Erben oder nicht erben
Materielle Ungleichheiten nehmen global zu. Unser Philosophie-Kolumnist fragt sich, welchen Anteil daran das Vererben von Eigentum hat. Und ob wir diese Praxis weiter einschränken sollten.
Ich werde gar nichts erben. Mit «gar nichts» meine ich nicht, dass meine Eltern mir zu einem Zeitpunkt, der hoffentlich noch weit in der Zukunft liegt, nichts hinterlassen werden. Ganz im Gegenteil. Als Ausländerfamilie sind wir es gewöhnt, Dinge erst dann wegzuschmeissen, wenn es absolut notwendig ist. Alte T-Shirts lassen sich zum Fensterputzen verwenden. Kinderspielzeug wird aufbewahrt, auch wenn aus Kindern Erwachsene geworden sind. Und Bücher sind ohnehin keine Gebrauchsgegenstände, die man einfach weitergibt, wenn man sie ausgelesen hat. Was ich damit meine ist, dass ich keine Immobilien, kein Grundstück oder irgendein nennenswertes Vermögen erben werde. Weder von meinen Eltern noch von anderen Menschen.
Eine Frage der Gerechtigkeit
Für eine lange Zeit in meinem Leben ist mir dieser Umstand gar nicht bewusst gewesen. Ich habe mich nicht als jemand verstanden, der nichts erben wird, genauso wenig, wie ich mich als jemand verstehe, der nicht zum Mond fliegen oder niemals Opernarien singen wird.
Erst seit einigen Jahren wird mir klarer, dass es sich beim Erben um einen der zentralen Mechanismen unserer spätkapitalistischen Gesellschaft handelt. Vielleicht hat das damit zu tun, dass mir in der Schweiz mehr noch als in Deutschland immer wieder Menschen begegnen, deren materielle Situation sich durch ein Erbe spürbar verbessert hat oder verbessern wird.
Ich gehöre nicht zu denjenigen, die sich daran irgendwie stören würden. In der Debattenlandschaft der politischen Philosophie begegnet mir aber immer häufiger die Frage, ob es denn gerecht ist, wenn einige von uns bedeutende materielle Güter erben, andere aber gar nichts?
Dass diese Frage zurzeit sehr rege von Philosoph*innen diskutiert wird, mag daran liegen, dass wir in einem Zeitalter extremer materieller Ungleichheiten leben und der Mechanismus des Erbens einen immer grösseren Beitrag zum Entstehen dieser Ungleichheiten leistet.
Laut einer Studie der Bank UBS haben neue Milliardäre im Jahr 2022 weltweit zum ersten Mal mehr Vermögen geerbt, als sie sich selbst erarbeitet haben: 84 neue Selfmade-Milliardäre haben insgesamt ein Vermögen von 141 Milliarden Dollar erwirtschaftet, während 53 neue Milliardäre einen Gesamtbetrag von 151 Milliarden Dollar geerbt haben.
Selbst wenn wir nicht von Superreichen dieser Art reden, scheint die Praxis des Vererbens eine der Ursachen dafür zu sein, dass global immer weniger Menschen immer mehr besitzen, während die überwältigende Mehrheit ums materielle Überleben kämpfen muss.
Eigentum als Bedingung von Freiheit
Sollten wir das Erbe also einschränken oder die Praxis gar vollständig abschaffen? Das traditionell wichtigste Argument gegen solche Schlussfolgerungen geht vom Begriff des Privateigentums aus.
Dinge zu besitzen, so die Grundidee, ist eine der zentralen Bedingungen von Freiheit. Wenn mir nichts gehört, befinde ich mich permanent in einer Situation der Abhängigkeit und Unsicherheit: Es kann ja sein, dass jemand das Auto, mit dem ich morgen zur Arbeit fahren möchte, gerade dringender braucht. Es kann sein, dass ich nächsten Monat in eine andere Stadt ziehen muss, weil das Haus, in dem wir wohnen, einem wichtigeren Bauprojekt weichen muss. Wenn mir das Auto in der Tiefgarage oder das Haus, in dem ich lebe, wirklich gehören, sind solche unangenehmen Szenarien ausgeschlossen. Ich habe dann meine Zukunft selbst in der Hand und kann sie frei gestalten.
Als nächstes kann argumentiert werden, dass man mit Dingen, die einem wirklich gehören, machen kann, was man will. Was sollte es auch sonst heissen, dass sie einem «wirklich» gehören? Das bedeutet unter anderem, dass man die Dinge, die einem gehören, anderen Leuten schenken kann. «Dieser Füllfederhalter gehört mir, aber ich darf ihn dir nicht schenken», hört sich zumindest etwas seltsam an.
Wenn man einmal zugestanden hat, dass zu Besitzrechten auch das Recht gehört, eigene Dinge zu verschenken, muss man nur noch argumentieren, dass Vererben eine Art des Verschenkens darstellt, nur eben mit dem Unterschied, dass die schenkende Person erst gestorben sein muss.
Auf diese Weise lässt sich von der Freiheit übers Privateigentum bis hin zum Erben ein argumentativer Bogen spannen, der darauf hinausläuft, dass Einschränkungen der Erbpraxis moralisch problematisch sind, weil sie unsere Freiheit untergraben.
Viele, die dieser Argumentation zustimmen, würden entsprechend jede Einschränkung des Rechts, Vermögen zu vererben, als eine Form von Ungerechtigkeit verstehen. Warum sollten wir etwa Erbschaftssteuern gutheissen, liesse sich dann fragen, wo doch das Vermögen, das wir vererben möchten, uns gehört und wir zudem in der Regel bereits Steuern darauf entrichtet haben?
Eigentumsrechte sind nie absolut
Der deutsche Philosoph Stefan Gosepath, der sich in der jüngsten Zeit – mit gewissen Einschränkungen – für eine generelle Abschaffung der Praxis des Vererbens von Eigentum ausgesprochen hat, macht an dieser Stelle auf den folgenden Punkt aufmerksam: Eigentumsrechte gelten nie völlig ohne Einschränkungen. Jede Auffassung von Privateigentum, die darauf hinausläuft, dass Personen absolute Verfügungsgewalt über ihr Eigentum haben, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Als Beispiel fügt er bauplanungsrechtliche Einschränkungen an. Selbst wenn mir ein Haus in der Berner Altstadt gehört, heisst das noch nicht, dass ich es abreissen und durch ein Hochhaus ersetzen kann. Das mag ein extremes Beispiel sein, aber Gosepaths Punkt ist ein genereller: Eigentumsrechte zu haben, bedeutet nicht, dass man alle möglichen Rechte bezüglich des Eigentums hat, sondern es müssen auch öffentlich-kollektive Erwägungen berücksichtigt werden.
Das bedeutet, dass es zumindest keine Selbstverständlichkeit ist, dass eine Gesellschaft, in der Privateigentum garantiert ist, uneingeschränkte Erbrechte zulassen muss. Genauso wie im Fall von baurechtlichen Einschränkungen muss jeweils überlegt werden, was dafür oder dagegen spricht, dass man das Vererben von Eigentum in bestimmten Kontexten ermöglicht. Oder in welchem Ausmass dies angemessen wäre. Anders gesagt: Man muss nicht die Konzeption des Privateigentums in Frage stellen, um für Einschränkungen der Erbpraxis zu plädieren.
Das Ideal der Chancengleichheit
Die Argumente, die für solche Einschränkungen sprechen, beziehen sich meist auf einen Wert, der in den meisten Debatten der politischen Philosophie als eine Art Gegenpol zum Wert der Freiheit verstanden wird – den Wert der Gleichheit. Wird Privateigentum (ohne Einschränkungen) vererbt, so die Argumentation, dann untergräbt das verschiedene Formen der Gleichheit zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft. Das hier gemeinte Gleichheitsideal kann im Sinne einer demokratischen Gleichheit zwischen Bürger*innen oder alternativ als Abwesenheit von sozialer Ausgrenzung gemeint sein.
Besonders plausibel ist die Argumentation aber, wenn es um das Ideal der Chancengleichheit geht. Dieses Ideal fordert, dass Personen, die ähnliche Talente und Fähigkeiten haben, ähnlich viel aus ihrem Leben machen können sollten. Eine Person, die etwa dasselbe musikalische Talent hat wie eine andere Person und ähnlich viel Energie einsetzt, um es zu vervollkommnen, sollte nicht weniger Aussichten auf eine Karriere im Orchester haben, nur weil sie aus einer sozial marginalisierten Gruppe stammt.
Der entscheidende Punkt ist nun, dass Wohlstand in unseren Gesellschaften gleichbedeutend mit Chancen ist. Und wenn die Praxis des Vererbens von Eigentum die Wohlstandsunterschiede zwischen Mitgliedern einer Gesellschaft vergrössert – was sie zweifellos tut – dann bedeutet dies, dass diese Praxis in einem Spannungsverhältnis zum Ideal der Chancengleichheit steht.
Eine Person, die ein bedeutendes Vermögen erbt, hat in unserer Gesellschaft einfach die besseren Chancen, genau das aus ihrem Leben zu machen, was sie daraus machen möchte, als Personen, die nichts erben werden. Und eben das lässt sich als ungerecht betrachten.
Immaterielle Erbschaften?
Gerade wenn es um grosse Vermögenswerte geht, leuchtet diese Argumentation sofort ein. Selbst die Aussicht auf kleinere Erbschaften kann Personen von dem nagenden Gefühl der materiellen Unruhe befreien, das manche von uns zeitlebens mit sich herumtragen – ein Gefühl, das bewirkt, dass wir Dinge, die wir vielleicht gerne machen würden, gar nicht erst in Betracht ziehen, weil sie uns zu risikoreich vorkommen. Auf diese Weise können Personen Gelegenheiten verpassen, wichtige oder auch nur interessante Lebenspläne zu realisieren. Das ist zumindest problematisch. Und dennoch hadere ich selbst mit der Forderung nach einem Abschaffen des Erbens.
Das liegt einerseits daran, dass man auch auf eine sehr vernünftige, gemeinnützige Weise mit geerbten Eigentum umgehen kann. Niemand hindert Personen daran, einen geerbten Geldbetrag zum Beispiel in eine soziale Einrichtung zu investieren, um dadurch Chancengleichheit für andere zu erhöhen.
Andererseits muss ich daran denken, dass wir nicht nur in materieller Hinsicht von unseren Eltern und anderen Familienmitgliedern profitieren können. Ich werde von meinen Eltern sehr viele Familiengeschichten erben. Ich werde von ihnen die Wertschätzung für Bildung und Wissenschaft erben und die Überzeugung, dass es nichts gibt, das man nicht irgendwie reparieren kann. Und auch den Glauben, dass alles immer irgendwie gut wird.
Das sind in gewisser Hinsicht ebenfalls entscheidende Startvorteile. Auch solche Erbstücke, die mit emotionalen Dispositionen, mit Werten und Haltungen einhergehen, verbessern die Chancen, die man im Leben hat. Wenn nicht die Chancen auf Positionen und Ämter, so doch die Chancen auf ein gelungenes Leben. Ich wüsste nicht, wie man diese Ungleichheiten vergleichen sollte mit den materiellen Unterschieden, die durch die reguläre Erbpraxis generiert werden.
Vielleicht sollte es uns nicht so sehr um die Frage «Erben oder nicht erben?» gehen, sondern darum, unsere Gesellschaft allgemein egalitärer zu machen und materiellen Gesichtspunkten einen geringeren Stellenwert beizumessen. Das ist vielleicht kein besonders originelles Ziel, aber dennoch eins, das wir im Auge behalten sollten.
Christian Budnik ist Philosoph. Er verbrachte seine ersten Lebensjahre in Polen, emigrierte dann mit seiner Familie nach Deutschland und lebt nun seit 15 Jahren in Bern.