Mord verjährt. Oder doch nicht?

Der Berner Regierungsrat unterstützt eine Vorlage, nach der Mord nicht mehr verjähren soll. Unser Philosophie-Kolumnist fragt sich, was es mit Verjährungsfristen auf sich hat und wie sie zu rechtfertigen sind.

Illustration für die Philo Kolumne
(Bild: Silja Elsener)

Wie letzte Woche bekannt wurde, unterstützt der Berner Regierungsrat die Vorlage zur Standesinitiative des Kantons St. Gallen, in der gefordert wird, dass Mord in Zukunft zu den unverjährbaren Straftaten zählt. Bislang gilt für Mord und andere Straftaten, die mit lebenslangen Haftstrafen geahndet werden, eine Verjährungsfrist von dreissig Jahren.

Die politische Diskussion um eine Anpassung der Verjährungsregelungen ist komplex und wird seit einigen Jahren rege geführt. Doch was sind eigentlich die Gründe dafür, dass Verbrechen überhaupt verjähren? 

Diese Frage ist wichtig, weil es sich nicht von selbst versteht, dass ein Verbrechen verjähren kann. Die moralischen Pflichten, auf denen Gesetze beruhen, kennen kein Verfallsdatum: Wenn es falsch war, dass ich gestern am Bahnhof ein Velo geklaut habe, dann ändert sich an dieser Falschheit nichts dadurch, dass eine bestimmte Zeitspanne verstrichen ist. Und ein Verbrechen bleibt ein Verbrechen, egal ob es vor einer Woche oder vor einem Jahrhundert begangen wurde. 

Dass ein Verbrechen verjährt, bedeutet entsprechend nicht, dass es aufhört, ein Verbrechen zu sein, sondern dass es nicht mehr verfolgt wird, dass es zu keiner Anklage kommen oder keine Verurteilung erfolgen kann. 

Die Gründe für eine Verjährung lassen sich im Wesentlichen in zwei Gruppen einteilen. Zum einen kann der Aspekt der Stabilität und der Rechtssicherheit im Fokus stehen. Potentiell angeklagte Parteien haben etwa ein Interesse daran, nicht endlos mit der Androhung einer Klage leben zu müssen. Es kann sehr belastend sein, jahrzehntelang mit einem juristischen Damoklesschwert über dem Haupt zu leben. Die Verjährung soll hier eine Art inneren Frieden bei der potentiell angeklagten Person ermöglichen. 

Sie kann auch einen reformerischen Effekt haben: Verbrecher*innen, die nach Jahren ein neues Leben in Gesetzestreue angefangen haben, werden dieses Leben nicht leichtfertig durch erneute Gesetzesübertretungen aufs Spiel setzen, wenn sie wissen, dass sie mit ihrem alten Leben wirklich abschliessen können.

Wir alle sind potentiell Angeklagte

Nun könnte man sich fragen, warum wir uns ausgerechnet um den inneren Frieden von Verbrecher*innen kümmern sollten. Haben sie mit dem Verbrechensakt nicht (mindestens) ihren Anspruch auf Seelenruhe verspielt? 

An dieser Stelle muss man bedenken, dass eine Verjährungsfrist nicht nur Verbrecher*innen schützt. Wir alle sind potentiell Angeklagte, und selbst die Unschuldigen unter uns könnten irrtümlich verurteilt werden. In dieser Hinsicht profitieren alle mündigen Personen davon, dass in einer bestimmten Zeit juristisch klare Verhältnisse geschaffen werden. Das gilt sogar für Menschen, die als Zeug*innen vor Gericht aussagen könnten und ebenfalls ein Interesse daran haben, nicht beliebig lange mit dieser Aussicht leben zu müssen.

Ein anderer Aspekt der Argumentation, die auf Sicherheit und Stabilität abzielt, betrifft die Tatsache, dass bestimmte (potentielle) Verbrechen nach einigen Jahren oder Jahrzehnten Zustände erzeugen, auf die Personen sich in ihren Handlungen zu verlassen beginnen. 

Es kann etwa sein, dass eine Person sich auf juristisch undurchsichtige Weise ein Grundstück angeeignet hat, auf dem sie eine Gärtnerei zu betreiben beginnt. Mit jedem Jahr, das vergeht, wird die Erwartung dieser Person stärker und stärker, dass sie auch weiterhin ihre Gärtnerei wird betreiben können. Und diese Erwartung ist die Grundlage dafür, dass sie den Betrieb immer weiter ausbaut oder neue Mitarbeiter*innen anstellt. 

Auch hier ist es wichtig, dass die entsprechenden Erwartungen nicht permanent durch einen Prozess durchkreuzt werden können, in dem die Frage der ursprünglichen Aneignung des Grundstücks geklärt wird. Eine Verjährungsfrist kann in solchen Fällen wiederum helfen, rechtzeitig juristische Klarheit zu schaffen.

Unser Interesse an geklärten Verhältnissen 

Von hier aus ist es nicht mehr weit zu der These, dass Verjährungsfristen uns allen zugutekommen, vor allem wenn es um im weitesten Sinne ökonomische Abläufe geht. Als Gesellschaft haben wir ein kollektives Interesse daran, dass alle Gesellschaftsmitglieder ihre Ressourcen auf eine optimale Weise einsetzen. 

Weil Menschen aber allzu grosse Risiken vermeiden wollen, ist davon auszugehen, dass dieses Ziel nur dann erreicht werden kann, wenn Personen davon ausgehen können, dass die Ressourcen, die sie zu diesem oder jenem Zweck einsetzen, auch wirklich ihre eigenen Ressourcen bleiben werden.

Und noch allgemeiner: Ein Zustand, in dem jede Person jederzeit mit allen möglichen Sorten von rechtlichen Forderungen rechnen muss, erzeugt eine Unsicherheit, die auf die eine oder andere Weise alle Personen, auch diejenigen, die an potentiellen Gesetzesübertretungen gar nicht beteiligt sind, in entscheidenden Hinsichten lähmt. Verjährungsfristen, so das Argument, können helfen, diese Unsicherheit zu mindern. 

Die zweite Gruppe von Argumenten, die für Verjährungsfristen sprechen, hat eher einen pragmatisch-prozeduralen Charakter. Es ist beinahe selbstverständlich, dass wir Justizirrtümer vermeiden wollen. Das ist in dem Masse möglich, in dem es sich bei den Beweisen, die in Gerichtsprozessen eine Rolle spielen, um gute, d.h. den Tatsachen entsprechende und aussagekräftige Beweise handelt. Hier kann geltend gemacht werden, dass der Faktor der Zeit einen negativen Einfluss auf die Qualität von Beweisen hat. Anders gesagt: Die Beweislage ist in dem Masse besser, in dem die Beweise in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu dem in Frage stehenden Vorgang gesammelt wurden.

Verblassende Erinnerungen

Es sind dabei nicht nur Spuren, die innerhalb kurzer Zeit verwischen können. Typischerweise kommt in Gerichtsprozessen den Aussagen von Augenzeug*innen ein grosses Gewicht zu. Die Qualität von Augenzeug*innenberichten hängt allerdings davon ab, wie gut sie sich an die betreffenden Vorfälle erinnern, und wir wissen aus eigener Erfahrung, dass Erinnerungen mit der Zeit verblassen und unzuverlässiger werden. 

In diesem Zusammenhang kann argumentiert werden, dass man die Zuverlässigkeit von Beweisen durch die Einführung von Verjährungsfristen erhöhen kann, weil potentiellen Kläger*innen dadurch ein Motiv gegeben wird, sich möglichst schnell um eine Klage und die Sicherung von Beweisen zu kümmern.

Der Fokus auf der Beweisqualität spielt in der Argumentation für Verjährung sehr oft die zentrale Rolle. Gleichzeitig ist diese Argumentation aber nicht unproblematisch. Nehmen wir nur den Punkt mit der Erinnerung von Augenzeug*innen. Es ist empirisch bestätigt, dass unsere Erinnerungen nicht kontinuierlich schlechter werden. Nach zwanzig Minuten erinnern wir uns noch an etwa 60 Prozent der Dinge, die wir erlebt haben, nach neun Stunden an weniger als 40 Prozent. Danach nimmt die Vergessensrate immer mehr ab, und nach einem Monat erinnern wir uns immerhin noch an etwa 25 Prozent des Erlebten. 

Bewegen wir uns weiter in die Zukunft, werden die Unterschiede noch marginaler. Da Verjährungsfristen typischerweise in der Region von Jahrzehnten angesiedelt sind, macht es vor diesem Hintergrund nur wenig Sinn, für Verjährung mit dem drohenden Verlust von Erinnerungen zu argumentieren: Woran ich mich nach dreissig Jahren erinnere, ist kaum mehr als das, woran ich mich nach einundreissig Jahren erinnern kann.

Verbesserte Beweislage

Mehr noch: Die Beweislage ist manchmal nicht nur nicht schlechter, sie kann mit der Zeit sogar besser werden. Es ist dieser Aspekt, der eine wichtige Rolle in der Begründung des Regierungsrats zu spielen scheint, denn es wird dort darauf verwiesen, dass man heutzutage mit modernen kriminologischen Technologien Straftaten über einen viel längeren Zeitraum nachweisen kann als noch vor wenigen Jahrzehnten. 

Hier haben wir es also tatsächlich mit einer Entwicklung zu tun, durch die das Verstreichen der Zeit die Beweislage verbessert hat, ganz einfach weil sich die Randbedingungen der Beweisaufnahme und -auswertung verändert haben. Die Argumentation über die Beweisqualität taugt demnach nur bedingt zur Stützung der Verjährungspraxis. Zumindest spricht sie nur in manchen Sorten von Straftaten für die Verjährung.

Gegen die Verjährung spricht die eingangs angesprochene zeitlose Natur von Fehlverhalten und die Tatsache, dass Opfer von Verbrechen (und ihre Angehörigen) prinzipiell einen zeitlosen Anspruch darauf haben, dass das Verbrechen zumindest anerkannt wird.

Ist angesichts der Beweislage ein fairer Prozess möglich, muss also die Perspektive der Opfer gegen das oben thematisierte Bedürfnis abgewogen werden, langfristige juristische Unsicherheiten zu minimieren. Gerade bei Mord scheint es sich um eine Straftat zu handeln, die hinreichend selten ist, um den Aspekt der Sicherheit weniger stark zu gewichten als den Wunsch der Angehörigen nach einer Aufklärung: Es steht nicht zu erwarten, dass besonders viele Menschen in ihrem Handeln gelähmt sein werden, weil sie sich nicht sicher sind, ob sie nicht in dreiunddreissig Jahren des Mordes angeklagt werden. 

Strafbedürfnis der Bevölkerung?

Ein letztes Wort: Oft wird in diesem Zusammenhang – so auch in der Begründung des Regierungsrats – vom «Strafbedürfnis der Bevölkerung» als Ganzer gesprochen und darauf hingewiesen, dass es im Fall von Mord keinesfalls mit der Zeit abnehmen würde. Das mag vielleicht richtig sein, gerade wenn man eine schwere Straftat wie Mord mit Übertretungen vergleicht, für die man lediglich mit einer Busse geahndet wird und die nicht selten auch von den Personen, die sich der Übertretung schuldig gemacht haben, schnell vergessen werden. 

Gleichzeitig scheint mir das Strafbedürfnis im Rahmen einer Rechtfertigung von Verjährung viel zu willkürlich: Es ist in vielen Fällen nicht klar, wonach «die Bevölkerung» ein Bedürfnis hat. Kollektive Bedürfnisse dieser Art verändern sich zudem viel zu schnell, als dass wir die Frage der Verjährung davon abhängig machen sollten. Will man dafür plädieren, dass Mord nicht verjährt, ist man auf solche Argumente nicht angewiesen.

Christian Budnik posiert im Büro der Hauptstadt für ein Portrait, fotografiert am 03. März 2022 in Bern.
Zur Person

Christian Budnik ist Philosoph. Er verbrachte seine ersten Lebensjahre in Polen, emigrierte dann mit seiner Familie nach Deutschland und lebt nun seit 15 Jahren in Bern.

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