Inspiration vom Ende der Welt
Ein Hochhaus aus Holz, in dem so flexibel gewohnt und gearbeitet wird, als wäre es ein vertikales Dorf: Das ist die Vision, die Dan Hodler, Gründer der Quadrat AG, verfolgt.
Vor gut 12 Jahren war es, als Dan Hodler sich «eigentlich in das Gebäude an der Bernstrasse 178 verliebt hat», wie er sagt. Es handelte sich damals um eine dunkle, fensterlose, mehrstöckige Lagerhalle, beleuchtet von vier Fluoreszenzröhren, gelegen an der lärmigen Hauptstrasse von Zollikofen, die gemäss Verkehrszählungen täglich von 20’000 Autos befahren wird.
Ausgerechnet das ein Ort der Liebe – und erst noch in Zollikofen?
Dan Hodler lächelt: «Ich hatte keine Ahnung von Zollikofen.» 17 Jahre lang befand sich die Quadrat AG, das von ihm gegründete Secondhand-Geschäft für Designmöbel, in der hippen Länggasse. Als sein Mietvertrag auslief, wurde er auf die Lagerhalle in Zollikofen aufmerksam. «Das Potenzial des Gebäudes sah ich sofort», sagt er.
Der Geist von Zollikofen
Weil er es im Rohbau übernahm, blieb der Mietzins tief. Er steckte «etwa den Betrag, den man für ein Einfamilienhaus ausgeben müsste» in den Innenausbau, sicherte sich aber ab, indem er einen Mietvertrag auf 20 Jahre unterzeichnete. Das Quadrat mit seinen zwölf Mitarbeitenden entwickelte sich in Zollikofen zum multifunktionalen KMU – es blieb Designmöbel-Occasionshandel und Architekturbüro, wurde aber zusätzlich Reparaturwerkstätte, Restaurant, Eventlokal und Co-Working-Space.
Die Gastro-Schiene war jedoch eine «tolle, aber finanziell sehr schwierige Erfahrung», wie Dan Hodler findet. Man könnte sagen, dass sich das Quadrat am Charakter von Zollikofen verschluckte. Das Restaurant mitten in den Designermöbeln lief laut Dan Hodler über Mittag bestens, am Abend aber «sind Zollikoferinnen und Zollikofer extrem bernorientiert». Und dass jemand aus der Stadt zum Nachtessen nach Zollikofen hinausfährt? Ausgeschlossen. «Man müsste schon zehnmal mehr bieten.» 2019 gab das Quadrat das Restaurant auf.
Sechs Minuten dauert die Fahrt mit der S-Bahn von Bern nach Zollikofen, der Bus ins Wankdorf oder das Tram an den Europaplatz brauchen länger. Die mentale Distanz von Bern nach Zollikofen aber scheint um ein Mehrfaches grösser zu sein. Das Verkehrsmittel spiele eine entscheidende Rolle, glaubt Dan Hodler: «Vom Tram oder Bus auf den Zug umzusteigen, das ist ein grosser Schritt. Für viele ein zu grosser.»
Das bedeutet, dass sich «Zollikofen nicht am Ende der Stadt befindet, sondern am Ende der Welt», sagt Dan Hodler.
«Cradle to Cradle»
Ökonomisch gesehen hat das aber auch Vorteile. Dan Hodler formuliert es so: «Wir sind zufrieden, wie das Quadrat hier läuft. Aber ich bin sicher, im Breitenrain oder in der Länggasse würde es ganz krass brummen.» Allerdings: Es müsste dort auch ganz krass brummen, um die horrenden Mietkosten wieder einzuspielen. «Die Möglichkeiten, die wir in Zollikofen haben, hätten wir in der Stadt nicht», sagt der Quadrat-Gründer.
Mit Möglichkeiten meint er auch unternehmerischen Spielraum: Dafür, weit in die Zukunft denken und sich für Dinge engagieren zu können, die der Zeit voraus sind. Zum Beispiel für die Kreislaufwirtschaft. «Wir wollen da vorne dabeisein», sagt Dan Hodler. Gerade exponiert sich Quadrat dafür, dass dieses Denken in der lokalen Baubranche Fuss fasst und ein Netzwerk entsteht.
«Cradle to Cradle» oder abgekürzt C2C heisst das Prinzip, auf deutsch: von der Wiege zur Wiege. Gemeint ist damit ein Grundsatz: Es soll so gebaut werden, dass die verwendeten – möglichst lokalen – Materialien nach dem Ende des Lebenszyklus eines Gebäudes wieder verwendbar sind für den Bau des nächsten Hauses.
Viel Sondermüll
«C2C ist für uns nicht einfach ein modisches Label, das wir uns anheften», hält Dan Hodler fest. Im Grunde genommen sei C2C eine griffige Formel für das, was das Quadrat seit jeher mache: Wiederverwenden, mit Monomaterialien bauen, das richtige Material am richtigen Ort verwenden.
Weltweit falle 60 Prozent des Abfalls im Baugewerbe an, deshalb «haben wir in unserer Branche einen mächtigen Hebel». Allerdings reiche es bei weitem nicht, einfach auf den CO2-neutralen, einheimischen Rohstoff Holz zu setzen. «Es gibt Holzbau und Holzbau», präzisiert Dan Hodler.
Im konventionellen Holzrahmenbau werden grossflächig verleimte Platten verwendet, die nach dem Rückbau als Sondermüll entsorgt werden müssen: «Am Ende des Lebenszyklus kann praktisch nichts wiederverwendet werden.» Anders bei C2C: Das verwendete Massivholz wird nicht verklebt, sondern verdübelt, so dass es Jahrzehnte später wieder getrennt und recycelt werden kann.
2015 hat das Quadrat zusammen mit der Emmentaler Zimmerei Hirschi/Truberholz drei Reiheneinfamilienhäuser in Leissigen am Thunersee weitgehend nach diesem Prinzip realisiert. Aber hat der C2C-Ansatz das Potenzial, über einzelne Objekte hinaus im grösseren Stil angewendet zu werden?
Holz-Hochhaus in Ostermundigen
Das Quadrat selber will sich diesem Realitätstest stellen. In Ostermundigen. Dan Hodler besitzt dort Boden, direkt am Bahngeleise, unmittelbar neben dem Bürogebäude, in dem sich das Regierungsstatthalteramt befindet. Eine von der Gemeinde durchgeführte Testplanung ergab, dass es exakt auf diesem Grundstück angebracht wäre, einen herausragenden, weithin sichtbaren städtebaulichen Akzent zu setzen. In Form eines Hochhauses.
Diesen Akzent möchten Dan Hodler und seine Crew mit dem Werkstadthaus setzen. Sie verstehen darunter: Ein möglichst konsequent nach den Prinzipien von C2C gebautes Holzhochhaus, das nicht nur bauliche und ökologische, sondern auch soziale Innovationen anstrebt. «Wir legen das Werkstadthaus auf eine Lebensdauer von über 100 Jahren aus», sagt Hodler, «aber wer weiss heute schon, wie die Menschen dannzumal wohnen werden?» Bedeutet: Das Haus muss so gebaut werden, dass maximale Flexibilität bei der Nutzung möglich ist.
Das vertikale Dorf
Im Werkstatthaus soll dereinst nicht nur gewohnt, sondern auch gearbeitet, debattiert, nachgedacht und gefeiert werden. Die von Balkonen ummantelte Fassade soll begrünt sein. Hodler kann sich zum Beispiel vorstellen, dass «wir Gruppen von Leuten finden, die gemeinsam einen ganzen Stock mieten. Raumaufteilung und Innenausbau planen sie in eigener Regie, und in der Schreinerei in den unteren Stockwerken können die Ideen umgesetzt werden». Gemäss dem C2C-Prinzip kann Jahre oder Jahrzehnte später alles rückgebaut und neuen Bedürfnissen angepasst werden.
«Ich stelle mir das Werkstadthaus als vertikales Dorf vor, das sich mit den Menschen, die in ihm leben, verändert und weiterentwickelt», sagt Dan Hodler.
Eine Utopie? Nicht, wenn man ihm zuhört.
Das Quadrat hat mit dem Architekturbüro SSA aus Basel und dem Holzingenieurbüro Pirmin Jung aus Sursee renommierte Partner ins Boot geholt. Das Qualitätsteam der Regionalkonferenz, das zu allen Bauprojekten für Häuser über 30 Meter Höhe zwingend seinen Segen geben muss, hat das Werkstadthaus bereits grundsätzlich gutgeheissen. Die Gemeinde Ostermundigen arbeitet zur Zeit die Überbauungsordnung für den Perimeter aus. Von einer allfälligen Fusion mit der Stadt Bern wird das Projekt nicht tangiert. Für 2024 rechnet Dan Hodler damit, dass das Baugesuch bearbeitet wird. Im Idealfall könnte 2025 der Bau beginnen.
Das muss ja fast die nächste Liebe sein.
Impulsveranstaltung zu «Cradle to Cradle»: Heute Donnerstag abend zum Thema Wiederverwenden anstatt Abfall – die Bauteilbörsen. Quadrat, Bernstrasse 178, Zollikofen. 18 Uhr Türöffnung, 18.30 Uhr Podiumsdiskussion, ab 19.15 Uhr Fragen, Diskussion, Netzwerk an der Bar. Eintritt frei. Das Quadrat veranstaltet monatlich C2C-Impuls-Events.