Die Wackelkandidatin
Nationalrätin Christine Badertscher (Grüne) macht internationale Politik, doch kaum jemand merkt das. Kosten sie die leisen Töne ihren Sitz bei der Wahl im Oktober?
Ein Samstagmorgen im August. Auf dem Markt in Schwarzenburg sind bloss zwei Stände aufgebaut. Die Sonne brennt, ihre Auslage ist hinter schattenspendenden Blachen verdeckt. Vis-à-vis haben Vertreter*innen der Grünen Partei ein metallenes Klapptischchen aufgebaut mit Flyern und Schokolade. Schatten und Marktbesucher*innen sind nicht in Sicht.
Wenn die Leute nicht kommen, muss Christine Badertscher eben zu den Leuten hin. Sie verschiebt sich ins Dorfzentrum. Zwischen Bäckerei und Schuhgeschäft verkehrt die Laufkundschaft. Auf Einladung von Gemeindepräsident Urs Rohrbach, auch er ein Grüner, ist die Nationalrätin aus Madiswil nach Schwarzenburg gefahren, fernab von ihren Stammlanden im Oberaargau. Rohrbach beeindruckt sie, er verfolgt das gleiche Ziel wie sie: Stadt und Land verbinden.
Und Badertscher kann von seiner lokalen Berühmtheit profitieren. Rohrbach grüsst die Menschen mit Namen, dann übernimmt Badertscher: «Darfinech es Haferflöckli mitgäh?»
Das Foto fehlt
4'000 Säcklein Bio-Haferflocken à 120 Gramm hat sie für ihren Wahlkampf abfüllen lassen. Damit sie den Leuten mehr als einen Flyer in die Hand drücken kann. «Christine Badertscher in den Nationalrat» steht auf der grünen Etikette, daneben ein QR-Code, der auf ihre Website führt. Ein Foto fehlt. «Scho chli blöd» sei das, gibt Badertscher zu, daran habe sie nicht gedacht, als sie das Gut zum Druck erteilte.
Sie fragt sich, ob ihr Name allein genügend trage. Vielen potenziellen Wähler*innen dürfte er nicht geläufig sein.
Nachdem Christine Badertscher vor vier Jahren in den Nationalrat gewählt worden war, schrieben sie und ihr persönlicher Mitarbeiter verschiedene Medien an und schlugen Themen für Artikel vor, zu denen sie sich äussern könnte. Doch der Rücklauf war zu gering, um diese Taktik weiterzuführen.
Prognose: Minus 2,5 Prozent
Als Frauenwahl und Klimawahl haben sich die nationalen Wahlen 2019 ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Nie wurden mehr Frauen in das Parlament gewählt, gleichzeitig gewann die Grüne Partei 17 Sitze. Im Kanton Bern waren es zwei – eine Verdoppelung.
Dieses Jahr ist die Ausgangslage eine andere. Der Grünen Partei werden Verluste prognostiziert, minus 2,5 Prozentpunkte. Ein Sitz im Kanton Bern wackelt. Umfragen zu einzelnen Kandidat*innen gibt es nicht. Doch wer mit Politolog*innen spricht, erfährt: Es könnte der von Christine Badertscher sein.
Trotzdem wirft sie sich in den Wahlkampf, will ihren Sitz verteidigen. Warum tut sie sich das an?
Die Reise nach Kamerun
Aufgewachsen ist sie auf einem Bauernhof im hintersten «Chrachen» im Emmental. Ferien waren selten und nie ging es weiter als nach Saas Fe.
Zum ersten Mal verliess sie die Schweiz nach der Sekundarschule. Mit 22 reiste sie nach Kamerun, arbeitete in einem Greenpeace-Projekt und verliebte sich in das Land. «Mich fasziniert, wie die Leute dort miteinander umgehen. Selbst Fremde erzählen sich ihre halbe Lebensgeschichte. Bei uns ist jeder für sich. Wäre es nicht so heiss dort, wäre ich ausgewandert.»
Nach sechs Monaten kehrte sie mit ihrem neuen Lebensthema in die Schweiz zurück: «Den Menschen in Afrika helfen.»
Dieses Ziel führte sie nach einem Agronomiestudium und Stationen beim Bauernverband und bei Swissaid in den Nationalrat. In ihrer Vorstellung kann sie in der Aussenpolitischen Kommission etwas bewegen. Dafür sorgen, dass die Deza genügend Geld erhält oder die Schweiz keine Freihandelsabkommen ohne Nachhaltigkeitskriterien abschliesst. «Aber mit den bürgerlichen Mehrheiten ist es schwierig», sagt sie heute.
Christine Badertscher findet, dass die Entwicklungszusammenarbeit zu wenig vorkommt in den Medien und in der Öffentlichkeit. Und somit auch sie. Denn: Sie äussert sich nur, wenn sie etwas Substanzielles zur Diskussion beitragen kann.
Ist sie zu nett?
Anfang August hat der Verein Business Professional Women Bern zu einer Podiumsdiskussion mit sechs National- und Ständeratskandidatinnen in den Berner Kursaal geladen. Auch Christine Badertscher sitzt auf dem Podium.
Es geht um die AHV und Care Arbeit, fünf Frauen überbieten sich mit Argumenten. Badertscher hört zu. Erst als eine Publikumsfrage zum Verhältnis der Schweiz zur EU kommt, dreht sie auf.
«Ich bin eigentlich zu nett für den Nationalrat», sagte Christine Badertscher in einem Porträt der Bauern Zeitung. Gegenüber der «Hauptstadt» präzisiert sie: «Ich stelle lieber Fragen, als dass ich schimpfe.» Vielleicht sei sie manchmal zu wenig hartnäckig. Dafür habe sie ein gutes Verhältnis zu den Verwaltungsleuten.
Und sie überwindet Parteigrenzen und kann so immer wieder Mehrheiten bilden. So hat der Berner SVP-Nationalratskandidat Ruedi Fischer kürzlich der «Hauptstadt» erzählt, dass er ausserhalb seiner Partei am ehesten Badertscher wählen würde, weil sie «vernünftige Landwirtschaftspolitik» mache. Ihre Motion, wonach importierte Lebensmittel keine Rückstände von Pflanzenschutzmitteln enthalten dürfen, die in der Schweiz verboten sind, wurde diesen Sommer mit Stimmen aus allen Fraktionen angenommen.
Manchmal zermürbt es sie, mit welchen Fragen sich das Schweizer Parlament beschäftige. «Wir streiten um Steuerabzüge für Versicherungsprämien, während anderswo Leute verhungern.» Natürlich seien auch diese Schweizer Themen wichtig. «Aber es macht mich fertig, dass es Probleme gibt, die zu gross sind, um sie lösen zu können. Ich muss jeweils aufpassen, dass ich mich da nicht in was reinsteigere.»
Die Politik der Grautöne
Die Landwirtschaft ist das zweite Steckenpferd von Christine Badertscher. Bauerntochter, Agronomin, ehemalige Mitarbeiterin des Schweizer Bauernverbandes – sie ist vernetzt in der Branche. Doch auch hier steht sie ausserhalb der bäuerlichen Presse nicht im Fokus der Öffentlichkeit. Sie ist nicht Mitglied in der entscheidenden Kommission für Wirtschaft und Abgaben (WAK).
«Ein bewusster Entscheid», sagt sie. Die Sitze der Grünen in der WAK seien sehr begehrt, und sie politisiere gerade in den entsprechenden Themen nicht immer auf Parteilinie. Weil sie seit ihrer Zeit beim Bauernverband die «Grautöne» sehe in der Landwirtschaft.
Die Abneigung gegenüber Ideologien und Extremen zieht sich durch Badertschers Politik hindurch.
Die offizielle Position ihrer Partei, keine Waffen an die Ukraine weiterzugeben, lehnt sie ab. «Klar bin ich gegen Kriegsmaterial. Aber in der aktuellen Situation müssen wir die Positionen überdenken.» Es könne nicht sein, dass man auch jetzt dagegen sei, nur weil man immer dagegen gewesen sei. «Die Meinung zu ändern, gilt als Schwäche in der Politik. Ich finde aber, dass das von Grösse zeugt.»
Demonstrationen findet sie zwar wichtig. «Aber mir selber ist es dort nicht wohl.» 2019 lief sie am Frauenstreik zuhinterst mit, weil sie die Forderungen wichtig fand. Dieses Jahr schaute sie nur kurz vorbei. «Die Art und Weise des Auftritts ist nicht meins.»
Immerhin schade der Frauenstreik nicht. Anders die Klimakleber*innen: «Die finde ich problematisch.» Sie würden viele Leute verärgern, «und dann heisst es wieder, das waren die Grünen.» Die wenigsten Menschen würden genau hinschauen, von wem welche Handlung ausgeht. «Gerade auf dem Land, wo die Leute generell skeptisch sind, ist das ein gefundenes Fressen.»
Gräben kitten
Badertscher verbringt viel Zeit damit, in Gesprächen mit der Bevölkerung die Risse zwischen Stadt und Land zu kitten. Etwa an Anlässen des Oberaargauer Bauernvereins oder den Grünen der Stadt Bern. Sie, die zwischen zwei Welten pendelt: Dem Parlament in der Stadt, und ihrer Heimat Madiswil. «Manchmal frage ich mich, ob die Leute auf dem Land und in der Stadt im gleichen Land leben, auf dem gleichen Planeten.» Nach Corona seien die Gräben tiefer geworden. Insbesondere zwischen den jungen Leuten. Zum Beispiel bei der Sprache: «In der Stadt gendern sie konsequent, auf dem Land macht das niemand.» Auch sie selbst nicht immer, «bewusst oder unbewusst.»
Diese Entwicklung, sagt Badertscher, mache ihr Sorgen. Es seien viele Vorurteile im Spiel. «Würden die Leute mehr miteinander reden, würden sie merken, dass die Differenz gar nicht so gross ist und die Probleme überall ähnlich sind.»
Diesen Sommer lud die Gemeindepräsidentin von Attiswil Badertscher ein, die 1. August-Rede zu halten. Ob sie spinne, eine Grüne einzuladen, da würde niemand kommen, wurde ihr gesagt.
Badertscher hielt die Rede trotzdem. Danach lobten sie sogar die kritischen Gemeinderät*innen. «Viele denken wohl, jessesgott, eine Grüne, ganz schlimm. Dann sehen sie eine leibhaftig und merken, wie normal wir sind.»
«Ich kann nicht mehr jeden Morgen am Bahnhof stehen und Flyer verteilen»
20'000 Franken gibt Christine Badertscher für ihren Wahlkampf aus. 5'000 Franken kosten die Haferflocken, der Rest fliesst in Inserate. Während der letzten vier Jahre legte sie jeden Monat was auf die Seite, dazu kommen Spenden. Vom Familienbudget will sie nicht zu viel abzwacken – denn mittlerweile hängt auch ein Kind von ihren Einkünften ab. 2020 kam ihr Sohn auf die Welt.
Auch wegen ihm sieht dieser Wahlkampf anders aus als der letzte. «Ich kann nicht mehr jeden Morgen am Bahnhof stehen und Flyer verteilen. Das geht nur noch dann, wenn mein Partner daheim ist.» Und anders als vor vier Jahren hat Badertscher etwas zu verlieren: ihren Sitz im Nationalrat.
Würde sie nicht wiedergewählt, fiele ein grosser Teil ihrer Alltagsaufgaben weg. Übrig blieben einige Mandate in Vorständen und Verwaltungsräten. Doch auch diese hätten wohl nicht lange Bestand, da die Organisationen wegen ihres Parlamentssitzes an Badertscher interessiert sind.
Gedanken, was sie stattdessen arbeiten würde, mache sie sich selten. Einen Job bei der Deza oder wieder bei Swissaid könnte sie sich vorstellen. «Aber mir würden die interessante Arbeit, der Gestaltungsspielraum und die Reisen fehlen, die ich als Parlamentarierin machen darf.»
Badertscher ist Mitglied der Delegation der Internationalen Parlamentarischen Union und der Delegation bei der parlamentarischen Versammlung der OSZE. Mehrmals pro Jahr reist sie an Konferenzen. «Als Grüne ist das natürlich heikel, da wir fliegen müssen, wenn die Konferenz ausserhalb Europas stattfindet.» Doch sie betont, wie wichtig sie den Austausch mit Parlamentarier*innen anderer Länder findet: «Die Treffen zeigen mir immer wieder, wie stark der Blick unseres Parlaments auf Europa zentriert ist.»
Am Tag nach den Wahlen wird Christine Badertscher an eine Konferenz der Internationalen Parlamentarischen Union nach Angola reisen. Auf ihren Lieblingskontinent. Mit dieser Aussicht könne sie ein allenfalls enttäuschendes Wahlresultat besser verkraften, sagt sie.