtes Labor darf beispielsweise nicht mehr als 2,2 Kilogramm wiegen. Die Berner Forscher*innen arbeiten deshalb laufend an «Miniaturisierungen». Schnell sind Grenzen erreicht, an denen einzelne Bestandteile nicht weiter verkleinert werden können, sondern von Grund auf neu gedacht werden müssen. «Dann fängt der kreative Prozess an.»
Ich sehe was, was du nicht siehst
Fundamental Neues geschieht derzeit auch bei der Steuerung von Laboreinheiten und Sensoren, die auf unterschiedlichen Planeten Proben nehmen. Wurz veranschaulicht: Es kann bis zu einer Stunde dauern, bis ein Computerbefehl die Reise von der Erde zum Jupiter zurückgelegt hat. Nicht nur in kritischen Situationen ist das quälend lang. Dank lernfähiger Maschinen sollen möglichst viele Entscheide in Zukunft autonom vor Ort getroffen werden.
«Vielleicht werden die Maschinen Dinge sehen, von denen wir nicht einmal annehmen konnten, dass sie beobachtenswert sind», sagt der Astrophysiker.
Vieles von dem, was dereinst möglich sein wird, wird Wurz nicht mehr miterleben – zumindest nicht in seiner Funktion als Direktor. In zweieinhalb Jahren hat er das Pensionsalter erreicht. «Mein Herz wird aber immer an der Raumfahrt hängen», sagt er. In seiner Branche ist es durchaus üblich, dass Raumfahrt-Rentner noch einen Pult im Institut bekommen und frei von Vorgaben, aber auch ohne Salär weiterforschen können. Einer seiner Kollegen habe das sogar bis zum Alter von 93 Jahren getan, erzählt Wurz. Dann bliebe er der Raumfahrt sogar noch weitere 30 Jahre erhalten – genug Zeit, um noch die Mission zum Planeten Uranus mitzuerleben. Dort könnte ab 2045 eine Sonde in die Atmosphäre eintauchen – mit Berner Beteiligung.