Kontroverse Blicke aufs Betteln
Geht es nach der Stadt Bern, sollen Passant*innen Bettler*innen aus Osteuropa kein Geld geben. Die Empfehlung ist gar absolut, wie Gespräche mit Expert*innen zeigen.
In keinem Monat sind die Menschen freigiebiger mit Spenden als im Dezember. Ausgerechnet in dieser Zeit hat die Stadt Bern letztes Jahr die Bevölkerung dazu aufgefordert, «Bettlerinnen und Bettlern aus Osteuropa» kein Geld zu geben. Dies, weil sie «meist Angehörige und/oder Opfer von organisierten Bettelbanden» seien.
Auf Social Media ist dieser Aufruf auf Unverständnis gestossen. Die Gassenarbeit Bern bezeichnete ihn als «äusserst problematisch und rassistisch.» GLP-Stadträtin Judith Schenk fragte auf Twitter rhetorisch: «Let them eat cake?!» Und GB-Stadträtin Lea Bill erinnerte daran, dass Betteln ein Menschenrecht ist.
Letzte Woche hat Lea Bill zusammen mit Sofia Fisch von der Juso zusätzlich eine Motion im Stadtrat eingereicht. Die Stadt soll die Lebensumstände bettelnder Personen untersuchen und zeigen, inwiefern Menschenhandel eine Rolle spielt.
War der Aufruf eine diskriminierende Entgleisung der Stadt? Oder ein solidarischer Akt, um Menschen vor mutmasslicher Ausbeutung zu schützen? Die «Hauptstadt» hat mit drei Expert*innen gesprochen. Es zeigt sich: Die Antwort hängt von der Perspektive ab.
Was machen wir mit Geld? Und was macht Geld mit uns? Das ist die inhaltliche Klammer des Schwerpunktthemas, zu dem wir Anfang Januar zahlreiche Artikel veröffentlichen.
Anruf bei Melina Wälti von der Gassenarbeit Bern. Sie und ihre Mitarbeiter*innen sind regelmässig auf Berns Strassen unterwegs, um mit Bettler*innen zu sprechen, ihre Bedürfnisse zu erfragen und ihnen zu zeigen, wo sie Nahrung und Obdach finden können. «Die Stadt Bern verwendet oft das Narrativ der Bettelbanden. Damit wird das Betteln kriminalisiert», argumentiert Wälti.
Die Empfehlung der Stadt Bern vom Dezember findet Wälti «extrem diskriminierend.» Die Osteuropäer*innen würden «ohne handfeste Beweise» herausgehoben. Wälti wünscht sich von der Stadt, vorsichtig zu sein mit Mutmassungen über kriminelle Bandenzugehörigkeit. Denn die Gassenarbeit treffe auf ihren Rundgängen nicht auf Banden, sondern auf Familien: «Diese Strukturen geben den Menschen Sicherheit. Sie unterstützen sich gegenseitig.»
Das Berner System
Beim Gespräch mit der «Hauptstadt» legt Alexander Ott zwei hohe Papierstapel auf den Tisch. «Seit 30 Jahren beschäftige ich mich mit dem Phänomen der organisierten Bettelei.» Mit den unzähligen Zeitungsartikeln, wissenschaftlichen Arbeiten und Polizeiberichten wolle er unterstreichen, dass seine Aussagen auf einem stabilen Fundament beruhen, so der Leiter der städtischen Fremdenpolizei.
Alexander Ott ist gegen Bettelverbote. Die Bettler*innen würden gebüsst, man nähme ihnen das Erwirtschaftete weg und würde sie kriminalisieren. Die Busse könnten sie wohl nicht bezahlen, es gäbe unzählige Mahnungen, am Schluss Haft.
Das Berner System ist für ihn die bessere Lösung. Seit 2009 werden ausländische Bettler*innen nicht mehr einfach weggewiesen. Dafür versucht die Stadt, sie aus den Bettelstrukturen und bestehenden Ausbeutungsverhältnissen herauszulösen, damit sie zum Beispiel einen Job finden oder eine Ausbildung absolvieren können. Dafür klären mehrere Behörden – bei Minderjährigen zum Beispiel die Kesb – ab, wer der Mensch ist und warum er sich in der Schweiz aufhält.
«Diese Strukturen lassen sich nur erfassen, wenn man das System über eine gewisse Zeit hinweg beobachtet»
Alexander Ott
Auch aufgrund dieser Befragungen würden sich jene Strukturen herauskristallisieren, welche die Stadt als «Banden» bezeichnet. Juristisch ist der Begriff sehr weit gefasst – bereits zwei Personen können als Bande gelten. «Man könnte auch Gruppe oder Clan sagen. Es sind Menschen, die, einer strengen Hierarchie folgend, im Verbund arbeitsteilig vorgehen», erklärt Ott.
Er berichtet von einem System mit drei Ebenen. Da sind die Menschen, die auf der Strasse sitzen und betteln. Über ihnen sind jene, die das gesammelte Geld abschöpfen und die Bettler*innen je nach Geschäftsgang und Polizeiaufkommen umplatzieren. Die auf der dritten Ebene Tätigen überwachen die anderen beiden. Sie seien jedoch selten vor Ort und besässen in ihren Herkunftsländern grosse Anwesen und teure Autos. Angehörige der zweiten und dritten Stufe seien oft europaweit zur Verhaftung ausgeschrieben. «Diese Strukturen lassen sich nur erfassen, wenn man das System und damit das Zusammenspiel der einzelnen Akteur*innen über eine gewisse Zeit hinweg beobachtet», so Ott.
Knackpunkt Aufenthalt
In Bern laufe es meistens so, schildert Ott, dass Menschen in Fahrzeugen – oft aus Mülhausen, Vorarlberg oder Mailand – auf die Schützenmatte gebracht und dort zum Betteln ausgeladen würden. Auf der Schützenmatte würden sie auch mit Rollstühlen oder Gehstöcken ausgestattet. Oft, ohne medizinisch darauf angewiesen zu sein. Anschliessend würden sie zum Betteln an ihre Plätze in der Stadt verteilt.
Wie viele Bettler*innen am Tag des Gesprächs mit der «Hauptstadt» Mitte Januar in der Stadt unterwegs waren, weiss Ott nicht. Am Vortag habe die Fremdenpolizei drei Personen aus Rumänien gezählt. Wenig seien das; Wellen gebe es vor Weihnachten, an Ostern und im Sommer.
Treffe die Fremdenpolizei ausländische Bettler*innen an, die bandenmässig unterwegs sind und im öffentlichen Raum störend betteln, würde sie deren Identitätspapiere kontrollieren, erklärt Ott. Bei Schweizer*innen sind keine weiteren Abklärungen nötig. Durch ihre Staatsbürger*innenschaft sind sie legal da und Betteln ist für sie erlaubt in Bern.
Viele seien aber EU-Bürger*innen. Aufgrund des Freizügigkeitsabkommens zwischen der EU und der Schweiz haben sie grundsätzlich das Recht, sechs Monate in der Schweiz zu leben. Allerdings müssen sie eine Krankenversicherung abgeschlossen haben und genügend Geld besitzen, um den Lebensunterhalt zu bestreiten. Zudem braucht ihr Aufenthalt einen Zweck. Spätestens daran scheitere es bei Bettler*innen: «Sie sind weder Tourist*innen noch Stellensuchende. Und das schweizerische Bundesgericht hat entschieden, dass Betteln nicht als Beruf gilt», so Ott.
«Die Staaten nehmen ihre Verantwortung nicht wahr.»
Alexander Ott
Die Fremdenpolizei gebe den Bettler*innen jeweils die Adresse ihrer Botschaften mit der Aufforderung, sich dort zu melden. Im Wissen darum, dass das nicht viel bringe: «Leider helfen die Botschaften selten weiter. Der Fremdenpolizei gegenüber heisst es dann, dass niemand vorbeigekommen sei.»
Immer wieder sagt Alexander Ott im Gespräch mit der «Hauptstadt» diesen Satz: «Die Staaten nehmen ihre Verantwortung nicht wahr.»
Mehrmals ist Ott nach Rumänien gereist, um sich ein Bild der Lage vor Ort zu machen. Er berichtet von grösster Armut. Diese sei Treiberin für das Betteln. EU-Länder hätten eine Sozialcharta unterschrieben und würden Gelder erhalten, auch von der Schweiz. Es dürfe nicht sein, dass die Menschen dort keinen Zugang zu Grundnahrungsmitteln und Bildung erhalten: «Viele Bettler*innen sind Analphabet*innen.»
Keine Banden, sondern Familien
Von grösster Armut in den Herkunftsländern der Bettler*innen berichtet auch Zsolt Temesvary. Der Wissenschaftler der Fachhochschule Nordwestschweiz steht in Kontakt mit Universitäten aus Osteuropa, die das Phänomen Betteln in ihren Ländern erforschen.
In der Sache mit dem «Bandenbegriff» weichen seine Einschätzungen aber von jenen Otts ab.
Zwei Jahre lang hat Temesvary das Betteln in den Städten Zürich und Genf untersucht, über 200 Interviews mit Betroffenen auf der Strasse geführt. Ausserdem besucht er mit Studierenden jede Woche Bettler*innen in Basel. «Anhand unserer Erfahrungen können wir keine Beweise aufzeigen, dass randständige osteuropäische Personen von kriminellen Banden zum Betteln gezwungen werden», schreibt Temesvary auf Anfrage der «Hauptstadt».
Auf der Strasse angetroffen habe er hingegen Grossfamilien mit hierarchischen und patriarchalen Strukturen. Bei einigen würden zum Beispiel die jungen Frauen auf der Strasse betteln und die Männer das Geld einsammeln. Auch bei bettelnden Grossfamilien könne es zu Ausbeutungssituationen kommen, räumt Temesvary ein, «auch wenn dies nicht unbedingt absichtlich passiert.»
«Ich kann verstehen, dass viele Menschen aufdringliches Betteln nicht tolerieren.»
Zsolt Temesvary
Für die Stadt Bern hat Temesvary keine Daten erhoben. In allen untersuchten Städten würden sich die Resultate aber gleichen. Er gehe darum davon aus, dass sie auch für andere Schweizer Städte wie Bern gelten.
Zsolt Temesvary hat Verständnis für die Aufforderung der Stadt Bern, Bettler*innen aus Osteuropa kein Geld zu geben. «Ich kann verstehen, dass viele Menschen aufdringliches Betteln nicht tolerieren und sich fragen, ob die Almosen tatsächlich bei den Bedürftigen landen.» Schliesslich gebe es andere Wege, um Menschen in Not zu unterstützen, etwa über Hilfsorganisationen.
Es bleibt schwierig
Den auf Twitter geäusserten Rassismus-Vorwurf der Gassenarbeit weist Alexander Ott von sich. Aus seiner Sicht wäre es gar schädlich, den in der Empfehlung genannten Bettler*innen aus Osteuropa Geld zu geben. «Wir wären Treiber der ganzen Geschichte.» Je mehr die Bettler*innen erwirtschaften, desto grösser werde der Druck auf sie, noch mehr Geld zu generieren. Dieses Muster lasse sich in den meisten Ausbeutungssituationen beobachten, so Ott.
Er hat nicht den Eindruck, dass Passant*innen keinen Bettler*innen mehr Geld geben würden, weil sie deren Herkunft nicht deuten können. «Man sieht den Unterschied. Und entwickelt mit der Zeit ein Sensorium.»
War der Aufruf eine rassistische Entgleisung der Stadt? Oder ein solidarischer Akt, um Menschen vor mutmasslicher Ausbeutung zu schützen?
Die drei von der «Hauptstadt» befragten Expert*innen sind sich nicht einig. Ob das Geld bei Villenbesitzern landet oder tatsächlich den Menschen auf der Gasse zu Gute kommt, bleibt für Passant*innen schwierig einzuschätzen. Daher erscheint die Aufforderung der Stadt etwas gar absolut formuliert, auch wenn Alexander Ott die Gründe dafür auf nachvollziehbare Art beschreibt.
Am Schluss kommt kein Mensch darum herum, eine eigene Entscheidung zu fällen, ob und falls ja wem er oder sie auf der Gasse Geld spendet.