Kehrsatz – «Hauptstadt»-Brief #325
Samstag, 1. Juni 2024 – die Themen: Simon Jäggi; Mord in Kehrsatz; Superwahljahr in der Agglo; Stadtlandwirtschaft; Kino Rex; Besetzungen; L'Ovestino.
Ab Montag arbeitet die «Hauptstadt»-Redaktion für eine Woche in der Gemeinde Kehrsatz. Gestern ist der Kehrsatzer Musiker Simon Jäggi letztmals als Birdman Jäggi aufgetreten. Er habe «mit einem fulminanten Auftritt, wummernden Beats, aber auch beruhigender Gelassenheit die musikalische Bühne verlassen», berichtet mein Kollege Joël Widmer direkt aus der Heitere Fahne in Wabern. Für die «Hauptstadt» hat Jäggi einen wunderbaren Text über das Kehrsatzer Lebensgefühl formuliert. «Wir alle haben ein Kehrsatz in uns», schreibt er.
Für mich trifft das voll zu.
Beim Stichwort Kehrsatz fällt mir immer dasselbe ein: der berühmte, bis heute ungelöste Kriminalfall von 1985. Als «Mord in Kehrsatz» hat er sogar einen eigenen Wikipedia-Eintrag.
Am 1. August 1985 wurde in der Kühltruhe eines Einfamilienhauses in Kehrsatz die Leiche einer jungen Frau gefunden, mit einem Kehrichtsack über dem Kopf. Noch am gleichen Tag verhaftete die Polizei ihren Ehemann. Zwei Jahre später verurteilte ihn das Geschworenengericht trotz Unschuldsbeteuerungen wegen Mordes zu lebenslanger Haft.
Das war nur der Anfang. Hartnäckige Recherchen von Journalist*innen sowie Beschwerden der damaligen Geschworenen brachten nachträglich zahllose Ungereimtheiten im Verfahren an den Tag. Der Toast Hawaii, den die Ermordete vor ihrem Tod gegessen haben soll, erlangte landesweite Berühmtheit. Die Berner Gerichtsmedizin hatte sich bei der Analyse des Mageninhalts unglaubliche Fehler geleistet.
1993 stieg im Amtshaus ein spektakulärer Revisionsprozess, wie ihn Bern noch nicht gesehen hatte. Ich sass als junger Reporter an einzelnen Prozesstagen mit dem Notizblock im Gerichtssaal. Ich erinnere mich an eine Atmosphäre fiebriger Anspannung, das Gericht stand unter gigantischem medialem Druck.
Der Wahrheit kam man nicht näher. Wer wann, wie und warum die Frau umgebracht hatte, blieb im Dunkeln. Den einst als Mörder verurteilten Mann sprach das Gericht mangels Beweisen frei.
Die leidenschaftliche Diskussion vor 30 Jahren über den wachsenden Druck durch mediales Trommelfeuer begleitet mich seither. Heute, im Zeitalter von sozialen Medien und Shitstorms, ist sie brandaktuell.
Kritisch, korrekt, unvoreingenommen, konstruktiv: Das sind Pfeiler, an die ich mich als Journalist zu halten versuche. Das ist mein Kehrsatz in mir.
Und das möchte ich dir ins Wochenende mitgeben:
Feuer für die Agglo: Politik in den Agglo-Gemeinden um Bern holt mich nicht vom Hocker, dachte ich. Dann das: Ich schaute mir 17 Gemeinden um die Stadt genauer an, in 12 von ihnen finden dieses Jahr Wahlen statt. Und in vielen ist es fast spannender als in der Stadt. Die grosse Frage: Kommt es in der vermeintlich bürgerlichen Agglo zu rot-grünen Mehrheiten? Hör in die neuste Folge des Podcasts «Im Hinterzimmer» und lies unsere leichtfüssige Übersicht über die politischen Kräfteverhältnisse im Ring um die Stadt Bern.
Stadtlandwirtschaft: Erst das Essen, dann die Natur? Diese Frage stellt meine Kollegin Flavia von Gunten nächsten Donnerstag (19.30 Uhr, Progr) am «Hauptsachen»-Talk. Es geht um die Ernährung in Zeiten des Klimawandels und die Verantwortung der Konsument*innen. Komm vorbei! Es gibt von der Progr-Küche eigens kreierte Sandwiches.
Stadtrat: Das neue städtische Abfallregime mit Containerpflicht und Farbsäcken kann bekanntlich nicht so umgesetzt werden, wie es das Volk 2021 gutgeheissen hatte. Trotzdem gab der Stadtrat am Donnerstag gegen bürgerlichen Widerstand dem Vorhaben eine wohl letzte Chance, wie Flavia von Gunten schreibt. Lies ihre knappe und kundige Zusammenfassung der Debatte in unserem Stadtrat-Brief.
Kino Rex: Leiter Thomas Allenbach geht Anfang 2025 in Pension. Nun hat der Vorstand des Trägervereins Cinéville, präsidiert von der Produzentin Madeleine Corbat, seine Nachfolge bestimmt: Die Leitung des Kino Rex übernehmen laut einer Mitteilung die bisherige Marketingverantwortliche Martina Amrein und der Filmproduzent David Fonjallaz.
Besetzung I: Während zwei Wochen hatte eine Gruppe ein seit zehn Jahren leerstehendes Haus in Bümpliz besetzt. Am Donnerstag zogen sie ab, nachdem die Polizei aufgekreuzt war. Was mich an dieser Besetzung erstaunt: In dem komplett verwahrlosten Haus mitten in Bern West lebten schon längere Zeit Sans Papiers, wie mein Kollege Linus Küng recherchiert hat.
Besetzung II: Am Donnerstag früh besetzten Studierende Räume im Uni-Hauptgebäude und forderten erneut den Abbruch der Beziehungen der Universität mit israelischen Institutionen. Noch am gleichen Abend bot die Uni-Leitung die Polizei auf. Die Räumung verlief laut Mitteilung der Uni ohne Gewaltanwendungen.
Ich wünsche dir ein gutes Wochenende
Jürg Steiner
PS: Angesichts des Hudelwetters finde ich schon seinen Künstlernamen eine Offenbarung: Der Berner Musiker Amos A la Playa, bekannt als DJ des Rappers Nativ, legt heute Samstag zum Saisonschluss in der Bar L'Ovestinoim ehemaligen Kino Gotthard auf. Da geht die Temperatur automatisch in die Höhe.