Das Geschäft mit dem Klassenfoto
Der Verkauf von Klassenfotos gehört wie selbstverständlich zum Schulalltag. Unser Philosophie-Kolumnist fragt sich, was das mit unserem Verständnis von bürgerlicher Gleichheit macht.
Meine Tochter besucht seit dem vergangenen Sommer eine Basisstufe in Bern. Letztens war eine Fotografin da. Vor einigen Tagen hat meine Tochter dann eine Postkarte mit ihrem Porträt und dem Klassenfoto in kleiner Vorschau mit nach Hause mitgebracht. Auf der Postkarte findet sich ein QR-Code, mit dem man direkt zur Bestellseite im Internet gelangt.
Alles sehr professionell. Auch die Preise. Das Porträtfoto im kleinsten 13x18-Format kostet 19 Franken, das Klassenfoto immerhin nur 14 Franken. Aber dabei bleibt es nicht. Mit dem Klassenfoto bedruckt lassen sich eine Tasse, ein Thermobecher, eine Kochschürze oder ein Kissenbezug im Preissegment zwischen 29 und 33 Franken ordern.
Noch grösser (und teurer) ist die Auswahl beim Porträtfoto: Bei den Fotosets ist der Einstieg «Mini» mit Porträt, zwölf Kleinporträts und Klassenfoto für 44 Franken zu haben, der «Standard» kostet 48 Franken, «Variety» dann schon 52 Franken. Die Fotosets «Top» und – nomen est omen — «Class» schlagen mit 58 und 68 Franken zu Buche.
Dazu kommen diverse andere Produkte wie Poster, Kalender, Magnete oder Becher. Es ist sehr seltsam, diese bunte Produktewelt gemeinsam mit dem eigenen Kind, dessen Gesicht einem auf einer Internetseite mit Tassen und Aufstellern entgegenblickt, anzuschauen. Mich hat dieses digitale Kaufangebot zunächst traurig und nach einiger Zeit auch ein wenig besorgt gemacht.
Fotoateliers müssen überleben können
Eins vorweg: Es geht mir nicht darum, das Geschäftsmodell von Fotoateliers in Frage zu stellen. Ich kenne Menschen, die mit der Fotografie ihr Brot verdienen und weiss, wie schwer dieser Beruf geworden ist. Vor allem seitdem alle eine Kamera in der Tasche mittragen und mit wenigen Klicks ihre Handyfotos aufhübschen können. Es ist gut, dass es das Handwerk der Fotografie gibt, und Fotograf*innen sollten für ihre Arbeit anständig bezahlt werden. Auch kenne ich mich mit den wirtschaftlichen Aspekten des Fotografie-Metiers nicht genügend aus, um einschätzen zu können, ob 68 Franken für das Fotoset «Class» viel zu viel, genau richtig oder vielleicht sogar ein Schnäppchen sind.
Ich weiss aber, dass es auch in der Schweiz Familien gibt, für die das auf jeden Fall sehr viel Geld ist. Familien, für die selbst die 44 Franken für das «Mini»-Set eine bedeutende Ausgabe darstellen. Familien, die sich vielleicht nicht mehr als das Klassenfoto leisten können.
Nun leben wir in einem freien Land, wird man sagen, und kein Mensch ist gezwungen, irgendwelche teuren Fotosets zu kaufen. Das stimmt natürlich, und ich habe nichts dagegen, dass Fotoateliers Porträtsets anbieten, deren Preise – ganz ähnlich wie bei Smartphones – so geschickt gestaffelt sind, dass bei den Kund*innen der Eindruck entsteht, dass es sich auf keinen Fall lohnt, das günstigste Set zu wählen. Das mag Manipulation sein, aber eben: Wir leben in einem freien Land, in dem wir permanent auf die ein oder andere Weise in irgendwelche Kaufhandlungen hineinmanipuliert werden.
Die Schule als Ort der Gleichheit
Mich verstört lediglich, wenn das alles im schulischen Rahmen stattfindet, weil ich glaube, dass auf diese Weise wichtige Funktionen des Schulbesuchs zumindest auf symbolischer Ebene konterkariert werden. Kinder sollen in die Schule gehen, aber nicht nur, um Schulstoff zu lernen. Viele denken, dass der Schulbesuch wichtig ist, weil man nur so als erwachsene Person an einen guten Beruf kommt. Aber die Schule ist nicht nur dafür da, um aus kleinen Menschen erfolgreiche Arbeitnehmer*innen zu machen.
Einer der wichtigsten Zwecke des Schulbesuchs und der Grund, weshalb er obligatorisch ist, besteht darin, gleiche Chancen herzustellen. Damit zusammenhängend lehrt uns die Schule, uns als Gleiche und unter Gleichen zu verorten und einen angemessenen Umgang mit Menschen zu finden, mit denen wir vielleicht sonst gar nicht zu tun haben würden.
In dieser Hinsicht ist die Institution der Schule auch ein Ort, an dem zur Demokratie erzogen wird. Das Ideal der Gleichheit aller Bürger*innen und Bürger ist in schulischen Strukturen fest verankert und kommt etwa dadurch zum Ausdruck, dass keine Schülerin und kein Schüler bevorzugt behandelt wird, dass Noten nach unparteilichen Kriterien vergeben werden und dass die Meinungen aller Schüler*innen gleichermassen ernst genommen werden.
Gleichheit fordert Respekt. Das lehrt uns der Schulbesuch im besten Sinne eben auch, und es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, wie dramatisch die Folgen für eine demokratische Gesellschaft wären, wenn dieser Lerneffekt ausbleiben sollte.
Ist Gleichheit nicht eine Illusion?
Man mag nun einwenden, dass es illusorisch sei, auf Gleichheit in der Schule zu pochen. Die Ungleichheit, die darin besteht, dass einige Familien sich bestimmte Fotosets leisten können, andere aber nicht, sei nur eine relativ belanglose Facette der Tatsache, dass ökonomische Ungleichheiten nun mal bestehen.
Diese Ungleichheiten kommen permanent zum Vorschein, egal ob es um die Hobbys unserer Kinder geht, die Ferienorte, an die sie fahren oder die Kleider, die sie tragen. Das stimmt zwar, aber die Tatsache der ökonomischen Ungleichheit in unserer Gesellschaft sollte kein Grund dafür sein, dass die Schule diese Ungleichheit weiter befördert. Vor allem, wenn sie, wie ich argumentiert habe, eine ihrem Wesen nach egalitäre Einrichtung ist.
Während ich mich durch das Angebot der Fotofirma geklickt habe, musste ich unwillkürlich an meine eigenen Erfahrungen als Ausländerkind in der BRD der 80er-Jahre denken. Auch in Deutschland ist nämlich der Besuch von Fotograf*innen Bestandteil der schulischen Folklore.
Als ich zum ersten Mal abgelichtet wurde, war meine Familie gerade seit wenigen Monaten im Westen angekommen. Irgendwann vor Weihnachten habe ich eine Mappe mit dem Klassenfoto und meinem Porträt in verschiendenen Grössen und Ausführungen mit nach Hause gekriegt. Ich weiss nicht mehr, wie hoch der Betrag war, den meine Eltern dafür bezahlen sollten, aber ich weiss, dass ihnen die Ausgabe Kopfzerbrechen bereitet hat. Und ähnlich ist es wohl vielen anderen Familien mit Migrationshintergrund gegangen.
Einige meine Mitschüler*innen haben sich Sticker mit ihrem Foto auf ihre Frühstücksbox geklebt. Meine Eltern haben zwar das ganze Set gekauft, aber es wäre uns nicht in den Sinn gekommen, den Aufkleber für einen so banalen Zweck zu verwenden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich nach all den Jahren das ganze Fotoset irgendwo in einer Schublade meiner Eltern immer noch unangetastet finden könnte. Immerhin haben wir die Fotomappe nicht zurückgeben müssen. Ich mag mir die Scham nicht vorstellen, mit der ich die Fotos unserem Klassenlehrer hätte zurückgeben müssen.
Professionalität oder Kommerzialisierung?
Es ist schon mal löblich, dass meine Tochter keine fertigen Produkte mit nach Hause bekommen hat. Um bei Kindern keine falschen Erwartungen zu wecken, hätte man allerdings besser die Vorschaufotos und den QR-Code den Eltern direkt zustellen können. Es ist ja heutzutage nicht so schwierig, einen Kommunikationsweg für solche Anliegen zu finden.
In einer Hinsicht war die Situation in der Bundesrepublik der 80er-Jahre dann aber doch angenehmer als unsere Erfahrung in Bern vor einigen Tagen: Die Fotos wurden damals von einem Fotografen angefertigt, der ein kleines Atelier in unserem Stadtteil hatte. Später stand ich für Passfotos aller Art noch öfter vor seiner Kamera. Man kannte sich, man grüsste sich beim zufälligen Treffen im Supermarkt.
Meine Tochter wurde dagegen von der Angestellten einer Fotofirma abgelichtet. Der Webauftritt der Firma, der Bestellprozess, das Angebot – all das wirkt, wie eingangs schon erwähnt, sehr professionell. Es mag seltsam sein, sich über Professionalität zu beklagen, aber zwischen Professionalität und Kommerzialisierung verläuft oft nur ein schmaler Grat. Vielleicht hätte mich die ganze Episode nicht so verstört, wenn das Klassenfoto von einem kleineren lokalen Atelier produziert worden wäre, wie es an anderen Berner Schulstandorten passiert.
Dann wäre der Kontrast zum Wert der Gleichheit, der für mich zum Wesen der Schule gehört, nämlich nicht so krass ausgefallen. Es ist verständlich, dass Firmen Geld verdienen wollen. Es ist nicht zu ändern, dass sie das mit mehr oder weniger aggressiven Mitteln machen. Das ist nun mal die Welt, in der wir leben.
Umso wichtiger scheint mir aber, darauf zu achten, dass der schulische Bereich und die Sphäre, in der das Primat der Gewinnmaximierung herrscht, nach Möglichkeit voneinander getrennt bleiben.
Christian Budnik ist Philosoph. Er verbrachte seine ersten Lebensjahre in Polen, emigrierte dann mit seiner Familie nach Deutschland und lebt nun seit 15 Jahren in Bern.