Magie der roten Zahlen
«Schuldenbudget» oder «verantwortungsvolle Finanzpolitik»? Die Stadt Bern erlebt gerade einen heftigen Abstimmungskampf um das defizitäre Budget 2023. Gut so.
So ruppig wurde in der Stadt Bern schon lange nicht mehr politisch gerungen wie um das Budget für das Jahr 2023, das am kommenden Sonntag zur Abstimmung kommt. Eine breite bürgerliche Allianz, der sich auch GLP und die Mitte angeschlossen haben, kämpft für die Ablehnung des Budgets, in dem ein Defizit von 35 Millionen Franken veranschlagt wird. Zum ersten Mal seit 1999 ist es nicht ausgeschlossen, dass die regierende Allianz Rot-Grün-Mitte (RGM) mit ihrem Voranschlag vor dem Volk scheitert. Es wäre ein ziemlich vergiftetes Geschenk zum 30-Jahr-Jubiläum des RGM-Wahlsiegs vom 6. Dezember 1992.
In erster Linie ist die flotte Auseinandersetzung um die finanziellen Perspektiven ein Vitalitätszeichen der lokalen Demokratie. Das Budget gehört zu den wichtigsten Steuerungsinstrumenten der Politik. Nur gut, dass man hart darum ringt.
Die Budget-Gegner*innen haben sich dafür teilweise sogar richtig Lustiges einfallen lassen: Mitte-Stadträtin Milena Daphinoff zum Beispiel verbreitet in den sozialen Medien ein Video von sich, in dem sie im Nordquartier in einem öffentlichen Bücherschrank ökonomische Literatur deponiert für die vier linken Gemeinderät*innen sowie die roten und grünen Stadträt*innen, die sich ihrer Ansicht offenen Auges verrechnet haben.
Wobei sie verständlicherweise verschweigt, dass auch der eine oder die andere Budget-Kritiker*in einen Blick in ein Ökonomiebuch nötig hätte. Die selbstgerechte Gleichung, dass sparfreudige Bürgerliche automatisch gute Finanzpolitiker*innen sind, wird nicht wahrer, wenn man sie wiederholt.
Budgetieren ist keine exakte Wissenschaft. Sondern Politik.
Bürgerliche Politiker*innen stehen normalerweise hinter dem kapitalistischen Wirtschaftssystem und müssten so gesehen ein unverkrampftes Verhältnis zum Schuldenmachen haben. Wie man dann in der politischen Kampagne suggerieren kann, dass man das 1,3-Milliarden-Budget der Stadt nach gleichen Kriterien beurteilen soll wie dasjenige eines privaten Familienhaushalts, bleibt rätselhaft. Dass die Stadt Bern kurz vor der Pleite stehe, wie auch kolportiert wird, ist überzogen. Immerhin hat die Regierung einen Plan, wie sie in ein paar Jahren wieder in die schwarzen Zahlen kommen will.
Defizite sind in Mode
Budgetieren ist keine exakte Wissenschaft, sondern Politik. Dass die Mehrheit versucht, ihre eigenen Ideen, mit denen sie erfolgreich Wahlkampf betrieb, umzusetzen: das ist Politik. Es kann gute Finanzpolitik sein, im Budget ein Defizit in Kauf zu nehmen. Genau so wie das Gegenteil.
Es kann auch sinnvoll sein, Schulden zu machen. Die Frage ist: In welchem Ausmass, zu welchen Bedingungen, zu welchem Zeitpunkt, mit welchen Aussichten. Und mit wie viel Unterstützung: Vor einem Jahr winkte die städtische Stimmbevölkerung das Budget 2022 mit einem Ja-Stimmen-Anteil von 70 Prozent durch, obschon es ein Defizit von 41 Millionen Franken enthielt.
Dass Stadtregierungen mit hohen Budgetdefiziten operieren, ist zurzeit eher die Regel als die Ausnahme. Von den grossen Schweizer Städten rechnet für 2023 nur Basel mit einem Überschuss (von 66 Millionen Franken). Die Stadt Zürich hingegen sieht für 2023 ein Defizit von weit über 100 Millionen Franken vor, Lausanne eines von 81 Millionen Franken, Genf eines von 31 Millionen Franken. Selbst das bürgerliche Lugano rechnet mit einem Fehlbetrag von 5 Millionen Franken.
Im Hamsterrad
Was man aus diesen Zahlen lesen kann: Nicht nur die Stadt Bern hat sich in ein schwer zu bändigendes Wachstumshamsterrad manövriert. Die Politik der letzten Jahrzehnte – mit hohen Investitionen in Verkehrsberuhigung, Bildung, Kultur, Integration – hat dazu geführt, dass Städte für Familien mit (kleinen) Kindern attraktiv geworden sind.
Bern befindet sich mit dem prognostizierten Budget in bester Gesellschaft. Das ist allerdings kein Gütesiegel.
Diese Zuwanderung führt zu weiterem Investitionsbedarf – in Schulhäuser und Sportanlagen etwa –, der nur finanziert werden kann, wenn die Steuereinnahmen steigen, was wiederum nur passiert, wenn die Stadt in ihre Attraktivität investiert. «Ein Wellnessprogramm für den gehobenen Mittelstand»: So bezeichnete die heutige Berner Grossrätin Christa Ammann (Alternative Linke) einst treffend den ins Geld gehenden politischen Kurs der rot-grünen Mehrheit.
Schlacht der Argumente
Bern befindet sich mit seinem prognostizierten Defizit in bester Gesellschaft. Das ist allerdings alles andere als ein Gütesiegel. Sich als Stimmbürger*in eine Meinung zu bilden, macht das erst recht schwierig. Handelt es sich um ein katastrophales «Schuldenbudget», wie die bürgerlichen Gegner*innen sagen, oder um «verantwortungsvolle Finanzpolitik», wie Rot-Grün behauptet?
Beide Seiten haben gute Argumente. Aber auch ziemlich schlechte. Zwei Beispiele: Rot-Grün betont den Sparwillen, summiert aber unter «Entlastungsmassnahmen» auch Gebührenerhöhungen (etwa für Parkplätze oder den Feuerwehrdienstersatz, die jetzt per Referendum bekämpft werden). Und macht glauben, Personal abgebaut zu haben, was hauptsächlich darin besteht, das Altersheim Kühlewil einem privaten Betreiber übergeben zu haben.
Umgekehrt kritisieren die Bürgerlichen den trotz roter Zahlen vorgesehenen Stellenausbau. Er kommt jedoch neben der Aufstockung der Ortspolizei hauptsächlich deshalb zustande, weil man Personal braucht für die neue Schwimmhalle, deren Bau eine Volksinitiative der FDP vorantrieb.
Was darüber denken?
Vielleicht das:
Speziell am Berner Budget 2023 ist, dass ihm nicht einmal die linke Regierung, die es vorlegte, gute Noten gibt. Finanzdirektor Michael Aebersold (SP) betonte bei der Präsentation im Juni, dass das Budget 2023 sämtliche Vorgaben verfehle, die sich der Gemeinderat in seiner langfristigen Finanzplanung vorgenommen habe. Der Spardruck bleibe hoch, mahnte Aebersold. Trotzdem setzte der Stadtrat weitere Ausgaben von 7 Millionen Franken obendrauf.
Mit Schulden, roten Zahlen, Steuererhöhungen hat Rot-Grün-Mitte Erfahrung wie niemand sonst.
Ein paar laienverständliche Zahlen zum Budget 2023: Die Stadt rechnet mit einer Zunahme der Steuereinnahmen um 30 Millionen Franken. Wenn daraus ein Defizit von 35 Millionen Franken resultiert, bedeutet das, dass die Ausgaben doppelt so schnell wachsen wie die Einnahmen. Das Eigenkapital, mit dem man Defizite ausgleichen könnte, schmilzt wie Schnee an der Sonne.
Zudem: Um die rekordhohen Investitionen – vor allem in Schulen und Sportanlagen – aus eigenen Mitteln finanzieren zu können, müsste Bern laut Aebersold einen jährlichen Überschuss von 20 Millionen Franken erwirtschaften. Weil das Gegenteil der Fall ist, verschuldet sich die Stadt weiter. Die Schuldenlast droht bis 2026 auf 1,8 Milliarden Franken zu steigen, was angesichts steigender Zinsen hohe jährliche Zusatzkosten zur Folge hätte. Dass diese Entwicklung zu einer Steuererhöhung führen könnte, kommt in den Sprachregelungen von Rot-Grün bisher nicht vor.
Die Erfahrungswelt von RGM
Das Paradoxe: Mit genau dieser Situation – Schulden, rote Zahlen, Steuererhöhungen – hat Rot-Grün-Mitte Erfahrung wie niemand sonst. Als das Bündnis vor 30 Jahren die Mehrheit übernahm, hatten die zuvor regierenden Bürgerlichen in der Rechnung 1992 ein 60-Millionen-Defizit hinterlassen. Die Schulden betrugen fast zwei Milliarden Franken.
Die Stadt ächzte unter Abwanderung und den Kosten der hohen Arbeitslosigkeit in den 90er-Jahren, was dazu führte, dass die rot-grün regierte Stadt 10 Jahre lang ununterbrochen rote Zahlen schrieb. Weitere 10 Jahre dauerte es, bis es gelang, die Folgen des finanziellen Desasters von Anfang der 90er-Jahre hinter sich zu lassen. Ab 2010 baute die Stadt wieder Eigenkapital als Reserve auf (die jetzt wieder aufgebraucht wird).
Man müsste eigentlich meinen, dass niemand besser als Rot-Grün-Mitte weiss, wie klein der Spielraum werden kann, wenn die Schulden in die Höhe steigen. Und wie lange es dauern kann, bis man sich aus dieser Drucksituation befreit hat. Es wäre zu einfach, die Situation von 1992 und 2022 direkt zu vergleichen. Was aber sicher scheint: Der Druck auf die städtischen Finanzen wird auch ohne Zutun der städtischen Politik steigen.
Steigender Druck
Das eidgenössische Finanzdepartement hat vor einem Jahr seine jüngsten finanziellen Langfristperspektiven veröffentlicht. Der Städteverband kam nach seiner Analyse zum Schluss, dass die Belastung für die Städte stark zunehmen wird – etwa wegen der Alterung der Gesellschaft. Ein weiterer wichtiger Grund: Die Investitionen in die Bewältigung der Folgen des Klimawandels. Die Stadt Bern ist laut ihrem eigenen Controllingbericht zur Klimastrategie bei weitem nicht auf Kurs. Was spricht dagegen, sich mit vorsichtiger Finanzpolitik die Reserven dafür zu schaffen, es besser zu machen?
Therese Frösch (Grünes Bündnis) wurde vor 30 Jahren städtische Finanzministerin. Das Volk lehnte die von ihr vorgelegten Budgets 1994, 1995 und 1996 hintereinander an der Urne ab, teilweise mehrmals. Einmal intervenierte der Kanton und verordnete eine Steuererhöhung.
Als Frösch vier Jahre später wieder zur Wahl antrat, wurde sie mit dem Bestresultat im Amt bestätigt. «Wir wurden von Beginn weg heftig in Frage gestellt, und das zwang uns, unsere Politik in der Öffentlichkeit immer wieder zu begründen», sagte sie Jahre später. «Nie zuvor wusste das Stimmvolk so genau, wofür es Steuern zahlte. Die Leute merkten, dass wir kämpften.»
Wenn das ein Bonus ist, den die ruppige Debatte von heute bringt, hat sie sich gelohnt. Unabhängig vom Resultat am Sonntag.